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AKTION/624: Urgent Action - Iran - Neues NGO-Gesetz soll Rechte weiter beschränken


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-106/2011, AI-Index: MDE 13/043/2011, Datum: 8. April 2011 - gs

IRAN
Neues NGO-Gesetz soll Rechte weiter beschränken


MITGLIEDER VON NICHTREGIERUNGSORGANISATIONEN

Dem iranischen Parlament liegt ein Gesetz zur Verabschiedung vor, das die Unabhängigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen im Land einschränken soll. Wenn es das Parlament passiert, müssten im Vergleich zur derzeitigen Gesetzeslage noch mehr zivilgesellschaftlich engagierte Menschen eine strafrechtliche Verfolgung befürchten, weil sie ihre Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in friedlicher Weise wahrnehmen. Das Gesetz über die Gründung und Überwachung von Nichtregierungsorganisationen liegt dem Parlament zur abschließenden Lesung vor. In den zurückliegenden Tagen sind gegen den erbitterten Widerstand zahlreicher von der Vorlage betroffener Organisationen eine Reihe von Paragraphen des Gesetzes verabschiedet worden, welche die Unabhängigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen drastisch einschränken würden.

Das Gesetz sieht die Schaffung eines NGO-Kontrollausschusses (Supreme Committee Supervising NGO Activities) vor. Bei dem Ausschuss, der gegenüber keinem Gremium rechenschaftspflichtig ist, werden sich alle derzeit tätigen Nichtregierungsorganisationen erneut registrieren lassen müssen. Es liegt im Ermessen des Ausschusses, ob er einer Organisation die Erlaubnis zur Betätigung erteilt oder wieder entzieht. Darüber hinaus werden die Vorstände von Nichtregierungsorganisationen seiner Weisungsbefugnis unterstellt werden. Derzeit können nur Gerichte die Schließung eines eingetragenen Vereins verfügen. Personen, die sich in Organisationen engagieren, welche sich nicht haben registrieren lassen oder denen die Betätigungserlaubnis wieder entzogen worden ist, müssen in erhöhtem Maße mit strafrechtlicher Verfolgung auf der Grundlage vage formulierter Bestimmungen des iranischen Strafgesetzbuchs rechnen. Weitere neu erlassene Vorschriften sehen vor, dass "nicht politische Demonstrationen" nur stattfinden dürfen, wenn sie im Vorfeld vom Obersten Ausschuss genehmigt worden sind. Gleiches gilt für die Kontaktaufnahme zu internationalen Organisationen. Derzeit wird das Gesetzesvorhaben im iranischen Parlament debattiert. Sollte es dort eine Mehrheit finden, wird die Vorlage dem Wächterrat zugeleitet. Der Rat hat dann zu prüfen, ob die Gesetzesbestimmungen mit der Verfassung des Landes und dem islamischen Recht vereinbar sind.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Der Vorsitz im "Obersten Ausschuss zur Überwachung der Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen" wäre dem Innenministerium vorbehalten. Dem Ausschuss würden unter anderen VertreterInnen des Geheimdienstministeriums, der Polizei, der paramilitärischen Basij-Miliz, der Revolutionsgarden und des Außenministeriums angehören. Lediglich ein gewählter Vertreter oder eine gewählte Vertreterin der Interessen der Nichtregierungsorganisationen würden in den Ausschuss entsandt werden.

Bei Verabschiedung des Gesetzentwurfs müssten Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, die keine Zulassung besitzen oder denen die Zulassung wieder entzogen worden ist, damit rechnen, strafrechtlich verfolgt zu werden. Das Strafgesetzbuch des Landes enthält eine Reihe vage formulierter Paragraphen beispielsweise zur "nationalen Sicherheit", in denen die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt sind. Untersagt sind beispielsweise Demonstrationen, öffentliche Diskussionsveranstaltungen sowie die Gründung von Verbänden und Vereinigungen. Derart vage formulierte Paragraphen verstoßen gegen das Rechtsstaatsprinzip und den Grundsatz der Rechtssicherheit. Das im Strafrecht so notwendige Erfordernis von Klarheit und Präzision wird missachtet. Eine "als Straftat erkennbare Handlung", die in internationalen Menschenrechtsabkommen als Voraussetzung für Strafverfolgungsmaßnahmen gilt, ist nicht ersichtlich.

Die Paragraphen 183 bis 186 des iranischen Strafgesetzbuchs schränken das Recht auf Vereinigungsfreiheit in eklatanter Weise ein. In den beiden Paragraphen ist der Tatbestand der "Feindschaft zu Gott und Korruption auf Erden"(moharebeh va ifsad fil-arz) wie folgt definiert: "Eine jede Person, die zu den Waffen greift, um Terror und Furcht zu erzeugen oder die öffentliche Sicherheit und Freiheit zu gefährden, wird als Feind Gottes und als auf Erden korrupt angesehen". Als Feind Gottes (mohareb) gelten unter anderem Personen, die der Mitgliedschaft in einer Organisation oder der Unterstützung einer Organisation schuldig gesprochen werden, welche den Sturz der Islamischen Republik beabsichtigt". Auch wer "Waffen zum Sturz der Islamischen Republik beschafft", Spionage betreibt oder eine die Staatssicherheit gefährdende Vereinigung ins Leben ruft, macht sich laut Strafgesetzbuch der Feindschaft zu Gott schuldig. "Feindschaft zu Gott" ist als Straftatbestand definiert, der mit der Todesstrafe geahndet werden kann. Die Gerichte verfügen der Auslegung dieses Straftatbestands über einen breiten Ermessensspielraum. Die Paragraphen 498 und 499 des Strafgesetzbuches sehen Freiheitsstrafen von zwei bis zehn Jahren gegen Personen vor, die im Iran oder außerhalb des Landes eine Gruppierung oder Vereinigung gründen, welche bestrebt ist, "der Sicherheit der Nation Schaden zuzufügen. Das Strafgesetzbuch enthält jedoch keine Definition, was als "Schaden" zu verstehen ist und wie der Begriff der "Sicherheit der Nation" auszulegen ist. Die Paragraphen 501 und 508 des Strafgesetzbuchs behandeln den Tatbestand der "Spionage".


