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GRUNDSÄTZLICHES/272: 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte


Pressemitteilung vom 8. Dezember 2008

Zwischen Hoffnung und Enttäuschung

60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte:
Ein Überblick über die Entwicklung der Menschenrechte in den vergangenen 60 Jahren und gegenwärtige Trends


Seit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte am 10.12.1948 durch die Vereinten Nationen (UN) verabschiedet wurde, gab es einige bemerkenswerte Meilensteine für die Entwicklung der Menschenrechte. Der Kalte Krieg wurde beendet, das System der Apartheid abgeschafft und zum ersten Mal ist ein Afro-Amerikaner zum Präsidenten der USA gewählt worden. Und das im Jubiläumsjahr der Menschenrechtserklärung und in einem Land, in dem vor 60 Jahren viele Afro-Amerikaner nicht einmal das Recht hatten zur Wahl zu gehen.

Es erforderte erhebliche Weitsicht und auch Mut der damals beteiligten Regierungen, eine solche Erklärung abzugeben. In einer Welt, die gerade erst durch die Schrecken des zweiten Weltkriegs zerrissen worden war, erkannten sie die Bedeutung der Menschenrechte. Sie setzen Normen fest sowohl für politische und bürgerliche als auch für soziale und kulturelle Rechte, die für alle Menschen quer über den Globus gelten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde zum häufigst übersetzten Dokument der Welt.


Uneingelöste Versprechen

Doch für viele hundert Millionen Menschen sind die darin verankerten Rechte keine Realität geworden. Es besteht eine tiefe Kluft zwischen den Versprechen und deren Umsetzungen, die die Regierungen 1948 zugesagt hatten. Die heutige Welt ist noch immer geprägt von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unrecht, weil viele Regierungen ihre Macht missbrauchen und ihre eigenen Interessen vor die der Menschen stellen, die sie repräsentieren.

In den vergangenen 60 Jahren hat es viele Fortschritte gegeben bei der Entwicklung der Menschenrechte. Die Todesstrafe wurde geächtet, Kinderrechte geschützt und internationale Strafverfolgungsinstrumente etabliert. Dennoch sind Menschenrechtsverstöße an der Tagesordnung. Noch immer gehen Regierungen und bewaffnete Gruppierungen straffrei gegen die Zivilbevölkerung vor, sind Frauen Gewalt ausgesetzt, werden Misshandlung und Folter als akzeptable Methoden betrachtet. Um Informationen zu erlangen, werden abweichende Meinungen unterdrückt und Journalisten und Aktivisten verfolgt. Noch immer erhalten Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten keinen ausreichenden Schutz, werden Menschen soziale und wirtschaftliche Rechte vorenthalten und entziehen sich Wirtschaftsunternehmen ihrer Verantwortung für die Menschenrechte.


Fehlende Führung

Viele Menschen sind gefangen in politischen Konflikten und Armut und können ihre Rechte nicht in vollem Umfang wahrnehmen. Schuld daran ist selbstredend nicht die Erklärung der Menschenrechte. Es sind vielmehr die Regierungen, die beim Schutz der Menschenrechte auf nationaler und internationaler Ebene versagen. Sie sind es auch, die diesen Missstand richten müssen.

Die Menschenrechte gelten weltweit. Die ihnen zugrunde liegenden Werte basieren auf zahlreichen unterschiedlichen Kulturen. Auch die damaligen Verfasser der Menschenrechtserklärung stammten aus unterschiedlichen Erdteilen. Gleichzeitig liegt die größte Gefahr für die Zukunft der Menschenrechte in der fehlenden gemeinsamen Vision und Führungsstärke. Die Menschenrechtskrisen überall auf der Welt - ob in Myanmar, Simbabwe, Irak, Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo oder Kolumbien - verlangen sofortiges Handeln und gemeinsame politische Führung sowohl der heute einflussreichen als auch der aufstrebenden Staaten. In einer geteilten und unsicheren Welt ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte heute ebenso relevant wie vor 60 Jahren.


