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REZENSION/526: Helge Buttkereit - Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika (SB)


Helge Buttkereit


Utopische Realpolitik

Die Neue Linke in Lateinamerika



Hinterhof Lateinamerika? Das war einmal. Die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Groß- und Allmachtsanspruch schon in der Namensgebung deutlich zu Tage tritt, so als würde das Territorium der USA ganz Amerika umfassen, werden heutzutage kaum noch die Stirn haben, die Staaten Mittel- und Südamerikas als "ihren" Hinterhof zu bezeichnen. Sie würden sich nahezu lächerlich machen, da einem solchen Verfügungsanspruch jegliche reale Basis fehlt infolge einer Veränderung, die vielfach mit Schlagworten wie "Linksentwicklung" oder auch "Neue Linke" in Verbindung gebracht wird. Da der Griff zur Weltmacht, der sich die westlichen Führungsstaaten, namentlich USA und EU, nach dem Niedergang der sowjetsozialistischen Staatenwelt in Ermangelung nennenswerter Gegner sicher wähnten, in Lateinamerika auf einen weder zu brechenden noch zu vereinnahmenden Widerstand gestoßen ist, stößt diese Entwicklung auf das wachsende Interesse all derjenigen, die mit dem Vormarsch dieses als neoliberal bezeichneten Herrschaftssystems aus vielerlei Gründen nicht einverstanden sind.

Mit dem Band "Utopische Realpolitik - Die Neue Linke in Lateinamerika" wurde vom Pahl-Rugenstein-Verlag im Februar 2010 ein Werk vorgelegt, das diesem Interesse Rechnung trägt und auf eine Leserschaft abzielt, die mit großer Sympathie, aber auch kritischer Solidarität verfolgt, wie sich die Emanzipation der lateinamerikanischen Staaten von politischer Vormundschaft wie auch wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Westen immer mehr ausbreitet und verfestigt. Der Autor, der 1976 geborene Politikwissenschaftler Helge Buttkereit, könnte selbst als Repräsentant einer "Neuen Linken" bezeichnet werden, so darunter eine im weitesten Sinne globalisierungskritische, antineoliberale und basisdemokratische Bewegung verstanden wird, die sich weltweit als Gegenpart konstituiert hat und bei Veranstaltungen wie dem Weltsozialforum ihre Massenanziehungskraft bereits wiederholt unter Beweis gestellt hat.

Buttkereits Buch trägt dazu bei, der Kernparole der Globalisierungskritiker - "eine andere Welt ist möglich" - durch eine dezidierte Schilderung der sozialpolitischen Umwälzungen, Entwicklungen, Problemzonen und Spannungsfelder in drei ausgewählten Ländern Lateinamerikas (Venezuela, Bolivien und Ecuador) sowie der zapatistischen Bewegung in Mexiko weitere Nährsubstanz zuzuführen. Mit Bedacht hat der Autor dabei Staaten ausgewählt, in denen die Linksentwicklung seiner Einschätzung nach am bislang weitestgehend verfolgt und in Regierungspolitik übergeführt werden konnte bzw. durch die von den Präsidenten Hugo Chávez, Evo Morales und Rafael Correa gebildeten Linksregierungen maßgeblich ins Leben gerufen wurde. Über diese Kategorisierung ließe sich im Einzelfall, so etwa in Hinsicht auf Uruguay, das nicht minder eine Linksregierung aufzuweisen hat, im Einzelfall streiten, was jedoch durchaus vernachlässigt werden kann angesichts der vom Autor aufgestellten diskussionswürdigen Kernbehauptung, es handele sich bei den genannten Präsidenten wie auch dem Anführer der Zapatisten, Subcommandante Marcos, um "utopische Realpolitiker".

Mit dieser Bezeichnung sucht der Autor fraglos seine Sympathie und politische Solidarität zu den Genannten und der von vielen Menschen mit ihnen in Verbindung gebrachten Entwicklungsdynamik zum Ausdruck zu bringen. Da es "utopische Realpolitiker" jedoch ebensowenig geben kann wie eine "utopische Realpolitik", so der Titel des Buches, läuft der Autor Gefahr, Verwirrung zu stiften, wo er eine Lanze für den bolivarischen Sozialismus in Venezuela, die "Neugründung" Boliviens, wie er es nennt, durch den ersten indigenen Präsidenten ganz Lateinamerikas, die "Bürgerrevolution" Ecuadors sowie die "Räte der Guten Regierung" der Zapatisten brechen möchte. Dies wäre, womöglich inhaltlich stringenter, ohne eine Verquickung der Begriffe "Utopie" und "Realpolitik" leichter zu bewerkstelligen gewesen, zumal Politik stets real und niemals utopisch, eine Utopie hingegen sehr wohl politisch sein kann.

