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ASIEN/295: Angriff auf Kundus - Erschütternde Berichte über die Terrorherrschaft der Taliban


Amnesty International - Meldung vom 1. Oktober 2015

Angriff auf Kundus
Erschütternde Berichte über die Terrorherrschaft der Taliban


01. Oktober 2015 - Massenmorde, Gruppenvergewaltigungen und Entführungen, verübt durch Todesschwadronen der Taliban - das sind nur einige der furchtbaren Taten, über die Augenzeuginnen und -zeugen aus dem nordafghanischen Kundus berichten. Die Stadt ist nach Angaben des Militärs seit dem 1. Oktober in weiten Teilen wieder unter der Kontrolle der afghanischen Streitkräfte.

Amnesty International hat mit vielen Menschen gesprochen, die meisten von ihnen Frauen, die nach dem plötzlichen Taliban-Angriff auf Kundus am Montag, den 28. September, aus der Stadt geflohen sind. Menschenrechtsverteidigerinnen aus Kundus sprachen von einer "Todesliste", mit deren Hilfe die Taliban Aktivistinnen und Aktivisten und andere Personen aufspürten. Sie beschrieben, wie Taliban-Kämpfer zahlreiche Zivilpersonen vergewaltigten und töteten.

"Die erschütternden Berichte, die wir erhalten haben, vermitteln einen Eindruck von der Terrorherrschaft, die die Taliban im Zuge ihrer brutalen Einnahme von Kundus Anfang dieser Woche etablierten. Angesichts der zahlreichen glaubwürdigen Berichte über Tötungen, Vergewaltigungen und andere Gräueltaten gegen die Bewohnerinnen und Bewohner von Kundus müssen die afghanischen Behörden unbedingt mehr tun, um die Zivilbevölkerung zu schützen, ganz besonders in Gegenden, in denen sich weitere Kampfhandlungen abzeichnen", so Horia Mosadiq, Afghanistan-Expertin bei Amnesty International.

"Es kommt nach wie vor zu heftigen Kämpfen, während afghanische Truppen versuchen, die Stadt wieder vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen und Recht und Ordnung wiederherzustellen. Oberste Priorität muss nun sein, die Zivilbevölkerung vor weiteren Angriffen und schweren Menschenrechtsverstößen durch die Taliban zu schützen."

"Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter humanitärer Einrichtungen haben in den vergangenen Tagen in und um Kundus weiterhin tapfer die Stellung gehalten. Sie müssen Zugang zur Stadt erhalten, um ihre lebensrettende Arbeit fortsetzen zu können. Tausende Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Es ist daher unerlässlich, dass alle Parteien sich auf die Einrichtung eines humanitären Korridors einigen, damit alle Zivilpersonen die Stadt sicher verlassen können." Die "Todesliste" der Taliban

Amnesty International sprach mit einer Frau, die in Kundus mit Überlebenden von häuslicher Gewalt arbeitet. Sie konnte in eine nahegelegene Provinz fliehen und berichtet von einer "Todesliste", mit der die Taliban-Kämpfer ihre Opfer aufspürten. Die Liste soll Namen und Fotos von Aktivistinnen und Aktivisten, Journalistinnen und Journalisten und Beamtinnen und Beamten in Kundus enthalten.

Ihren Angaben zufolge mussten sie und einige weitere Frauen und Männer zu Fuß fliehen, da die Taliban an allen potenziellen Fluchtrouten Straßensperren errichtet hatten. Über sieben Stunden lang liefen sie durch unwegsames Gelände, bis sie erschöpft waren und ihre Füße bluteten.

Am 28. September brachten die Taliban das Büro des afghanischen Inlandsgeheimdienstes und andere Regierungs- und NGO-Büros in Kundus unter ihre Kontrolle. Damit erhielten sie Zugang zu einer Fülle von Informationen über NGO-Angestellte, Regierungsbeamtinnen - und beamte und Angehörige der Sicherheitskräfte - komplett mit Adressen, Telefonnummern und Fotos.

