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AFRIKA/246: Kamerun - Spirale der Gewalt in anglophonen Regionen


Amnesty International - Meldung vom 12. Juni 2018

Kamerum
Spirale der Gewalt in anglophonen Regionen


Die Gewalt zwischen Sicherheitskräften und bewaffneten Separatistinnen und Separatisten eskaliert zunehmend. Willkür, Vertreibungen und Tötungen betreffen auch die Zivilbevölkerung.

In den englischsprachigen Regionen Kameruns wurde eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt, die nach Informationen von Amnesty International von Tag zu Tag mehr Tote fordert. Bewaffnete Separatistinnen und Separatisten erstechen und erschießen dort Militärangehörige, stecken Schulgebäude in Brand und greifen Lehrerinnen und Lehrer an. Gleichzeitig sind die Sicherheitskräfte für Folterungen, Schüsse auf Menschenmengen und die Zerstörung von Dörfern verantwortlich.

Ein neuer Bericht von Amnesty International zur Krise in den anglophonen Regionen des Landes dokumentiert den hohen Preis, den die Zivilbevölkerung angesichts des eskalierenden Konflikts in den Provinzen Nordwest und Südwest zahlt. Der englischsprachige Bericht mit dem Titel "A turn for the worse: Violence and human rights violations in Anglophone Cameroon" [1] basiert auf ausführlichen Interviews mit mehr als 150 Betroffenen und Augenzeuginnen und Augenzeugen sowie auf substanziellen Beweisen wie etwa Satellitenbildern.

Tödlicher Kreislauf der Gewalt

"Die Menschen in den anglophonen Regionen Kameruns sind einem tödlichen Kreislauf der Gewalt ausgesetzt. Sicherheitskräfte sind im Rahmen von Militäreinsätzen für willkürliche Festnahmen und Folterungen sowie für unterschiedslose Tötungen verantwortlich. Darüber hinaus wurden im Zuge dieser Einsätze Tausende Zivilpersonen vertrieben. Dieses brutale Vorgehen wird nicht dazu beitragen, die Gewalt einzudämmen - vielmehr werden die anglophonen Gemeinschaften dadurch höchstwahrscheinlich noch weiter verprellt und weitere Unruhen angefacht", erläutert Samira Daoud, stellvertretende Regionaldirektorin für West- und Zentralafrika bei Amnesty International.

"Bewaffnete Separatistinnen und Separatisten haben bisher Dutzende Angehörige der Sicherheitskräfte getötet. Zudem haben sie Anschläge verübt, die die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen sollen, wie zum Beispiel das Niederbrennen von Schulen und Übergriffe auf Lehrerinnen und Lehrer, die sich nicht an einem von den Separatistinnen und Separatisten angeordneten Boykott beteiligen."
Samira Daoudstellvertretende Regionaldirektorin für West- und Zentralafrika bei Amnesty International


Daten und Fakten zu Menschenrechtsverletzungen in den anglophonen Regionen Kameruns

• Etwa 150.000 Menschen wurden durch die Gewalt in den anglophonen Regionen Kameruns ab Anfang 2017 bis Mai 2018 vertrieben.

• Etwa 20.400 Menschen aus den anglophonen Regionen Kameruns haben von Anfang 2017 bis Mai 2018 in Nigeria Asyl beantragt - diese Zahl schließt auch Personen mit ein, die offiziell durch das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge registriert wurden.

• Tausende Menschen aus mindestens 15 Dörfern im Bezirk Manyu waren gezwungen entsprechend einer Anordnung vom 1. Dezember 2017 in "sicherere Ortschaften ihrer Wahl umzusiedeln - ansonsten werden sie als Komplizen oder Verantwortliche für anhaltende Übergriffe auf Sicherheits- und Verteidigungskräfte behandelt".

• Ungefähr 50 schwer bewaffnete Angehörige der Sicherheitskräfte stürmten im Dezember 2018 im Rahmen eines Sicherheitseinsatzes das Dorf Kajifu in der Provinz Südwest und schossen unterschiedslos auf flüchtende Menschen.

• Mindestens 44 Angehörige der Sicherheitskräfte wurden von September 2017 bis Mai 2018 in den Provinzen Nordwest und Südwest durch bewaffnete Separatistinnen und Separatisten getötet.

• Mindestens 42 Schulen in den Provinzen Nordwest und Südwest wurden von bewaffneten Separatistinnen und Separatisten zwischen Februar 2017 und Mai 2018 angegriffen. Mindestens 36 dieser Schulen wurden niedergebrannt.