EMPFOHLENE AKTIONEN: SCHREIBEN SIE BITTE LUFTPOSTBRIEFE, FAXE UND E-MAILS

- Ich appelliere an das iranische Parlament, dem Gesetzentwurf über die Einrichtung und Überwachung von Nichtregierungsorganisationen die Zustimmung zu verweigern. Würde der Entwurf Gesetzeskraft erlangen, wären im Iran die Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt.

- Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit durch die Artikel 26 und 27 der iranischen Verfassung und durch Artikel 21 und 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, zu dessen Einhaltung der Iran als Vertragsstaat verpflichtet ist, geschützt werden.

- Stellen Sie die Verfolgung und Inhaftierung von zivilgesellschaftlich engagierten Menschen umgehend ein, darunter VerfechterInnen der Interessen von Studierenden und Frauen, UmweltschützerInnen, JournalistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und Mitglieder von Berufsverbänden wie der Lehrergewerkschaft.


APPELLE AN

PARLAMENTSSPRECHER
Ali Lariani, Majles-e Shouran-ye Eslami
Baharestan Square, Teheran, IRAN
(korrekte Anrede: Your Excellency/Exzellenz)
Fax: (00 98) 21 3355 6408

VORSITZENDER DES WÄCHTERRATS
Ayatollah Ahmad Jannati
Council of Guardians
Imam Khomeini Avenue
West of junction with Vali-Asr Ave/Falestin Jonubi Street
Teheran 1317735111, IRAN
(korrekte Anrede: Your Excellency/Exzellenz)
Fax: (00 98) 21 6640 1012
E-Mail: info@shora-gc.ir


KOPIEN AN

LEITER DER STAATLICHEN MENSCHENRECHTSBEHÖRDE
Mohammad Javad Larijani
High Council for Human Rights
[c/o] Office of the Head of the Judiciary
Pasteur St, Vali Asr Ave., south of Serah-e Jomhouri
Tehran 1316814737, IRAN (korrekte Anrede: Dear Sir)
E-Mail: info@humanrights-iran.ir
(Betreff: FAO Mohammad Javad Larijani)

BOTSCHAFT DER ISLAMISCHEN REPUBLIK IRAN
S.E. Herrn Alireza Sheikh Attar
Podbielskiallee 65-67, 14195 Berlin
Fax: 030-8435 3535
E-Mail: iran.botschaft@t-online.de oder info@iranbotschaft.de


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Persisch, Arabisch, Französisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 22. April 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY

- Calling on Iranian parliamentarians not to pass the Bill on the Establishment and Supervision of NGOs, which would severely limit the peaceful exercise of the rights to freedom of association and assembly in Iran.

- Reminding the Iranian authorities that freedom of association and assembly is guaranteed by Articles 26 and 27 of the Iranian Constitution and by Article 21 and 22 of the International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR) to which Iran is a state party.

- Urging the authorities to cease harassing and arresting civil society activists, including students' and women's rights activists, environmentalists, journalists, human rights defenders and members of professional associations, such as the Teachers' Trade Associations.


FORTSETZUNG HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Menschen, die sich an nicht genehmigten Demonstrationen oder Versammlungen beteiligen, können nach Paragraph 610 des Strafgesetzbuchs wegen "Zusammenkünften und Konspiration mit dem Vorsatz der Schädigung der Staatssicherheit" strafrechtlich belangt werden. Auch Paragraph 607, der die Missachtung von Anweisungen staatlicher FunktionsträgerInnen zum Gegenstand hat, kann gegen die TeilnehmerInnen von Protestkundgebungen und Versammlungen angewandt werden.

Während der Präsidentschaft von Mohammad Khatami in den Jahren 1997 bis 2005 wurden zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen ins Leben gerufen. Seit der Wahl von Mahmoud Ahmadinejad zum neuen Staatspräsidenten im Jahr 2005 begegnen die Behörden derartigen Organisationen mit Argwohn und werfen ihnen vor, Teil einer "sanften Revolution" zu sein, mit welcher der Sturz der Islamischen Republik angestrebt werde. Nichtregierungsorganisationen wie das von der Nobelpreisträgern Shirin Ebadi mit ins Lebens gerufene Zentrum für Menschenrechtsverteidiger CHRD sowie die Vereinigung zur Verteidigung der Rechte von Gefangenen mussten ihre Tätigkeit einstellen. Emadeddin Baghi, der Vorsitzende der Vereinigung, befindet sich derzeit als gewaltloser politischer Gefangener in Haft. Gleiches gilt für Mohammad Sadigh Kabudvand, den Begründer der Menschenrechtsorganisation von Kurdistan HROK, den für die Rechte der aserbaidschanischen Minderheit engagierten Sa'id Metinpour sowie für Behareh Hedayat, eine Fraurechtsaktivistin und Sprecherin der Studentenschaft. Einige andere zivilgesellschaftlich engagierte Personen sind mit anhaltenden Schikanen und Berufsverboten konfrontiert.

Nähere Informationen finden Sie auf Englisch in dem Dokument: Iran: Independent civil society organizations facing obliteration (MDE 13/037/2011, 4. April 2011).


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-106/2011, AI-Index: MDE 13/043/2011, Datum: 8. April 2011 - gs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2011