Buttkereit legt offen, daß er diesen Begriff einer von Christoph Twickel 2008 verfaßten Chávez-Biographie entlehnt hat, in der dieser geschrieben hatte, der venezolanische Präsident mache "utopische Realpolitik", und zwar gemünzt darauf, daß dieser auf eine Entwicklung jenseits der Weltmarkt-Konkurrenz setze. Daß die Regierung Chávez von Anfang an mit großer Zielstrebigkeit und Konsequenz die finanziellen Möglichkeiten des erdölexportierenden Landes nutzte, um nicht nur umfangreiche Sozialreformen und Bildungsprogramme durchzuführen, sondern den bislang gesellschaftlich ausgegrenzten Menschen ihre Würde zurückzugeben und einen Prozeß der Demokratisierung zu initiieren und zu unterstützen, der noch lange nicht abgeschlossen ist, belegt aufs Anschaulichste, zu welchen Ergebnissen bereits eine engagierte Reformpolitik kommen kann, wenn sie denn tatsächlich betrieben wird.

Die namentlich von den führenden westlichen Staaten ins Feld geführte Aggression gegen die Linksentwicklung in den lateinamerikanischen Staaten, für die insbesondere Hugo Chávez verantwortlich gemacht wird und die angesichts untrüglicher Anzeichen sogar eine militärische Intervention befürchten lassen muß, rührt schlicht und ergreifend daher, daß die Staaten der "Neuen Linken" der alten Welt einen entlarvenden Spiegel vorhalten, weil in ihnen nachweislich umgesetzt wird, was die traditionell kapitalistischen Staaten ihren Bevölkerungen stets nur versprechen. Der Begriff "Utopie" ist zur Beschreibung dieser Zusammenhänge nicht erforderlich und eigentlich zu wertvoll, um ihn auf diese Weise zu verbrauchen, was nicht im mindesten die politische Solidarität gegenüber den Linksregierungen und sozialen Bewegungen Lateinamerikas schmälert, die auch Buttkereit in erfrischender Deutlichkeit in seinem Buch zum Ausdruck bringt.

Die Stärken des Buches liegen in der Beschreibung der jeweiligen Entwicklungen in den einzelnen Ländern und der gegenwärtigen Situation dieses Prozesses, subsumiert unter dem Titel "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", in Venezuela, Bolivien, Ecuador sowie dem Autonomiegebiet der Zapatisten. Buttkereit faßt deren Charakteristika in drei "Prinzipien der Neuen Linken", wie er sie nennt, zusammen, als da wären die Selbstorganisation der Basis, solidarische Ökonomie und neuer Internationalismus. In einem diesem Schwerpunktbereich des Buches vorgelagerten Kapitel setzt er sich zunächst mit der Frage nach der Revolution - spanisch: revolución - auseinander. Bezugnehmend auf den den Zapatisten nahestehenden Politikwissenschaftler John Holloway vertritt er die These, daß der Kapitalismus heute nur existiere, weil "wir ihn immer neu erschaffen" (S. 22), was nicht bedeute, daß er "morgen verschwinden wird".

Buttkereit neigt einem Begriff von Revolution als einer "alltäglich mögliche[n] Tat der Verweigerung, wie sie auch Kern der Überlegungen der antiautoritären Bewegung der 1960er Jahre um Rudi Dutschke war" (S. 23), zu und schlägt einen Bogen zwischen Revolution und Utopie, indem er von einer Bestimmung der Revolution als einer konkreten, "aus der Gegenwart und der Potenz der Bewegung in Lateinamerika gewonnenen" Utopie spricht. Dies deutet darauf hin, daß der Autor ein großes Interesse daran hat, den von vielen Menschen als nicht reformwürdig bewerteten neoliberalen Kapitalismus darzustellen als eine Welt, die durch eine andere, mögliche ersetzt werden könne mit Mitteln und auf Wegen, wie sie am Beispiel der bolivarischen Revolution Venezuelas auch hierzulande Mut zu machen imstande sind.