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Ein regionaler Überblick über die Menschenrechtsentwicklungen

Afrika

Hintergrund

An der Abstimmung über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 waren nur drei afrikanische Staaten südlich der Sahara beteiligt: Äthiopien, Liberia und Südafrika, das im selben Jahr die Apartheid eingeführt hatte und zu den wenigen Ländern gehörte, die sich der Stimme enthielten. Der später einsetzende Prozess der Entkolonialisierung und das Ende der Apartheid waren begleitet vom Aufbau nationaler und regionaler Institutionen und von wachsendem Respekt vor Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Grundsätzen auf dem gesamten Kontinent.

In vielen afrikanischen Staaten südlich der Sahara gibt es heute aktive Zivilgesellschaften und eine Vielzahl unabhängiger Medien. Doch noch immer zeichnen sich keine anhaltenden, dauerhaften Lösungen für die Konflikte auf diesem Kontinent ab, und der Preis dafür sind anhaltende Menschenrechtsverletzungen.

Einige der jahrelang andauernden bewaffneten Konflikte wie die in Angola, Liberia, Sierra Leone und im Südsudan wurden beendet, ihre menschenrechtlichen Konsequenzen dauern jedoch an, mit Auswirkungen auf die Politik und auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.


Afrika und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Auch in den Ländern, die nicht in bewaffnete Auseinandersetzungen verstrickt sind, steht der gewaltsame Kampf um die Macht an der politischen Tagesordnung und hat zu einer großen Zahl von Menschenrechtsverletzungen geführt. Regierungen und zwischenstaatlichen Organisationen fehlt der politische Wille, etwas gegen die Menschenrechtsverletzungen zu tun, die den politischen Spannungen und gewaltsamen Konflikten in aller Regel zugrunde liegen.

In einer Reihe von Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo, Somalia, Sudan (Darfur) und Tschad toben weiter interne bewaffnete Auseinandersetzungen, die mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen aller Konfliktparteien in Form von sexueller Gewalt, Rekrutierung von Kindersoldaten und widerrechtlichen Tötungen verbunden sind.

Polizisten und andere Beamte mit Polizeibefugnissen werden nur selten für schwere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Misshandlungen und Folterungen zur Rechenschaft gezogen. Zwar haben internationale Mechanismen der Justiz in den letzten Jahren verstärkt dazu beigetragen, dass bei Verbrechen gegen das Völkerrecht die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, doch bleibt hier noch viel zu tun.

In vielen Staaten Afrikas ist es nach wie vor gefährlich, unabhängige oder kritische Ansichten zu äußern. Oppositionspolitiker, Menschenrechtsverteidiger, unabhängige Journalisten und Angehörige der Zivilgesellschaft im weitesten Sinn laufen Gefahr, vom Staat unterdrückt zu werden.

Fortschritte waren beim Thema Todesstrafe zu verzeichnen. Immer mehr afrikanische Staaten schaffen sie ab oder verzichten auf ihre Anwendung. In einigen Ländern wird sie zwar noch immer vor angewandt, doch die Zahl der Hinrichtungen ist gering. Zwar wuchs in vielen Staaten Afrikas in der jüngsten Vergangenheit die Wirtschaft, aber nach wie vor haben Millionen Menschen keinen Zugang zu den grundlegenden Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben wie angemessenen Wohnraum, Bildung oder Gesundheitsfürsorge. Politische Instabilität, bewaffnete Konflikte, Korruption, Unterentwicklung und die Vernachlässigung des Sozialwesens sind mit dafür verantwortlich, dass noch immer nicht alle Menschen auf dem afrikanischen Kontinent ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturelle Rechte ausüben können. Hunderttausende Afrikaner haben, oft unter Lebensgefahr, ihr Heimatland verlassen und suchen anderswo nach Schutz oder einem besseren Leben.

Trotz aller Fortschritte sind also die in der Allgemeinen Erklärung verbrieften Menschenrechte für die Afrikaner nach wie vor weit von der Wirklichkeit entfernt.



Amerika

Lateinamerika

Zwar haben alle lateinamerikanischen Staaten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet, doch wurde ein großer Teil der Region von den sechziger bis Mitte der achtziger Jahre von Militärdiktatoren beherrscht. Die Diktaturen ließen systematisch Menschen, die sie für politische Gegner hielten, verschwinden, foltern und außergerichtlich hinrichten.

