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FRAGEN/044: "Losfahren" - Ende des Fahrverbots für saudische Frauen


Amnesty International - 5. Oktober 2017

"Losfahren": Ende des Fahrverbots für saudische Frauen

Interview mit Manal al-Sharif von Hannah El-Hitami, Volontärin Amnesty Journal


Ab Juni 2018 sollen Frauen in Saudi-Arabien endlich Auto fahren dürfen. Das wurde per königlichem Dekret im September verkündet. Die Aktivistin Manal al-Sharif hingegen setzte sich schon 2011 in der saudi-arabischen Küstenstadt Dhahran ins Auto und fuhr los - aus Protest gegen die in Saudi-Arabien allgegenwärtige männliche Vormundschaft. Weil sie ihren Protest filmte und öffentlich machte, wurde sie festgenommen und neun Tage in Untersuchungshaft gehalten, bevor sie auch dank internationaler Unterstützung wieder freikam. Über ihre Kindheit in Mekka und die Folgen ihres Protests hat sie jetzt ein Buch ("Losfahren") geschrieben.


Frau al-Sharif, seit vielen Jahren kämpfen Sie für das Recht Auto zu fahren, jetzt soll das Fahrverbot für Frauen abgeschafft werden. Wie fühlt sich dieser Erfolg an?

Wir feiern diese Entscheidung, denn für uns ist sie ein Symbol der Emanzipation. So viele andere Rechte können wir jetzt leichter einfordern. Das Fahrverbot war das größte Hindernis, das wir überwinden mussten. Und wir haben nie aufgegeben. Wir haben Frauen ermutigt, ihren Führerschein zu machen. Wir haben Unterschriften gesammelt. Wir haben viele Kampagnen und Studien durchgeführt, um Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Und jetzt haben wir es tatsächlich geschafft.

Was sind Ihre nächsten Schritte?

Wir machen genauso weiter wie bisher, mit dem Ziel, die männliche Vormundschaft in Saudi-Arabien abzuschaffen.

Warum wurde das Fahrverbot gerade jetzt abgeschafft?

Ich weiß es wirklich nicht, aber ich vermute, dass es etwas mit internationaler Aufmerksamkeit zu tun hat. Es hat sehr viel negative Berichterstattung über Saudi-Arabien gegeben - zum Krieg im Jemen, zur Katarkrise und zu Frauenrechten im Allgemeinen. Aber ich denke, dass ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle spielt: Wirtschaft. Der Kronprinz Mohammed bin Salman hat die Vision, bis 2030 den Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt auf 30% zu erhöhen. Das geht nur, indem man Frauen mehr Rechte gibt. Sie sind ja bereits gebildet, sie sind bereit zu arbeiten, aber Mobilität ist ein riesiges Problem.

Der Kronprinz zeigt also einerseits Reformbereitschaft, andererseits ist er für eine Vielzahl an Verhaftungen Oppositioneller und eine Welle von Hinrichtungen verantwortlich. Was sollen wir von ihm halten?

Ich denke, er ist jung, ambitioniert und unerfahren. Seine Berater müssen ihm erklären, dass dieses harte Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit das Schlimmste ist, was er diesem Land antun kann. Als das Dekret zur Aufhebung des Fahrverbots erschien, rief die Staatssicherheit Aktivistinnen an, die sich seit Jahren für Frauenrechte einsetzen. Mich riefen sie zweimal an, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich weiß nicht, woher sie meine australische Nummer hatten. Sie sagten: "Wir haben Anweisungen von der Führung, Ihnen zu sagen, dass Sie nicht über das Dekret sprechen oder twittern sollen. Wir wollen die Gegnerinnen und Gegner des Dekrets nicht unnötig provozieren." Zunächst habe ich mich daran gehalten. Aber dann sah ich, dass lauter Frauen, die sich noch nie engagiert hatten, die Regierung in den sozialen Medien lobten und gleichzeitig Aktivistinnen wie mich angriffen. Sie schrieben, wir sollten uns nicht einbilden, dass das unser Sieg sei. Da habe ich mein Schweigen gebrochen und mich wieder öffentlich geäußert.

Vor genau sechs Jahren haben Sie sich in ein Auto gesetzt, sind losgefahren und haben sich dabei gefilmt. Würden Sie es heute noch einmal genauso machen?

Ich weiß nicht. Ich glaube schon, dass die Gesellschaft damals diesen Schock brauchte, weil es ein Tabu war. Wir haben so viel darüber geredet, aber niemand hörte zu. Darum habe ich aufgehört darüber zu sprechen und es einfach gemacht.

