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REZENSION/650: Mohamedou Ould Slahi - Das Guantánamo-Tagebuch (SB)


Mohamedou Ould Slahi


Das Guantánamo-Tagebuch



Mit Schriften solch berühmter Autoren wie Miguel de Cervantes, Napoleon Bonaparte, Fjodor Dostojewski, Oscar Wilde, Rosa Luxemburg, Jean Genet, Alexander Solschenizyn und Nelson Mandela ist die Gefangenenliteratur schon länger ein bedeutendes Genre. Zu den ganz Großen dieser Stilrichtung, die auf der Wiedergabe der Erlebnisse des oder der Betroffenen hinter Gittern beruht, gehört bereits jetzt der 44jährige Mauretanier Mohamedou Ould Slahi, dessen "Guantánamo- Tagebuch" Anfang des Jahres erschienen ist und auf Anhieb die Bestsellerlisten weltweit eroberte. Slahis berührendes Werk ist so gut geschrieben, daß es im Mai 2015 zusammen mit 11 anderen Schriftstücken für den renommierten Samuel Johnson Prize als bestes Sachbuch des Jahres in Großbritannien nominiert wurde. Und das, obwohl der Autor die englische Sprache erst in dem berüchtigten Sonderinternierungslager auf dem Gelände des gleichnamigen US-Marinestützpunkts auf Kuba erlernte.

Slahi wurde 1970 in Mauretanien geboren. Mit siebzehn Jahren trat er dank eines Stipendiums ein Studium zum Elektroingenieur an der Universität Duisburg an. 1991 und 1992 reiste er jeweils für mehrere Monate nach Afghanistan, um auf der Seite der von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien unterstützten Mudschaheddin gegen die Truppen der kommunistischen Regierung Mohammad Nadschibullahs in Kabul zu kämpfen. Während dieser Zeit am Hindukusch soll Slahi einen Treueeid auf Al Kaida geschworen haben. Damals gehörte sein Vetter und späterer Schwager Mahfouz Ould Al-Walid, auch Abu Hafs genannt, zu den engsten Vertrauten Osama Bin Ladens. 1996 schloß Slahi sein Studium ab und eröffnete ein Elektrogeschäft in Duisburg. Nachdem sich die deutschen Behörden weigerten, seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, zog Slahi in November 1999 nach Kanada, blieb dort aber nur drei Monate.

Auf dem Heimflug nach Mauretanien im Januar 2000 wurde Slahi bei einem Zwischenstopp in Senegal vorübergehend festgenommen. Den Anlaß gab die Verhaftung Ahmad Rehmans Mitte Dezember an der amerikanisch-kanadischen Grenze mit einem Kofferraum voller Sprengstoff, mittels dessen der Algerier angeblich am Silvesterabend den internationalen Flughafen in Los Angeles in die Luft jagen wollte. Weil Rehman und Slahi in den Wochen davor nachweislich dieselbe Moschee in Montréal besucht hatten, war bei den US-Geheimdiensten der Verdacht aufgekommen, der Mauretanier hätte das "Millenium-Komplott" initiiert. Slahi wurde zunächst einige Tage in Senegal und anschließend für mehrere Wochen in Mauretanien unter anderem von Beamten des FBI vernommen. Er soll sich absolut kooperationswillig verhalten haben. Weil sich der Anfangsverdacht durch die Vernehmungen und die gelieferten Informationen des Canadian Security Intelligence Service (CSIS), der Slahi während seiner Zeit in Montréal offenbar observiert hatte, nicht erhärten ließ, hatte man ihn wieder laufen lassen.

In Mauretanien baute sich der Heimkehrer aus Deutschland mit Hilfe der Großfamilie eine neue Existenz als Kleinunternehmer auf. Die mauretanische Staatssicherheit (Direction de la Sûreté de l'État - DSE) hielt Slahi offenbar für so vertrauenswürdig, daß ihm erlaubte wurde, das Computernetzwerk für den Präsidentenpalast in Nouakchott neu einzurichten. Slahis Schicksal sollte sich entscheidend zum Schlechteren wenden, als er im September und Oktober 2001 unter dem Eindruck der Flugzeuganschläge in New York und Arlington mehrtägigen Befragungen durch die DSE zum Thema des internationalen "Terrorismus" unterzogen wurde. Alles lief zunächst bestens. Slahi konnte alle Verdachtsmomente gegen ihn zerstreuen, denn die für Irritationen sorgende Begegnung zwischen ihm und Ramsi Binalschibh, einem der mutmaßlichen Hintermänner der Flugzeuganschläge, 1999 in Duisburg war offenbar rein zufällig gewesen.

