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GRUNDSÄTZLICHES/252: Freiheit von Furcht (ai journal)


amnesty journal 6/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Freiheit von Furcht
Die Herausforderungen der Globalisierung verlangen nach Antworten, die auf den Menschenrechten gründen. Ein Auszug auf dem Vorwort des ai-Jahresberichtes 2007

Von Irene Khan


Die Welt ist derzeit auf eine Weise polarisiert wie zuletzt auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. In vielerlei Hinsicht ist die Situation sogar noch gefährlicher geworden. Ähnlich wie damals werden auch heute die Menschenrechte - jene globalen Werte, universellen Prinzipien und gemeinsamen Normen, die uns verbinden sollen - im Namen der Sicherheit feilgeboten. Furcht ist wieder zu einer treibenden Kraft geworden, geschürt und zementiert von gewissenlosen Politikern.

Furcht kann durchaus den Anstoß für positive Veränderungen geben. Wie derzeit im Bereich der Umwelt, wo Warnungen vor einer globalen Erderwärmung die Politik zwingen, endlich zu handeln. Wo Furcht jedoch Intoleranz nährt, die menschliche und kulturelle Vielfalt bedroht und als Rechtfertigung für die Aushöhlung der Menschenrechte dient, wird sie zu einer Gefahr und sorgt für Zwietracht und Unfrieden.

Der US-amerikanische Präsident Franklin Roosevelt skizzierte in einer Rede im Jahr 1941 seine Vision von einer neuen Weltordnung, die auf "vier Freiheiten" gegründet sein sollte: die Freiheit des Wortes und des Glaubens sowie die Freiheit von Furcht und Not. Durch die Überzeugungskraft seiner Politik gelang es ihm, Zweifler auf seine Seite zu bringen und Einigkeit unter den Menschen herzustellen. Heutzutage sitzen an den Hebeln der Macht leider viel zu viele Personen, die die Freiheit mit Füßen treten und immer neue Ängste schüren - vor der Überfremdung durch Migranten, vor dem Verlust der eigenen Identität, vor terroristischen Anschlägen oder vor "Schurkenstaaten" und deren Massenvernichtungswaffen.

Furcht spielt konzeptlosen und schwachen Staatsführungen in die Hände. Auch wenn viele Ängste einen realen Hintergrund haben, zeugt das Vorgehen eines Großteils der Regierungen von fehlender Weitsicht. Sie verbauen eine tragfähige Zukunft, indem sie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte aushöhlen, den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen missachten, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit fördern, Gruppen der Gesellschaft gegeneinander ausspielen und damit den Boden für weitere Gewalt und Konflikte bereiten.

Wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, greifen bewaffnete Gruppen ebenso wie Großkonzerne das Machtmonopol von Regierungen in einer zunehmend globalisierten Welt massiv an. Schwache Staatsführungen und ineffektive internationale Institutionen erweisen sich derzeit als nicht in der Lage, von diesen nichtstaatlichen Akteuren verantwortliches Handeln und Rechenschaftspflicht einzufordern. Die Leidtragenden sind Menschen überall auf der Welt, deren Grundrechte missachtet werden und die sich um ihre Zukunft immer mehr ängstigen.

Die Geschichte belegt, dass nicht Furcht, sondern Hoffnung und Optimismus der Motor für Fortschritt sind. Warum also schüren einige Politiker ein Klima der Angst? Es ermöglicht ihnen ganz einfach, ihre Macht zu festigen, den Menschen ein trügerisches Gefühl der Sicherheit zu geben und ihr zum Teil rechtswidriges Handeln zu legitimieren.

Die australische Regierung unter Premier Howard sicherte sich ihre Wiederwahl 2001 unter anderem dadurch, dass sie verzweifelte Asylsuchende, die in seeuntüchtigen Booten australisches Hoheitsgewässer erreichten, als Gefahr für die Sicherheit des Landes abstempelte und die Bevölkerung wider besseren Wissens vor einem unaufhaltsamen Flüchtlingsstrom warnte. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York berief sich Präsident Bush auf die Gefahr des Terrorismus, um am Kongress vorbei seine exekutiven Vollmachten zu stärken. Im Sudan schürte Staatschef Omar al-Bashir unter seinen Anhängern und in der arabischen Welt die Befürchtung, dass die Entsendung von UN-Friedenstruppen in die Konfliktregion Darfur nichts als der Beginn einer Invasion des Landes unter Führung der USA sei und zu einer Wiederholung der Ereignisse wie im Irak führen werde. Simbabwes Präsident Robert Mugabe machte sich ethnisch motivierte Spannungen zunutze, um seine Enteignungspolitik fortzusetzen und seinen Gefolgsleuten zu Landbesitz zu verhelfen.

Dauerhafte Lösungen setzen voraus, dass sich alle Akteure auf einen gemeinsamen Wertekanon verständigen und den festen Willen aufbringen, ihr Handeln daran auszurichten. Die Herausforderungen der Globalisierung - ob Armut, Migration, Marginalisierung oder fehlende Sicherheit - verlangen nach Antworten, die auf den Menschenrechten gründen. Unser aller Wohlergehen und unsere gemeinsame Zukunft hängen davon ab. Dieser Einsicht verschließen sich jedoch Regierungen allzu häufig.

