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FRAGEN/018: Selmin Çalışkan - "Amnesty lebt von den Aktivisten" (ai journal)


amnesty journal 04/05/2013 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Amnesty lebt von den Aktivisten"
Seit dem 1. März 2013 führt Selmin Çalışkan die deutsche Sektion von Amnesty International.

Interview von Uta von Schrenk



Frage: Was hat Sie dazu gebracht, sich für Menschenrechte einzusetzen?

Selmin Çalışkan: Meine Erfahrung als Tochter türkischer Einwanderer hat da sicher eine große Rolle gespielt. Ich habe die Ablehnung von uns "Gastarbeitern", wie wir damals bezeichnet wurden, gespürt. Zum Beispiel habe ich mitbekommen, wie mein Vater grundlos beschimpft wurde oder sein Ausweis auf der Straße einfach so kontrolliert wurde - zu einer Zeit als wir schon 30 Jahre in Düren lebten. Gleichzeitig wollte ich mich auch nicht mit der Rolle von Mädchen und Frauen in einer traditionellen türkischen Familie abfinden. Ich habe mich früh gegen beides aufgelehnt, und einige Lehrerinnen und Lehrer haben mich in meinem Sinn für Ungerechtigkeiten bestärkt.

Frage: Wie kamen Sie von dieser Erfahrung zum politischen Engagement?

Selmin Çalışkan: Mit 16 hatte ich schon Freundinnen und Freunde, die sich für politische Gefangene in der Türkei eingesetzt haben. In dem Zusammenhang habe ich auch die Arbeit von Amnesty International kennengelernt. Den Namen "Amnesty" habe ich zuerst auf Türkisch gehört. Als 20-Jährige begann ich dann in Bonn selbst als Beraterin für Migranten und Flüchtlinge zu arbeiten. Mich für Menschenrechte einzusetzen, das war seit meinen Jugendjahren eine Herzensangelegenheit für mich.

Frage: Sie haben in den vergangenen Jahren für die Frauenrechtsorganisation "Medica Mondiale" in Afghanistan, in der Demokratischen Republik Kongo und in Liberia gearbeitet, später für die "European Women's Lobby" in Brüssel. Dabei stand der Einsatz für Frauenrechte im Vordergrund. Als Generalsekretärin von Amnesty Deutschland müssen Sie Ihren Blick erweitern ...

Selmin Çalışkan: Ich habe die Frauenrechte nie isoliert betrachtet. Ich habe mich zuerst mit der Gesamtlage befasst und dann gefragt: Wie sind hier die Frauen besonders betroffen? Warum entscheiden hier die Frauen nicht gleichberechtigt mit? Deshalb bin ich in viele Themen, die auch für Amnesty wichtig sind, bereits eingearbeitet, wie z.B. notwendige Reformen der Sicherheitskräfte, bewaffnete Konflikte, Zwangsräumungen oder die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs. Auch bei der Beratung von Flüchtlingen und Migranten gibt es viele Überschneidungen zur Arbeit der Asylgruppen von Amnesty.

Frage: Gibt es Themen oder Anliegen, die Sie bei Amnesty stärker vertreten wollen?

Selmin Çalışkan: Ich fände es schlicht arrogant, nach ein paar Tagen im Amt zu sagen: Das und das muss sich ändern oder das und das hätte ich gern umgesetzt. Was ich aber schon sagen kann: Ich möchte mithelfen, dass sich auch mehr Menschen aus Einwandererfamilien bei Amnesty engagieren. Vielleicht kann ich da eine Art Vorbild sein.

Frage: Im Sommer wird der Internationale Rat von Amnesty in Berlin tagen ...

Selmin Çalışkan: Darauf freue ich mich sehr. Mehr als 500 Amnesty-Delegierte aus mehr als 80 Ländern, die über die Grundlagen unserer Arbeit diskutieren und entscheiden. Eine gute Gelegenheit für mich, die internationale Amnesty-Bewegung genauer kennenzulernen, aber auch eine gute Gelegenheit, den internationalen Charakter unserer Organisation zu zeigen. Vielleicht können wir ja gemeinsam vor das Brandenburger Tor ziehen, um dort lautstark unsere Forderungen an die deutsche Politik zu formulieren.