Am 20. November wurde er noch einmal ins DSE-Hauptquartier gebeten. Nichtsahnend fuhr Slahi mit dem eigenen Wagen zu der Verabredung, von der er glaubte, daß es sich um eine routinemäßige Vernehmung handelte. Doch es kam ganz anders. Sieben Tage lang wurde Slahi von angereisten FBI-Beamten verhört. Anschließend wurde er mit Duldung der mauretanischen Behörden Opfer einer "außergewöhnlichen Überstellung" an die CIA, die ihn in Ketten und mit einem Stoffsack über dem Kopf mit einem Privatflugzeug nach Jordanien flog. Der Geheimdienst König Abdullahs nahm Slahi sieben Monate lang in die Mangel, konnte aber keine Verbindung zwischen ihm und Al Kaida oder dem 9/11-Anschlag herstellen. Also flog die CIA ihn im Juli 2002 zunächst in das Foltergefängnis auf dem US-Luftwaffenwaffenstützpunkt in Bagram im Nordosten Afghanistans. Nach rund sechswöchigen Mißhandlungen verlegte man Slahi Anfang August nach Kuba.

In Guantánamo fing das Martyrium langsam - mit herkömmlichen Vernehmungen durch das US-Militär - an. Als die Offiziere jedoch nichts aus Slahi herausbekamen, entschloß man sich Anfang 2003, ihn von Camp Delta, wo sich das Gros der Häftlinge befindet, in das gefürchtete Camp Echo zu verlegen. Dort wurde die Vernehmung Slahis, den CIA, FBI und Pentagon angeblich für eine "Schlüsselfigur" bei Al Kaida halten, zum "Sonderprojekt". Er wurde von Vernehmungsbeamten und Wächtern, die allesamt Masken trugen, unter anderem extremer Kälte ausgesetzt, 70 Tage lang vom Schlafen abgehalten, immer wieder sexuell mißbraucht und zusammengeschlagen. Um Slahi endlich zu einem Geständnis zu zwingen, legt man ihm sogar eine fingierte Anordnung des Weißen Hauses vor, derzufolge seine Mutter nach Guantánamo verschleppt werden sollte.

Irgendwann hält Slahi den physischen und psychischen Grausamkeiten, die vom damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld schriftlich abgesegnet und von dessen Handlanger in Guantánamo, General Geoffrey Miller, umgesetzt wurden, nicht mehr stand. Obwohl er nach eigenen Angaben nichts verbrochen hatte, entscheidet er sich jene Terrorlegenden von sich zu geben, die seine amerikanischen Peiniger in ihrem Vergeltungswahn unbedingt hören wollen. Mit erfundenen Geschichten wird er zu einer der "wertvollsten Quellen" der Joint Task Force (JTF) in Guantánamo und seine wertlosen Aussagen fließen sowohl in den Bericht der "unabhängigen" 9/11-Kommission als auch in mehrere Prozesse gegen mutmaßliche Al-Kaida-Mitglieder ein - wie zum Beispiel 2005 in das Verfahren in Hamburg gegen den Marokkaner Mounir al Mottasadeq.