Buttkereit will mit dem ursprünglich von dem Chávez-Biographen Twickel übernommenen Terminus "utopische Realpolitik" jedoch weit mehr charakterisieren als die Außenpolitik des venezolanischen Präsidenten:

Utopische Realpolitik ist demnach keine realpolitische Utopie. Diese sähe nur so aus, wie es die derzeitige Situation möglich erscheinen lässt, sie wäre damit keine Utopie. Diese Realpolitik ist utopisch, weil sie ein Ziel hat, das über das im konkreten Moment Machbare hinaus reicht, sie ist in gewisser Weise mit der "revolutionären Realpolitik" Rosa Luxemburgs verwandt, wobei durch den Schwerpunkt der "Utopie" das Ziel mehr in den Fokus gerückt wird. Sie ist aber etwas anderes als das, was unter dem Stichwort "radikale Realpolitik" in der Linkspartei diskutiert und vor allem praktiziert wird. Diese läuft vor allem darauf hinaus, radikal Realpolitik zu betreiben, also gerade auf die Beschränkungen zu verweisen und letztlich jedes Weiterdenken durch das eigene falsche Beispiel unmöglich erscheinen zu lassen.
(S. 16/17)

Das politisch motivierte und solidarische Interesse an der Linksentwicklung Lateinamerikas, dem Buttkereits Buch durch seine Hintergrundinformationen über die vier ausgewählten Bereichen Rechnung zu tragen imstande ist, könnte bei ontologischen Bestimmungen und politischen Ab- und Eingrenzungsmanövern dieser Art allerdings Gefahr laufen, entgegen der vom Autor formulierten Absicht an Substanz zu verlieren. Weniger wäre an so mancher Stelle womöglich mehr gewesen. So stellt der Autor über Kontinente und zurückliegende Jahrzehnte hinweg Zusammenhänge und Bezüge her, die zu bemühen keineswegs erforderlich gewesen wäre, um zum zentralen Thema des Buches zu kommen. So setzt der Autor am Ende der Einleitung seine oben zitierten Ausführungen mit folgenden Sätzen fort, um klarzustellen, worum es in diesem Buch gehen soll:

Es stellt sich noch die Frage: Was ist die "Neue Linke in Lateinamerika?" Warum "Neue Linke"? Der Begriff ist in Deutschland seit der Studentenbewegung besetzt. Eine Parallele zwischen dieser und der Bewegung in Lateinamerika habe ich bereits aufgezeigt. Es gibt noch mehr, das Modell der Doppelherrschaft, das Rudi Dutschke verfolgt hat, ist nur eines davon. Diese Parallelen erlauben eine begriffliche Parallele, die aber auch ohne diese angebracht wäre. Denn die "Neue Linke" setzt zunächst eine "alte" voraus. Eine alte, die in sowjetkommunistischen oder sozialdemokratischen, auf jeden Fall manipulativen Vorstellungen in verschiedenen Konfigurationen der Ideologie des Wartens verankert war. Diese gab es in Lateinamerika und es gibt sie noch heute, wie die Auseinandersetzungen in Venezuela und anderswo zeigen. Was genau das Neue an den derzeitigen Bewegungen ausmacht, soll ansonsten dieses Buch beschreiben.
(S. 17)

Ob die aktuelle Entwicklung in Lateinamerika, noch dazu aus westeuropäischer Sicht, als die einer neuen oder alten oder sonstigen Linken bezeichnet wird, ist unerheblich in Hinsicht auf die Inangriffnahme der bestehenden und von Buttkereit aufgezeigten Konflikte und Probleme sowie die in den besagten Ländern keineswegs zu Ende geführten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Der Rückgriff auf eine Studentenbewegung, die in Deutschland vor über vier Jahrzehnten ihre aktivste Zeit hatte, stellt ein wenn auch vermutlich unbeabsichtigtes Eingeständnis der relativen Schwäche linker Positionen hierzulande dar.