Leider erhielt ich danach zahlreiche Drohungen, dass man mich töten und vergewaltigen würde. Und die Regierung hat einfach weggeschaut.

Warum haben Sie sich dazu entschieden, ein Buch über Ihr Leben zu schreiben?

Es sollte gar nicht um mein Leben gehen. Mein Sohn wurde in der Schule geschlagen und ich sah es als meine Pflicht an, das zu dokumentieren. Ich schrieb alles in mein Tagebuch bis eine Freundin von mir sagte, ich sollte ein Buch daraus machen. Natürlich wollte kein arabischer Verlag es haben. Ich fand also einen Verleger in den USA. Der wiederum sagte: Das können wir nicht verkaufen. Es ist langweilig. Er wollte eine persönliche Geschichte. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um eine persönliche Geschichte daraus zu machen. Ich war lange unsicher, ob ich meine persönliche Geschichte teilen sollte. Ich werde ohnehin schon so sehr belästigt. Bis heute belästigen Leute meine Familie und meine Verwandten.

Im Buch beschreiben Sie Ihre Kindheit als ein sehr düsteres Kapitel voller häuslicher Gewalt, unnachvollziehbarer Verbote und Entbehrungen. Gibt es auch schöne Erinnerungen?

Natürlich. Die Zeiten, die ich bei meiner Großmutter verbrachte, waren die schönsten meines Lebens. Aber mein US-Verleger wollte unbedingt, dass das Buch so traurig wie möglich wird. Der Verlag hat immer mehr Stellen gestrichen und ich habe viel mit ihm gestritten. Warum wollt ihr es schrecklich machen? Ich will, dass Leute es lesen, wütend werden und sich engagieren. Ich will aber auch Hoffnung geben. Jetzt klingt es eher nach einer hoffnungslosen Person, die ihre schlimme Geschichte erzählt.

Im Buch beschreiben Sie, dass Sie zur Extremistin wurden und später wiederum zur Frauenrechtsaktivistin. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Als ich klein war, habe ich mich immer aufgelehnt, wenn ich etwas falsch fand. Dass meine Cousins nicht im gleichen Zimmer sitzen und mit mir reden durften, machte mich so wütend. Aber in unserer Jugend wurden wir einer Gehirnwäsche unterzogen. Uns wurde gesagt, dass es Gott ist, der das möchte. Ich fragte Gott immer: Warum gibst du mir ein Gesicht, damit ich es bedecke? Warum kann ich schön malen, aber soll es nicht dürfen? Je mehr ich diese strengen Regeln befolgte, desto schlechter ging es mir. Ich wollte ja nicht, dass meine Familie in die Hölle kommt.

Aber ich habe eben schon immer alles hinterfragt. Und als ich dann eine Frauenrechtsaktivistin wurde, hatte ich keine Ahnung, dass ich eine Frauenrechtsaktivistin war. Das war keine bewusste Entscheidung. Ich wusste nicht einmal, was das Wort bedeutet. Jetzt nennen mich alle eine Feministin, dabei weiß ich noch gar nicht, was das wirklich ist. Wir lernen in der Schule ja nichts über solche Themen. Aber ich lese darüber und lerne dazu.


Weitere Informationen zu Manal al-Sharif
Manal al-Sharif wurde 1979 in Mekka geboren. Obwohl sie in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, studierte sie später und wurde als erste saudische Frau zur IT-Sicherheitsexpertin ausgebildet. Bei der staatlichen Ölfirma Aramco arbeitete sie als eine der ersten Frauen mit Männern zusammen im Büro. Nach ihrem öffentlichen Protest gegen das Fahrverbot 2011 musste sie ihre Stelle aufgrund von Anfeindungen aufgeben. Heute lebt sie mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Australien. Ihren Sohn aus erster Ehe musste sie in Saudi Arabien beim Vater zurücklassen, da ihr das Sorgerecht entzogen wurde. 2017 ist Manal al-Sharifs erstes Buch "Losfahren" erschienen, in dem sie ihre Kindheit und Jugend in Mekka sowie ihre Protestaktion und deren Konsequenzen schildert.

Manal al-Sharif: Losfahren. Aus dem Englischen von Gesine Strempel unter Mitarbeit von Joachim von Zepelin. Secession Verlag für Literatur, Berlin. 380 Seiten, 25 Euro.

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Quelle:
Meldung vom 5. Oktober 2017
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/saudi-arabien-losfahren-ende-des-fahrverbots-fuer-saudische-frauen
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2017

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