Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

GRUNDSÄTZLICHES/248: Exportware Mensch


amnesty journal 1/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte


Exportware Mensch

In seinem neuen Buch plädiert der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun gegen Migration.

Interview: Tatjana Schütz

Tahar Ben Jelloun gilt als der bedeutendste Vertreter französischsprachiger Literatur aus dem Maghreb. Der heute 62-Jährige studierte Philosophie in Marokko und veröffentlichte 1971 sein erstes Buch. Im gleichen Jahr emigrierte er nach Frankreich und promovierte dort. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise. "Verlassen" heißt sein neuestes Buch, das vor wenigen Wochen im Berlin Verlag erschienen ist.

Jelloun erzählt darin die Geschichte des jungen Marokkaners Azel, der trotz seines erfolgreich beendeten Jurastudiums in seiner Heimat keine Perspektiven hat und auf ein besseres Leben in Europa hofft. Als ein Schlepper ihn um das für die Reise gesparte Geld prellt, begibt er sich in die Hände des homosexuellen Galeristen Miguel, der ihm die Einreise nach Spanien ermöglicht. Der 24-jährige Azel gerät in einen Kreislauf von Prostitution und Demütigung. Am Ende verliert er alles.

Voreingenommen und etwas arrogant urteilt Jelloun über die Träume seiner Landsleute. Wie Kinder seien sie, die vollkommen naiv ihren Traum von Europa träumen. Wie Bienen, die als Opfer ihrer eigenen Gefräßigkeit im Tee ertrinken. "Verlassen" ist ein flammendes Plädoyer gegen Migration, das angesichts der eigenen Geschichte des Autors überrascht. "Migration sei heutzutage nicht mehr der richtige Weg", meint Jelloun. Das Leben in den Ländern müsse lobenswerter gestaltet werden, um das Flüchtlingselend zu bekämpfen.

Frage: Gab es einen bestimmten Anlass für Ihr Buch "Verlassen"? Hat es, wie andere Ihrer Bücher, einen authentischen Hintergrund?

Ich habe zwar nicht entlang der aktuellen Situation geschrieben, aber das Thema der illegalen Einwanderung und Flucht beschäftigt mich schon sehr lange. "Verlassen" ist ein rein fiktives Buch. Es gibt keine konkreten Personen, auf die ich mich beziehe aber natürlich beobachte ich, was um mich herum alles passiert. Leider gibt die Wirklichkeit sehr viel Stoff her.

Frage: Sie beschreiben die Geschichte einer gescheiterten Migration. Warum?

Auswanderung ist keine Lösung für die sozialen Probleme. Viel eher müssten sich die Länder entwickeln, damit die Menschen keinen Grund mehr haben, weggehen zu müssen. Doch in Marokko wird die Auswanderung gar nicht so ungern gesehen, schließlich schicken die Auswanderer Geld nach Hause. So darf die Zukunft nicht aussehen. Ziel muss sein, dass sich das Land ökonomisch entwickelt und nicht Menschen exportiert, sondern Güter.

Frage: Sie kamen selbst als Migrant nach Frankreich.

Ich sehe mich nicht als Migranten, sondern als freiwilligen Exilanten. Ich kam nicht nach Frankreich, um in Fabriken oder Bergwerken zu schuften, sondern um mein Studium zu absolvieren. Ich hatte ein recht angenehmes Leben, was mit der harten Knochenarbeit, die Migranten heutzutage leisten müssen, nichts zu tun hatte.

Frage: Sicher suchen die Flüchtlinge heutzutage das Gleiche.

Aber die massive illegale Auswanderung hat nichts mehr mit Menschenwürde und Gerechtigkeit zu tun. Ich als Bürger habe die Pflicht, dagegen aufzurufen, dass das so weitergeht. Es müssen Alternativen zu der massenhaften Auswanderung gefunden werden, bei der die Menschenrechte auf der Strecke bleiben. Keiner der Auswanderer meiner Generation wollte sein Leben lang im Ausland bleiben. Heute ist das anders.

Frage: Wie könnten Alternativen zur Auswanderung geschaffen werden?

Es muss einen politischen Willen zur Kooperation zwischen den Auswanderungsländern und Europa geben. Damit nicht mehr Migration zu menschenunwürdigen Bedingungen stattfindet, sondern die Menschen, wenn sie wirklich auswandern, dort wo sie hinkommen in Würde leben können und respektiert werden. Wenn Arbeiter aus Europa in die Länder Afrikas kommen, werden sie gut bezahlt und geachtet. Umgekehrt sollte es genauso sein.

Frage: Azel, die Hauptfigur Ihres Romans, hat Jura studiert. Die "Elendsflüchtlinge", die versuchen, Europa mit Booten zu erreichen oder indem sie über Grenzzäune klettern, haben einen anderen Hintergrund.

Die Geschichte ist bewusst so gewählt, weil sich vieles verändert hat. In den fünfziger Jahren wurden Bauern nach Europa geholt, damit sie dort arbeiteten. Heute emigrieren sehr häufig qualifizierte Arbeitskräfte, die keine Zukunft in ihrem Land haben und deshalb nach Europa kommen.

Frage: Haben Sie kein Verständnis dafür?

Dass die Menschen nach Europa wollen, was als reich, demokratisch, blühend empfunden wird, kann ich sehr gut verstehen. Aber sie leben unter unwürdigen Bedingungen in Europa. Auch die Europäer machen Fehler, besonders die Südeuropäer scheinen vergessen zu haben, dass es ihnen einmal ähnlich schlecht ging und behandeln die Afrikaner schlecht. Deswegen ist es umso wichtiger, dass Europa und Afrika gemeinsam eine Lösung für diese Probleme finden.

Frage: Illegale Einwanderung ist ein Schwerpunktthema der kommenden europäischen Ratspräsidentschaften. Was wünschen Sie sich?

Wenn keine Verhandlungslösungen gefunden werden, dann wird die illegale Migration weiter gehen und davon hat keiner etwas. Außer denen, die ihr Geld mit dem Elend der Menschen machen, wie den Schleppern. Ich wünsche mir, dass während der Präsidentschaften die Regierungsvertreter sich an einen Tisch setzen und versuchen, einen Ausweg aus der Misere zu finden. Es sollten nicht die repressiven Organe wie Polizei und Sicherheitskräfte sein, sondern die Wirtschafts- und Familienminister, die eine positive Lösung finden könnten. Eindämmen kann man die Migration nicht, man muss einen Weg finden, mit ihr umzugehen.

Frage: Wie wurde Ihr Buch in Marokko aufgenommen?

Diesmal fanden sie das Buch etwas streng. Aber ich bin Schriftsteller, und es ist nicht meine Aufgabe, nett zu sein, sondern die Wahrheit zu schreiben.

Frage: Sie haben mal gesagt, Poesie sei viel stärker als Journalismus.

Absolut. Denn, wenn sie gut ist, berührt sie die Tiefen der menschlichen Seele. Aber leider gibt es ja nicht viele gute Literaten.


*


Tahar Ben Jelloun

Der Schriftsteller studierte Philosophie an der Universität von Rabat, emigrierte 1971 nach Frankreich. Als erster nordafrikanischer Literat erhielt er 1987 den renomierten Prix Goncourt. Den höchsten irischen Literaturpreis erhielt er für seinen Roman über das marokkanische Todeslager Tazmamart.


*


Quelle:
amnesty journal, Januar 2007, S. 34
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2007