2004 erhält Slahi erstmals Kontakt zu Vertretern des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) sowie zu US-Anwälten, die ihm helfen wollen. Letztere ermutigen ihn dazu, die Erinnerungen an seine Foltererlebnisse auf Papier zu bringen. 2006 ist das 466seitige Manuskript fertig, doch dauerte es weitere sieben Jahre bis die Memoiren - die zum Teil geschwärzt sind - in Auszügen öffentlich erscheinen dürfen. Im Jahr darauf befand der zuständige Oberstleutnant Stuart Couch von der US-Marineinfanterie, daß eine Klage vor einem Militärtribunal gegen Slahi sinnlos sei, weil praktisch das ganze Belastungsmaterial auf schwerer Folter basiert. 2010 hat Bundesrichter James Robertson in Washington Slahis Freilassung angeordnet. Nach Beurteilung Robertsons waren Slahis Kontakte zu verschiedenen Personen aus der islamistischen Szene "zu kurz und zu unbedeutend", um als Haftgrund gelten zu können. Gegen das Urteil hat Barack Obamas Justizminister Eric Holder Einspruch eingelegt, weshalb Slahi bis heute in Guantánamo gefangenengehalten wird.

Obwohl Slahi auf Anordnung Robertsons seit 2010 nicht mehr vernommen werden darf, ist vor kurzem bekanntgeworden, daß die US-Militärbehörden auf Guantánamo ihm Ende letzten Jahres alle Privilegien gestrichen haben, um ihn dazu zu bringen, ihnen belastende Informationen über Ahmad Al-Darbi zu liefern. Der Saudi, der ebenfalls seit 13 Jahren in Guantánamo sein Dasein fristet, soll in die Planung des Anschlags auf den französischen Öltanker Limburg vor der Küste des Jemens im Oktober 2002 verwickelt gewesen sein.

Der britische Geheimdienstexperte und Romancier John le Carré hat Slahis "Guantánamo-Handbuch" zu Recht als "eine Vision der Hölle, jenseits von Orwell und Kafka" bezeichnet. Das könnte den einen oder anderen potentiellen Leser abschrecken, sollte es aber nicht. Slahi schreibt mit besonderem Feingefühl und vermeidet es klugerweise, den Leser allzu direkt mit den blutigen Details seiner Mißhandlungen zu konfrontieren. Statt dessen läßt er den Leser vor allem an seiner Verzweiflung im Angesicht der aussichtslosen Lage teilnehmen. Slahi glaubt fest an das Gute im Menschen und an die Gerechtigkeit. Er gibt sich unglaublich viel Mühe, die Vernehmungsbeamten von seiner Unschuld zu überzeugen, scheitert aber immer wieder damit. Aufgrund Slahis heiteren Temperaments und unbezwingbaren Optimismus kann sich der Leser leicht mit ihm identifizieren. Um so erschütternder ist es zu erfahren, wie sich der westafrikanische Everyman nicht aus dem Alptraum, in dem er steckt, befreien kann. Unweigerlich fragt sich der Leser, was man selbst in so einer Situation tun würde, und weiß keinen Rat.

Im Februar dieses Jahres hat die liberale britische Tageszeitung Guardian enthüllt, daß Richard Huley, der 2003 als Reserveoberst der US-Marine in Guantánamo der Chefpeiniger Slahis war, als Polizeiermittler in Chicago über Jahre hinweg ähnlich brutale Methoden vornehmlich gegen schwarze Verdächtige angewendet hat, um Mordgeständnisse aus ihnen herauszupressen, und dabei auch vor Beweismittelfälschung nicht zurückgeschreckt haben soll. Derzeit wird gegen Huley ermittelt. Eine ganze Reihe von Verurteilungen, an denen er mitgewirkt hat, muß auf ihre Rechtmäßigkeit neu untersucht werden. Die Existenz von Chicagos eigener "black site", dem Organized Crime Bureau am Homan Square, in der verhaftete Personen für Tage bzw. Wochen verschwanden, um von Huley und Konsorten malträtiert zu werden, ist erst publik geworden, als 2012 mehrere weiße Kriegsgegner nach ihrer Verhaftung bei Protesten am Rande des NATO-Gipfels dort tagelang festgehalten wurden. Wie man sieht, ist "Guantánamo" potentiell überall. Darum macht es Sinn, sich über dieses Sonderinternierungsprogramm der US-Geheimdienste zu informieren, um sich dem Export eines Willkürjustiz-Modelles entgegenzustellen.

Mohamedou Ould Slahi
Das Guantánamo-Tagebuch
Tropen Verlag, Stuttgart, 2015
459 Seiten
ISBN: 978-3-608-50330-2


7. November 2015


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