In den Industriestaaten ebenso wie in den aufstrebenden Volkswirtschaften dient die Furcht, Scharen mittelloser Menschen könnten das Land überschwemmen, als Rechtfertigung für immer restriktivere Maßnahmen gegen Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, mit denen Menschenrechtsstandards unterlaufen und das Gebot menschenwürdiger Behandlung missachtet werden. Basierend auf dem Verständnis, die Kontrolle der Landesgrenzen sei ein politischer Sicherheitsimperativ, sind Asylverfahren zu einem Mittel der Abwehr verkommen und verfehlen ihr eigentliches Ziel, Zuflucht suchenden Menschen Schutz zu bieten. In den vergangenen Jahren sind überall in Europa die Asylanerkennungszahlen drastisch gesunken, obwohl die Fluchtursachen - Gewalt und Verfolgung - unverändert geblieben sind.

Regierungen, die repressive Staaten anprangern, gleichzeitig aber Menschen, die von dort fliehen, Schutz versagen, betreiben eine scheinheilige Politik. So üben Regierungen der westlichen Welt scharfe Kritik am Handeln der nordkoreanischen Führung, wohingegen sie sich über das Schicksal von rund 100.000 Nordkoreanern, die sich in der Volksrepublik China versteckt halten sollen und von denen wöchentlich mehrere hundert gegen ihren Willen in ihr Heimatland zurückgeschickt werden, weitgehend in Schweigen hüllen.

Arbeitsmigranten tragen maßgeblich zu einer florierenden Weltwirtschaft bei. Und doch werden sie vielerorts mit brutaler Gewalt des Landes verwiesen, ausgebeutet und diskriminiert. Ob in den Golfstaaten, Südkorea oder der Dominikanischen Republik, fast nirgends auf der Welt erfahren Arbeitsmigranten ausreichenden Schutz.

In dem verzweifelten Versuch, nach Europa zu gelangen, haben im Berichtszeitraum rund 6.000 Afrikaner ihr Leben auf See verloren oder gelten als vermisst. Weitere rund 31.000 afrikanische Staatsbürger erreichten die Küsten der Kanarischen Inseln. Ähnlich wie die Berliner Mauer Menschen nicht dauerhaft davon abhalten konnte, kommunistischer Unterdrückung zu entfliehen, verhindern auch noch so strikte Einwanderungskontrollen in Europa nicht, dass Menschen weiterhin bitterster Armut zu entkommen versuchen.

Während sich die Wohlhabenden der Welt vor unkontrollierter Migration fürchten, haben die Armen unseres Erdballs begründete Angst vor einem durch die Globalisierung angeheizten ungezügelten Kapitalismus. Boomende Märkte eröffnen Chancen für einige Akteure, vertiefen aber zugleich die Kluft zwischen Arm und Reich. Von den Vorteilen der Globalisierung profitiert nur ein Teil der Welt. Und auch innerhalb einzelner Staaten zeigt sie höchst unterschiedliche Wirkung. Die größten Gegensätze zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung sind unter anderem in Lateinamerika auszumachen. In Indien wuchs zwar die Wirtschaft in den letzten drei Jahren um durchschnittlich acht Prozent, dennoch lebt dort mehr als ein Viertel der Bevölkerung weiterhin unterhalb der Armutsgrenze.

Zahlen wie diese verdeutlichen die Schattenseiten der Globalisierung. Die Marginalisierung großer Teile der Weltbevölkerung als unausweichliche Folge wirtschaftlichen Aufschwungs tatenlos hinzunehmen, ist grundfalsch. Es gibt keine Zwangsläufigkeit in den politischen Entscheidungsprozessen, Menschen ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte vorzuenthalten.

In vielen Teilen des Erdballs sind Menschen aufgrund korrupter Staatsführungen und skrupellos agierender Wirtschaftsunternehmen, die ausschließlich ihre Profitinteressen im Blick haben, in Armut verfangen. Um dem entgegenzuwirken, engagiert sich amnesty international verstärkt für die Durchsetzung wirtschaftlicher und sozialer Rechte.


Die Autorin ist internationale Generalsekretärin von amnesty international.


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"DEN LAUF DER DINGE ÄNDERN"

Der amnesty international Jahresbericht 2007 liefert Daten und Fakten zum aktuellen Stand der Menschenrechtssituation in 153 Ländern der Welt. Neben kurzen Hintergrundinformationen zu jedem Land dokumentiert er Schicksale von gewaltlosen politischen Gefangenen und anderen Opfern schwerer Übergriffe und Misshandlungen. Gleichzeitig ist er ein Appell an die Weltöffentlichkeit, Menschenrechtsverletzungen entgegenzutreten. Der Jahresbericht 2007 umfasst 512 Seiten und kostet 14,90 Euro. Er ist im Buchhandel erhältlich oder kann unter www.amnesty.de/shop bestellt werden.


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Quelle:
amnesty journal, Juni 2007, S. 22-24
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2007