• Mindestens 23 Menschen, auch Minderjährige und zwei Personen mit geistigen Behinderungen, wurden am 13. Dezember 2017 in der Ortschaft Dadi in der Provinz Südwest von Sicherheitskräften willkürlich festgenommen und gefoltert.

• Mehr als 20 friedliche Protestierende wurden vom 22. September bis 1. Oktober 2017 in Städten und Dörfern der anglophonen Regionen erschossen. Mehr als 500 Personen wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert.

• Drei Angehörige der Gendarmerie wurden am 1. Februar 2018 in Mbingo in der Provinz Nordwest an einem Kontrollpunkt von einer Gruppe junger Männer getötet. Die Männer waren mit Messern und Macheten bewaffnet und gehörten vermutlich Gruppen von Separatistinnen und Separatisten an.


Etwa 20 Prozent der Bevölkerung Kameruns lebt in den anglophonen Regionen, also in den Provinzen Nordwest und Südwest. Anfang der 1960er-Jahre wurden diese Regionen in die neu gegründete und größtenteils französischsprachige Republik Kamerun integriert, was bei der dortigen Bevölkerung auf Ablehnung stieß.

Groß angelegte Proteste

Im Jahr 2016 eskalierte die Gewalt und es kam zu heftigen Unruhen, als Lehrerinnen und Lehrer, Anwältinnen und Anwälte und Schülerinnen und Schüler in den anglophonen Regionen eine Reihe von Streiks und Protesten ins Leben riefen, um gegen weitere von ihnen als diskriminierend wahrgenommene Maßnahmen zu protestieren. Vom 22. September bis 1. Oktober 2017 kam es dort erneut zu groß angelegten Protesten, mit denen symbolisch die Unabhängigkeit des neuen Staates "Ambazonia" ausgerufen wurde.

Folter und Tötung durch das Militär

Das kamerunische Militär reagierte auf diese Proteste mit willkürlichen Festnahmen sowie Folter, rechtswidrigen Tötungen und der Zerstörung von Eigentum. So konnte Amnesty International beispielsweise anhand von Satellitenbildern und anderem fotografischen Beweismaterial die vollständige Zerstörung der Ortschaft Kwakwa feststellen. Kamerunische Sicherheitskräfte brannten das Dorf im Dezember 2017 im Rahmen eines Einsatzes nieder, der in Verbindung mit der Tötung von zwei Sicherheitskräften stand, für die bewaffnete Separatistinnen und Separatisten verantwortlich gemacht wurden.

In manchen Fällen wurden Personen im Zuge dieser Sicherheitseinsätze willkürlich festgenommen und in illegalen Hafteinrichtungen in geheimer Haft festgehalten, wo sie Folter ausgesetzt waren. Am 13. Dezember 2017 wurden beispielsweise mindestens 23 Menschen, darunter auch Minderjährige, von den Sicherheitskräften in der Ortschaft Dadi festgenommen und drei Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Diese Personen sagten Amnesty International, dass sie während dieser Zeit von Sicherheitskräften gefoltert wurden, um sie dazu zu bringen, die Unterstützung von Separatistinnen und Separatisten zu "gestehen".

Todesfälle in Gewahrsam

Die Betroffenen beschrieben, wie man ihnen die Augen verband und sie mit verschiedenen Gegenständen verprügelte, etwa mit Stöcken, Seilen, Drähten und Pistolen. Zudem seien sie mit Elektroschocks und heißem Wasser gefoltert worden. Manche von ihnen wurden so lange geschlagen, bis sie das Bewusstsein verloren. Laut Recherchen von Amnesty International ist mindestens eine Person in Gewahrsam gestorben.

Ein Mann, der am 13. Dezember 2017 in Dadi festgenommen wurde, gab diesen erschütternden Bericht über seine Folter ab:

"... Sie banden uns die Hände auf dem Rücken zusammen, knebelten uns und bedeckten unsere Gesichter mit zerrissenen Handtüchern und Hosen. Dann zwangen sie uns, etwa 45 Minuten lang mit dem Gesicht nach unten im Wasser zu liegen ... Drei Tage lang schlugen sie uns mit Schaufeln, Hammern, Holzbalken und Kabeln. Sie traten uns mit ihren Stiefeln und übergossen uns mit heißem Wasser ... Als ich versuchte, mich zu bewegen und etwas ausrief, verbrannte mich einer von ihnen mit seiner Zigarette."
Anonymer Folterbetroffener

Amnesty International erhielt zudem Informationen über einige Todesfälle in Gewahrsam. In einem Fall wurden am 3. Februar 2018 die blutigen und mit Folterspuren übersäten Leichen von vier Männern, die am Tag zuvor von Sicherheitskräften in der Ortschaft Belo festgenommen worden waren, in der Leichenhalle des Regionalkrankenhauses von Bamenda entdeckt.