Das Ende der Militärherrschaft und die Rückkehr zu gewählten Regierungen beendete auch dieses System von Menschenrechtsverletzungen. Doch die Hoffnung auf eine neue Epoche der Wahrung der Menschenrechte erwies sich als trügerisch, denn an die Stelle der alten Verhältnisse traten oft neue, gleichfalls von Übergriffen geprägte Strukturen. Die Verantwortlichen für Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen bleiben in der Regel unbestraft. Im Gesetz mag gleicher Schutz für alle vorgesehen sein, doch in der Praxis wird er oft verweigert, vor allem den Angehörigen benachteiligter Bevölkerungsgruppen wie den Menschen afrikanischer oder indigener Herkunft. Während in der Vergangenheit viele Länder der Region von bewaffneten Konflikten und Bürgerkrieg heimgesucht wurden, sind heute nur noch in Kolumbien bewaffnete politische Auseinandersetzungen in Gang. Die Opfer sind nach wie vor in erster Linie Zivilpersonen.

In den meisten Verfassungen werden die Grundrechte garantiert, und die meisten Staaten der Region haben die wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen ratifiziert. Eine Ausnahme machen die USA, die das Übereinkommen über die Rechte des Kindes und das zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau nicht ratifiziert haben.


USA

"Krieg gegen den Terror"

Angehörige der US-Streitkräfte sind für eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen im Irak, in Afghanistan, Guantánamo und anderswo verantwortlich. Dazu zählen das "Verschwindenlassen" von Personen, Folterungen und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (die in einigen Fällen zum Tod der Festgehaltenen führte), Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt über längere Zeit und andere Formen von willkürlicher, nicht zeitlich befristeter Haft, die geheime Überstellung von Häftlingen in ein anderes Land ohne ordentliches Gerichtsverfahren und grob unfaire Verfahren. Die Täter wurden kaum jemals zur Rechenschaft gezogen, und die Opfer erhielten so gut wie nie eine Entschädigung.

Noch immer werden im US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay in Kuba mehr als 200 Häftlinge ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit festgehalten. Gegen einige von ihnen werden Verfahren vor Militärkommissionen geführt, die nicht den internationalen Standards für ein faires Verfahren genügen. Die US-Regierung will in solchen Verfahren gegen einige Häftlinge die Verhängung der Todesstrafe beantragen. Amnesty International hat den neu gewählten Präsidenten Obama aufgefordert, unmittelbar nach seiner Amtsübernahme einen Plan und ein Datum für die Schließung der Hafteinrichtung in Guantánamo bekannt zu geben. Die USA sollen auf die Verfahren Terrrorismusverdächtiger vor Militärkommissionen verzichten und sie vor ordentlichen US-Gerichten durchzuführen. Folter und andere Misshandlungen müssen unmissverständlich verboten werden. Die Regierung Obama soll außerdem die Einrichtung eines unabhängigen Ermittlungsausschusses unterstützen, der die von US-Staatsangehörigen im Zuge des "Kriegs gegen den Terror" begangenen Übergriffe untersuchen soll.


Todesstrafe

Obwohl die Generalversammlung der Vereinten Nationen letztes Jahr in einer Resolution erstmals ein weltweites Hinrichtungsmoratorium gefordert hat, gehören die USA weiterhin zu den fünf Ländern, die die Todesstrafe am häufigsten anwenden. Amnesty International wird sich in den Vereinigten Staaten weiter auf lokaler, bundesstaatlicher und landesweiter Ebene mit Kampagnen für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzen.


ASIEN

Viele der ersten Mitgliedstaaten der UNO aus dem asiatisch-pazifischen Raums wie Indien und Birma (heute Myanmar) hatten 1948 erst kurz zuvor ihre Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft erreicht. Die Vision einer Welt, in der alle Menschen "frei und gleich and Würde und Rechten" (Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) sind, hatte für sie besondere Bedeutung.