Dem Vernehmen nach zwingen Taliban-Kämpfer seitdem kleine Jungen, ihnen bei den Hausdurchsuchungen zu helfen und sie dabei zu unterstützen, ihre Opfer ausfindig zu machen und zu verschleppen, darunter auch Frauen.

Eine weitere Frauenrechtsverteidigerin berichtete, dass die Taliban am Dienstagabend ihr Haus und ihr Büro niedergebrannt und geplündert haben. Immer wieder wurde sie von Taliban-Kämpfern angerufen und gefragt, wo die Frauen seien, denen sie geholfen hatte. Ihr und einigen anderen Frauen gelang es, für sich und ihre Kinder Hilfe zu erhalten und zu fliehen. Doch sie sagte Amnesty International, dass sie und ihre Familie nur mit dem flohen, was sie am Leib trugen, und Todesängste ausstanden. Massenmorde und Vergewaltigungen

Lokalen Aktivistinnen und Aktivisten zufolge nahmen Taliban-Kämpfer auch weibliche Verwandte und andere Familienangehörige, einschließlich Kinder, von Polizeikommandantinnen und -kommandanten und Soldatinnen und Soldaten ins Visier, vor allem, wenn diese der lokalen afghanischen Polizei angehörten. Frauen wurden vergewaltigt und andere Familienmitglieder getötet, die Häuser der Familien niedergebrannt und geplündert.

Die Verwandte einer Frau, die in der Geburtsklinik von Kundus als Hebamme gearbeitet hatte, schilderte Amnesty International, wie Taliban-Kämpfer ihre Verwandte und eine weitere Hebamme erst vergewaltigten und dann töteten. Die Kämpfer beschuldigten die beiden Hebammen, reproduktive Gesundheitsleistungen für andere Frauen bereitgestellt zu haben.

Die Taliban befreiten alle männlichen Gefangenen in Kundus und bewaffneten sie, um gegen die Regierungstruppen zu kämpfen. Weibliche Gefangene wurden vergewaltigt und geschlagen, manche wurden verschleppt, andere freigelassen.

Ein Augenzeuge sagte Amnesty International, dass eine Frau in seinem Stadtteil bei Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften angeschossen wurde. Als Taliban-Kämpfer ihre Schmerzensschreie hörten, kamen sie in ihr Haus und schossen ihr vor den Augen ihres Mannes in den Kopf.

"Als die Taliban Kundus unter ihre Kontrolle brachten, taten sie dies angeblich, um Recht und Ordnung in die Stadt zu bringen und die Scharia einzuführen. Doch all ihre bisherigen Handlungen verstoßen sowohl gegen das eine als auch gegen das andere. Ich weiß nicht, wer uns aus dieser Situation retten kann", so eine Menschenrechtsverteidigerin aus Kundus gegenüber Amnesty International. Keine Vergeltungsangriffe!

Amnesty International fordert die Regierungstruppen auf, bei der Rückeroberung von Kundus keine Vergeltungsmaßnahmen gegen gefangengenommene oder verletzte Taliban-Mitglieder zu ergreifen. Taliban-Kämpfer, die verdächtigt werden, schwere Menschenrechtsverstöße bzw. Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begangen zu haben, müssen strafrechtlich verfolgt werden und faire Gerichtsverfahren erhalten, in denen nicht auf die Todesstrafe zurückgegriffen wird.

"Um die Spirale der Gewalt zu beenden und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, müssen die afghanischen Truppen und Behörden dafür sorgen, dass keine Vergeltungsmaßnahmen gegen Gefangene vorgenommen werden. Dies würde sonst einem Kriegsverbrechen gleichkommen", erklärte Horia Mosadiq.

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Quelle:
Meldung vom 1. Oktober 2015
http://www.amnesty.de/2015/10/1/erschuetternde-berichte-ueber-die-terrorherrschaft-der-taliban?destination=node%2F2817
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2015

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