Amnesty International hat auch rechtswidrige Tötungen dokumentiert, beispielsweise während dreier Sicherheitseinsätze des Militärs in den Ortschaften Dadi, Kajifu und Bodam in der Provinz Südwest im Dezember 2017.

Anschläge von Separatistinnen und Separatisten auf Schulen und Lehrerinnen und Lehrer

Der Amnesty-Bericht dokumentiert außerdem, wie Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler von Separatistinnen und Separatisten ins Visier genommen wurden, weil sie nicht an einem Schulboykott teilnahmen, mit dem symbolisch aufgezeigt werden sollte, wie die englische Sprache und die Kulturen der anglophonen Regionen von den Behörden marginalisiert werden. Mindestens 42 Schulen wurden von Februar 2017 bis Mai 2018 von bewaffneten Separatistinnen und Separatisten angegriffen.

Amnesty International erhielt Berichte über viele verschiedene Angriffe auf Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer. Am 30. Januar 2018 verschaffte sich ein maskierter Mann Zutritt zu der staatlichen Grundschule von Ntungfe in der Provinz Nordwest. Man geht davon aus, dass es sich bei ihm um ein Mitglied einer bewaffneten Gruppe von Separatistinnen und Separatisten handelte. Mit einer lokal hergestellten Waffe schoss er einen Lehrer ins Bein, dann steckte er ein Motorrad in Brand und floh.

Der verletzte Lehrer berichtete Amnesty International:

"Der Angreifer ... sagte zu mir, dass ich in die Schule käme und mich damit über den Schulboykott hinwegsetze. ... Dann forderte er mich auf, die Hände hoch zu nehmen, doch bevor ich dem Folge leisten konnte, schoss er auf mich. Dann fiel ich zu Boden..."
Verletzter Lehrer

Getötete Sicherheitskräfte

Von September 2017 bis Mai 2018 wurden mindestens 44 Angehörige der Sicherheitskräfte bei Anschlägen auf Kontrollpunkte, auf offener Straße oder auf Stützpunkte in den Provinzen Nordwest und Südwest getötet.

Bei einer dieser Attacken wurden am 1. Februar 2018 in Mbingo in der Provinz Nordwest zwei Angehörige der Gendarmerie an einem Kontrollpunkt von einer Gruppe junger Separatistinnen und Separatisten mit Messern und Macheten getötet.

Amnesty International hat darüber hinaus fünf Angriffe auf traditionelle Gemeindesprecherinnen und -sprecher dokumentiert, die von den Separatistinnen und Separatisten beschuldigt werden, der Regierung nahezustehen.

"Die Art und Weise, wie die bewaffneten Separatistinnen und Separatisten wiederholt und gezielt die allgemeine Bevölkerung ins Visier nehmen, zeugt von einer vollkommenen Missachtung des menschlichen Lebens und ist ein weiteres Beispiel für die bedrohliche Lage, in der sich die Menschen in den anglophonen Regionen befinden", sagt Samira Daoud:

"Die Behörden müssen dafür sorgen, dass alle Straftaten geahndet werden, egal ob sie von den Sicherheitskräften oder den bewaffneten Separatistinnen und Separatisten begangen werden. Es muss unverzüglich sichergestellt werden, dass der Einsatz rechtswidriger, unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt beendet und die Bevölkerung geschützt wird."


Info:
• Etwa 20 Prozent der Bevölkerung Kameruns lebt in den anglophonen Regionen, also in den Provinzen Nordwest und Südwest.
• Mit mehr als 150 Personen sprach Amnesty International für diesen Bericht: Sie hatten entweder Menschenrechtsverletzungen erfahren oder beobachtet. Auch Familienangehörige von Betroffenen kamen zu Wort sowie zahlreiche Informantinnen und Informanten.


[1] Link zum Amnesty Bericht: "A turn for the worse: violence and human rights violations in anglophone Cameroon" (PDF, 5.14 MB)
https://www.amnesty.de/sites/default/files/2018-06/Amnesty-Bericht-Kamerun-Gewalt-in-anglophonen-Regionen-Juni-2018-ENG.pdf

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Quelle:
Meldung vom 12. Juni 2018
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/kamerun-spirale-der-gewalt-anglophonen-regionen
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2018

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