Für die Bürger der vielen Länder der Region, die den Vereinten Nationen später beitraten - von Laos bis Indonesien, von Kambodscha bis zu den Fidschi-Inseln - war ein Leben "frei von Furcht und Not", wie es die Präambel formulierte, ein ebenso hohes Ziel. Die nachfolgende dynamische Entwicklung Asiens zu einer großen Wirtschaftsmacht schien den Anspruch der Freiheit von Furcht und Not auf den ersten Blick einzulösen. Ungeachtet aller Unterschiede zwischen den einzelnen Volkswirtschaften erlebte Asien insgesamt seit 1960 ein rascheres Wohlstandswachstum als alle anderen Regionen der Erde.


Jüngste Geschichte

In Asien liegen die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt - China mit 1,3 Milliarden und Indien mit 1,1 Milliarden Einwohnern. Und die Volkswirtschaften dieser beiden Staaten gehören zu denen, die weltweit am schnellsten wachsen. Doch nicht alle Bürger profitieren von diesem Wirtschaftswachstum. Es geht einher mit einer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, die bereits vorhandene Muster von Diskriminierungen noch verstärkt. Das rasche wirtschaftliche Wachstum mit einer Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der armen Bewohner in Einklang zu bringen, ist daher eine nach wie vor ungelöste Aufgabe in der Region.


Konflikte

Mehrere anhaltende Konflikte und zunehmende Gewalt seitens bewaffneter Gruppen haben im asiatisch-pazifischen Raum zu schweren Menschenrechtsverstößen geführt und die Sicherheit von Millionen von Menschen bedroht.

Zusätzlich zu der großen Zahl von Flüchtlingen, die keine dauerhafte Lebensperspektive besitzen, gibt es nach wie vor Hunderttausende von Menschen, die innerhalb ihres Landes vertrieben wurden. In zahlreichen Staaten der Region genießen Angehörige der Sicherheitskräfte seit Jahrzehnten Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Hinrichtungen, "Verschwindenlassen" oder Folter und Misshandlung, die sie im Namen der "nationalen Sicherheit" begangen haben.

Institutionen, die für den Schutz der Menschenrechte wichtig sind, konnten sich in vielen Ländern nicht weiterentwickeln oder nicht reformiert werden, weil Militärherrschaft und politische Instabilität dies verhinderten.

Auch 60 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Hoffnung auf wirksamen Rechtsschutz und Entschädigung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in vielen Ländern noch immer eine Illusion.


Europa und Zentralasien

Nach 1945 - auf dem Weg zur Vereinigung Europas

Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des darauf folgenden kalten Krieges hatte großen Einfluss auf die individuelle und kollektive Suche nach einer gemeinsamen Grundlage für das Bemühen um Wohlstand, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit. In nur einem Jahrzehnt war es Westeuropa gelungen, die Grundlagen für eine gesamteuropäische Institution zu schaffen und eine regional begrenzte Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu einer Union weiterzuentwickeln, die heute eine wirtschaftliche und politische Weltmacht darstellt.

In dieser Zeit erarbeitete der Europarat mit der Europäischen Menschenrechtskonvention das erste rechtsverbindliche Instrument auf internationaler Ebene zum Schutz der Menschenrechte, setzte zu seiner Umsetzung den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein und gründete eine Parlamentarische Versammlung. Der mittlerweile 47 Mitgliedstaaten umfassende Europarat wurde inzwischen um einen Menschenrechtskommissar und verschiedene Überwachungsorgane ergänzt. Aus den Wirtschaftsgemeinschaften der 1950er Jahre ist die Europäische Union (EU) entstanden. Die EU hat nicht nur ihren Umfang erweitert und Länder des früheren Ostblocks aufgenommen, sie hat auch ihre Vision weiterentwickelt und strebt eine "Union der Werte" an, in der die Menschenrechte im Zentrum der Innen- und Außenpolitik stehen sollen. Aus den politischen Verhältnissen der Nachkriegszeit entstand auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Mit 56 Mitgliedstaaten, darunter auch die Länder Zentralasiens, ist die OSZE heute die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisation.