Frage: Kommt da die Aktivistin durch?

Selmin Çalışkan: Warum auch nicht? Amnesty lebt von den Aktivisten, die Briefe schreiben, aber auch auf die Straße gehen. Die Botschaft von Amnesty ist doch: Jeder kann mitmachen und gemeinsam können wir etwas ändern. Aber ich war, bevor ich zu Amnesty kam, nicht nur Aktivistin, sondern auch Lobbyistin. Vor diesem Hintergrund freue ich mich ungemein, wenn ich künftig beim Außenminister sitzen werde und weiß: Ich sitze hier nicht allein, Millionen Amnesty-Unterstützer sitzen sozusagen mit am Tisch, wenn ich unsere Anliegen vortrage.

Frage: Eines dieser Anliegen ist die Verhinderung von Waffenlieferungen, die zu Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen beitragen. Im März wurde in New York das Internationale Waffenhandelsabkommen verhandelt. Was verändert so ein Abkommen, wenn es in Kraft tritt?

Selmin Çalışkan: Das ist ein großer Schritt, auch wenn es natürlich nicht sofort alle unverantwortlichen Rüstungslieferungen stoppt. So ein rechtsverbindliches Abkommen schafft einen Maßstab, an dem wir die Staaten messen können. Wir können dann leichter öffentlichen Druckaufbauen und in Lobbygesprächen darauf pochen, dass keine Waffen geliefert werden, mit denen anschließend auf friedliche Demonstranten geschossen wird oder die einen Krieg wie im Kongo am Laufen halten, in dem täglich Frauen vergewaltigt werden. Für uns hört die Arbeit auf dem Gebiet also nicht auf, wenn ein solcher Vertrag in Kraft getreten ist. Es geht um das Bohren dicker Bretter.

Frage: Ist das nicht ein ermüdendes Geschäft?

Selmin Çalışkan: Ja, es kostet Kraft. Aber der Einsatz gibt auch Kraft - gerade wenn wir Menschen unterstützen können, die in schwierigeren Situationen als wir für ihre Rechte kämpfen.

Frage: An wen denken Sie da?

Selmin Çalışkan: In den Eilaktionen von Amnesty finden sich viele Beispiele. Eines ist die iranische Rechtsanwältin Shadi Sadr, die eine Kampagne gegen Steinigungen in Iran gestartet hat. Als sie 2009 in Teheran in ein Auto gezerrt, festgenommen und misshandelt wurde, hat Amnesty sofort eine Eilaktion für ihre Freilassung gestartet. Sie kam frei. Inzwischen musste sie ins Exil gehen, setzt sich aber weiter für Menschenrechte ein und steht immer noch in Kontakt mit Amnesty. Zu wissen, dass wir solchen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern auf der ganzen Welt den Rücken stärken können, das gibt Kraft.


Selmin Çalışkan wurde am 5. Januar 1967 in Düren (Nordrhein-Westfalen) geboren und hat eine Tochter. Ihre beruflichen Erfahrungen reichen von Flüchtlingsberatung über Arbeit mit Frauenrechtsorganisationen in Afghanistan bis zur Lobbyarbeit in Brüssel.

Zuletzt war Çalışkan für die "European Women's Lobby" in Brüssel tätig und arbeitete entscheidend am Aufbau eines europäischen Netzwerks für Migrantinnen ("European Network of Migrant Women") mit. Von 2003 bis 2010 arbeitete Çalışkan bei der Frauenrechtsorganisation "Medica Mondiale". Für die Organisation war sie regelmäßig in Liberia, in der Demokratischen Republik Kongo und in Afghanistan, beriet dort Frauenorganisationen und schulte Mitarbeiterinnen in politischer Einflussnahme und ziviler Konfliktbearbeitung. Sie baute für "Medica Mondiale" maßgeblich den Bereich Menschenrechte und Politik auf und leitete diesen. In dieser Funktion vertrat sie die politischen Ziele der NGO auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene. Im Anschluss arbeitete sie 2010 in Kabul für die "Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit" und als Beraterin für "Care International".

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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2013, S. 50-51
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2013