Bei dem Bemühen, zu allgemeingültigen politischen Aussagen zu kommen, hat der Autor angesichts der damit nahezu zwangsläufig verbundenen Schwierigkeiten an manchen Stellen eine sprachliche Genauigkeit vermissen lassen, die der Klarheit und Plausibilität seiner Gedanken und Argumente zweckdienlich gewesen wäre. So hat Dutschke, wie der im Buch angeführten Fußnote zu entnehmen ist, im Februar 1968 keine Vorstellungen über eine "Doppelherrschaft" publiziert, sondern den Begriff "Doppelstrategie" verwendet in Hinsicht auf ein Zusammenwirken inner- und außerparlamentarischer Arbeit im Zusammenhang mit dem damals vieldiskutierten "Marsch durch die Institutionen". Buttkereit läuft Gefahr, mißverstanden zu werden als ein Autor, der für so elementare Fragen wie die nach der politischen Manipulation und Manipulierbarkeit eine problemlösende Antwort schon in der Tasche hätte. So kritikwürdig die "sowjetkommunistische" und die "sozialdemokratische" Linke auch sein mögen, suggeriert doch das schnelle Urteil "manipulativer Vorstellungen" die Existenz eines Gegenkonzeptes, auf das dies nicht zuträfe.

Nicht einmal Che Guevara, der laut Buttkereit ein "Vorbild für all diejenigen in der Welt war, die einen anderen Weg als den autoritären, sowjetischen Weg zum Sozialismus einschlagen wollten", findet Gnade in den Augen des Politikwissenschaftlers. "Die kubanische Revolution als Höhepunkt des Wirkens Guevaras trägt ... immer noch viel vom manipulativen Politikverständnis mit sich herum" (S. 9), befindet der Autor. Der heutigen Bolivarischen Revolution Venezuelas stellt er ein gutes Zeugnis aus, da sie "ein greifbares Beispiel für eine wirklich andere Revolution" bietet ungeachtet der auch in ihr feststellbaren "manipulativen Tendenzen".

Die Che Guevara, dem Repräsentanten des 1959 erfolgreich abgeschlossenen kubanischen Befreiungskampfes gegen die prowestliche Batista-Diktatur, zugesprochene Devise, "seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche", wird, sollte sie denn tatsächlich so verwendet worden sein, von den Menschen, die es anging, in der damaligen Situation verstanden worden sein. Daraus jedoch so etwas wie allgemeingültige (Revolutions-) Ratschläge abzuleiten oder auch nur die Möglichkeit einer politik- oder geschichtswissenschaftlichen Abtrennung und Verallgemeinbarkeit zu unterstellen, offenbart die Ambitionen des Politikwissenschaftlers, der sich auf diese Weise einen schnellen Zugriff auf den Gegenstand seiner Untersuchungen zu versprechen scheint. Zwischen dem Che Guevara zugeschriebenen legendären Zitat und der von Buttkereit zum Titel und Kernbegriff seines Buches erhobenen "Utopischen Realpolitik" gibt es weder eine sprachliche noch eine inhaltliche Verbindung.

Einwände dieser oder ähnlicher Art gereichen dem Autor keineswegs zum Nachteil und tun der anregenden Wirkung, die der Band auf Interessierte ungeachtet etwaiger Widersprüche zu entfalten verspricht, keinen Abbruch. Buttkereit wird vielen seiner potentiellen Leser und Leserinnen aus der Seele gesprochen haben mit der Hoffnung, die er insbesondere mit der Entwicklung in Lateinamerika verknüpft, und so kommen seine einleitenden Sätze gleichermaßen einem an einen politischen Appell heranreichenden Fazit gleich, mit dem der Autor hier das letzte Wort haben soll:

Diese Arbeit ist subjektiv und getragen von der Hoffnung, der Hoffnung darauf, dass der menschenverachtende Kapitalismus, der sein Gesicht gerade in der Krise besonders schonungslos zeigt, nicht das Ende der Geschichte ist. Die Entwicklungen in Lateinamerika, die ich mit viel Sympathie verfolge, geben Anlass zur Hoffnung. Natürlich ist dort nicht alles perfekt. Aber die aktuellen Entwicklungen legen Zeugnis davon ab, dass der Kampf für eine menschlichere Gesellschaft nicht hoffnungslos ist. There is an alternative! Wir müssen aber etwas dafür tun.
(S. 7)

21. Mai 2010


Helge Buttkereit
Utopische Realpolitik
Die Neue Linke in Lateinamerika
Pahl-Rugenstein Verlag, 2010
161 Seiten
ISBN 978-3-89144-424-5