Konflikte und Veränderungen

Doch der Weg dorthin war alles andere als einfach. In den vergangenen sechs Jahrzehnten gab es in Griechenland, Portugal, Spanien und in der Türkei Militärdiktaturen, außerdem repressive Staaten innerhalb des sowjetischen Blocks. Bewaffnete Gruppen kämpften mit gewalttätigen Mitteln für die Sache einer bestimmten Minderheit oder für eine Ideologie. Der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens war mit blutigen Konflikten verbunden. Es entstanden neue Staaten, aber auch territoriale Einheiten mit unklarem Status, die von der internationalen Gemeinschaft noch nicht anerkannt sind.


Menschenrechtsprobleme

Die Herausforderungen sind nach wie vor immens. Zwar sind die Verhältnisse in weiten Teilen der Region stabil, doch die Verantwortlichen für Verbrechen, die im Zuge der jüngsten Konflikte begangen wurden, genießen nach wie vor Straffreiheit. Hunderttausende von Vertriebenen konnten noch immer nicht an ihren früheren Wohnort zurückkehren und haben auch wenig Aussicht, dass sich dies in naher Zukunft ändern wird.

In zahlreichen Ländern Europas und Zentralasiens ist der Wohlstand gestiegen. Aber nicht für diejenigen, denen aufgrund rassistischer Vorurteile oder anderer Formen von Diskriminierung grundlegende wirtschaftliche und soziale Rechte vorenthalten werden. Europa ist nach wie vor ein Magnet für alle, die vor Armut, Gewalt und Verfolgung in ihrem Herkunftsland fliehen. Doch die Staaten Europas werden diesen Menschen nicht gerecht, wenn sie auf jede Form irregulärer Zuwanderung repressiv antworten.

Sicherheit ist in allen Ländern des Kontinents ein zentrales Anliegen. Sie wird jedoch von denjenigen untergraben, die die Menschenrechte im Widerspruch zur Sicherheit sehen und für zweitrangig halten.

Besonders bedauerlich ist, dass in einem Teil der Welt, der sich selbst als Hüter der Menschenrechte betrachtet, immer noch riesige Lücken klaffen: zwischen den Standards und ihrer Anwendung, zwischen den Grundsätzen und der tatsächlichen Politik, also zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Staaten, die aus freien Stücken die zahlreichen Verpflichtungen eingingen, die die Mitgliedschaft in internationalen Institutionen mit sich bringt, sind nun nicht bereit, die entsprechenden Pflichten zu erfüllen. Sie bringen nicht den nötigen politischen Willen auf, um die schlimmsten Verstöße zu beseitigen, und höhlen so die Menschenrechte aus.


Naher Osten und Nordafrika

Einstellung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

Vor 60 Jahren waren unter den Ländern, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten, auch mehrere Staaten des Nahen Ostens, doch die praktische Umsetzung der Rechte wurde in der Region aus verschiedenen Gründen immer wieder blockiert.


Politische und sonstige Hindernisse

In den Jahrzehnten nach der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kam es zu zahlreichen politischen und militärischen Konflikten, die ihre Umsetzung behinderten. Dazu gehören die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Entkolonialisierung der nordafrikanischen Staaten, die Kriege im Irak und der anhaltende Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Erschwerend kommen tief sitzende religiöse und kulturelle Vorbehalte hinzu.

Die politischen und gesellschaftlichen Institutionen haben zur rechtlichen und praktischen Unterordnung der Frauen und zur Diskriminierung ethnischer, religiöser und anderer Minderheiten beigetragen. Darüber hinaus erfolgte die internationale Intervention in der Region oft nicht im Sinne der Menschenrechte, weil sie entweder zur Unterstützung autoritärer Regierungen beitrug oder unmittelbar zu Menschenrechtsverletzungen, wie im Fall der US-Politik der rechtswidrigen "Überstellungen" von Gefangenen in Länder, die für die Anwendung der Folter berüchtigt sind.

Die meisten Staaten der Region sind den internationalen Übereinkommen beigetreten, die direkt an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte anknüpfen (wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder

Form von Diskriminierung der Frau, das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe usw.), und in ihrer Verfassung und Gesetzgebung finden sich viele in der Erklärung fest geschriebene Menschenrechte wieder. In der Praxis können sie aber nur sehr wenig gegen die Vorherrschaft der Exekutive und die relative Schwäche der rechtsprechenden und der gesetzgebenden Institutionen ausrichten.

Das ist der Grund dafür, dass erst jetzt, im 60. Jahr der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, eine Arabische Charta der Menschenrechte in Kraft trat. Vier der fünf nordafrikanischen Staaten sind jedoch bereits vor vielen Jahren der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker beigetreten.


Der israelisch-palästinensische Konflikt

Als 1948, zufällig genau im Jahr der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, mitten in einer arabischen Region ein jüdischer Staat gegründet wurde, kam es zwischen diesem Staat Israel und seinen arabischen Nachbarn zu Spannungen, die bis heute andauern. Außerdem entzündete die Gründung Israels einen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der bis heute anhält. Auch nach sechzig Jahren scheint noch keine Lösung in Sicht. Nach wie vor leben tausende von Palästinensern als Flüchtlinge im Libanon und in anderen Ländern. Israel hält noch immer die Westbank und den Gaza-Streifen militärisch besetzt, zwingt deren palästinensischen Bewohnern rigide Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und anderer Aspekte des täglichen Lebens auf und erweitert zugleich unter Verstoß gegen das Völkerrecht die israelischen Siedlungen.

Dass es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen ist, die militärische Okkupation der palästinensischen Gebiete durch Israel zu beenden und für eine dauerhafte Lösung zu sorgen, die den Grundrechten der Israelis und der Palästinenser gleichermaßen Rechnung trägt, wirft einen dunklen Schatten auf die ganze Region. Dieser ungelöste Konflikt wird eine potenzielle Quelle für regionale oder globale Auseinandersetzungen bleiben.


Menschenrechtsverstöße

Nach wie vor kommt es in der Region zu zahlreichen gravierenden Menschenrechtsverstößen, deren Ursachen tief verwurzelt sind. Ungeachtet aller Lippenbekenntnisse zu mehr Demokratie, verantwortungsvoller Regierungsführung und Rechenschaftspflicht liegt die Macht nach wie vor zum Großteil in der Hand kleiner Eliten, die den von ihnen Regierten so gut wie keine Rechenschaft ablegen müssen. Die Staatsgewalt stützt sich auf übermächtige Sicherheits- und Geheimdienste, die alle abweichenden Meinungen und Debatten unterdrücken. Wer Kritik äußert, riskiert seine willkürliche Festnahme und Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren sowie Misshandlung und Folter. Die Sicherheitspolizei in der Region kann mit Erlaubnis der politischen Entscheidungsträger Menschenrechtsverletzungen begehen, ohne Bestrafung fürchten zu müssen.

Die Opfer haben kaum die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen oder Entschädigung zu fordern, weil die Gerichte nicht unabhängig, sondern der Staatsmacht unterworfen sind.


"Krieg gegen den Terror"

Die USA und andere westliche Staaten haben sich im Zuge des "Kriegs gegen den Terror" mit den Sicherheits- und Geheimdiensten einiger der repressivsten Regimes der Region verbündet.

Insgeheim "überstellten" sie Verdächtigte in Staaten wie Ägypten, Jordanien und Syrien, wo sie inhaftiert, verhört und gefoltert werden sollten, oder lieferten sie an Algerien oder Tunesien aus, wo ihnen dieselbe Gefahr drohte. Damit verstießen sie nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern trugen auch dazu bei, die rechtswidrigen Methoden der Sicherheitsapparate in der Region zu festigen.


Ausblick

Die Hoffnung auf Reformen liegt vor allem auf den jungen Menschen in der Region, die immer häufiger die Frage stellen, warum ihnen die unveräußerlichen Menschenrechte vorenthalten werden. Die Menschen stellen ihre Führungseliten zunehmend in Frage. Sie üben Druck auf diese Eliten aus, die Herausforderungen anzunehmen und sich der Verantwortung gegenüber den Bürgern ihres Landes zu stellen.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 8. Dezember 2008
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2008