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MITTELAMERIKA/097: Kuba - Schreiben gegen einen Mythos (amnesty journal)


amnesty journal 9/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Schreiben gegen einen Mythos
Carlos Aguilera war Herausgeber einer Untergrundzeitschrift in Kuba. Als die Bedrohung durch den Staat unerträglich wurde, flüchtete er ins Exil.

Von Rebekka Rust


Als er sieben Jahre alt war, fand Carlos Aguilera ein goldenes Kreuz, das er an seiner Halskette befestigte. Stolz stellte er sich vor seine Mutter: "Schau mal, Mama." Doch statt ihn zu loben, riss sie ihm die Kette vom Hals und schrie entsetzt: "Bist Du völlig verrückt geworden!" Damals weinte der Junge über die heftige Reaktion. Er wusste nichts vom staatlich verordneten Atheismus in Kuba und der autoritären Führung Fidel Castros. "Seit dem Papstbesuch 1989 hat sich die Lage der Religionsfreiheit deutlich gebessert. Doch bis heute agiert das Regime in einem System der Angst, Anpassung und Unterdrückung", sagt Aguilera heute. "Es reduziert dich auf den Zustand eines Gespenstes." Man könne das Spiel entweder mitspielen oder sich verstecken und seine Gedanken verheimlichen. Aguilera tat weder das eine noch das andere.

Heute lebt der 36-Jährige im Exil, hält sich mit Stipendien über Wasser und schreibt gegen ein Kuba, das in Europa zum Mythos verklärt wird. Im Wohnzimmer seiner Dresdner Wohnung zündet sich Aguilera eine Zigarre an - eine brasilianische, wie er betont. Hinter ihm steht ein Esstisch, zum Schreibtisch umfunktioniert: Stapelweise Bücher, Papiere, Notizhefte liegen darauf, dazwischen sein Laptop. Auf dem Fensterbrett steht ein Kaktus.

Aguileras Zuhause ist immer eines auf Zeit, auf die Dauer eines Stipendiums begrenzt. Bislang lebte er in Bonn, Graz und Dresden. Jeweils für ein Jahr. Er versucht, sich in kurzer Zeit ein Umfeld aufzubauen. Bis zum nächsten Umzug. "Man gewinnt und verliert, so ist das Leben." Aguilera meint das ernst. Es ist eine innere Diaspora, die es ihm ermöglicht, sich überall zuhause zu fühlen, ohne ein Zuhause zu haben. Die, die ihm nahe stehen, sind über den Globus verteilt. Nur zwei Freunde und seine Mutter leben noch in Kuba. Der Vater in den USA, sein Sohn Milosh und seine Ex-Frau in Spanien. Die Aussage "Zigeuner haben kein Haus, sie sind ihr eigenes" hat Aguilera zu seinem Lebensmotto erklärt, seit er am 1. April 2002 Kuba verlassen musste:

1997 gründete der Lyriker und Essayist die Untergrundzeitschrift "Diáspora(s)". Neben regimekritischen Aufsätzen wurden darin Texte internationaler Autoren veröffentlicht, die in Kuba unter die Zensur fallen. "Wir produzierten eine Zeitschrift, die alles andere war als das, was die Staatsklempner als wertvolle Literatur verkaufen", meint Aguilera und wirkt bei diesen Worten fast selbst ein wenig staatsmännisch. Als nicht-staatliches Medium wurde "Diáspora(s)" mit einer Auflage von jeweils 600 Exemplaren auf eigene Kosten vervielfältigt und heimlich verteilt.

Die Aktivitäten blieben nicht ohne Folgen. Aguilera, der 1995 noch mit dem Literaturpreis der staatlichen Vereinigung der Schriftsteller und Künstler Kubas (UNEAC) geehrt worden war, wurde zum Staatsfeind erklärt. Er durfte nicht mehr an Veranstaltungen teilnehmen und zu Lesungen ins Ausland reisen. Aguilera wirkt angespannt, wenn er sich an diese Zeit erinnert. Sein Name sei auf einem "Index" staatsfeindlicher Akteure geführt worden, die Staatssicherheit habe ihn bedroht: "Ich bekam Besuch von fremden Personen, die mich einschüchtern wollten, 'Diáspora(s)' einzustellen." Ab dem Jahr 2000 sei die Bedrohung unerträglich geworden.

Die Schilderungen Aguileras decken sich mit den Recherchen von ai, nach denen kritische Äußerungen in Kuba zu strafrechtlicher Verfolgung führen können. Janina Heisz ist Mitglied der Kuba-Ländergruppe von ai und bestätigt den Verdacht, dass es einen Index gäbe, auf dem die Namen "staatsfeindlicher" Personen geführt würden. Der Druck auf Oppositionelle hat nach Aussage von ai in den vergangenen Jahren zugenommen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" rangiert Kuba auf dem viertletzten Platz. Schlechter steht es nur um Eritrea, Turkmenistan und Nordkorea.

Trotzdem konnte "Diáspora(s)" fünf Jahre lang herausgegeben werden. "Eine unausgesprochene Abwägungsstrategie des Regimes", so Heisz. Bestimmte Personen dürften sich bis zu einem gewissen Grad kritisch äußern. Das Regime wäge ab: Wie gefährlich sind die Inhalte? Wie groß ist der Gesichtsverlust im Ausland, wenn gegen bekannte Personen vorgegangen wird? "Diáspora(s)" war die illegale Zeitschrift eines preisgekrönten Autors. Daher habe es länger gedauert, bis die Veröffentlichung untragbar wurde.

Vielleicht wäre Aguilera bald verhaftet worden. Doch dazu sollte es nicht kommen. 2001 setzte sich das deutsche P.E.N.-Zentrum, das eng mit ai zusammenarbeitet, für Aguilera ein. Mit einem Stipendium sollte er in Deutschland leben und arbeiten. Die kubanischen Behörden verweigerten ihm zehn Monate lang die Ausreise. Erst kurz nach Erscheinen der letzten Ausgabe von "Diáspora(s)" 2002 konnten Aguilera, seine Frau und sein Sohn Milosh nach Bonn reisen.

Trotz seiner ungewöhnlichen Lebensumstände hat der Schriftsteller seinen Humor bewahrt, den man auch in einigen Texten von ihm findet. So schreibt Aguilera in einem Essay, er habe sich Deutschland als einen "perfekten Raum" vorgestellt, in dem nichts jenseits des Gesetzes existiere. "Selbst meine Angst, Zigarettenstummel auf die Straße zu werfen, gehorchte dieser Ansicht. Als ich sah, wie ein Mädchen seine Zigarette fortwarf und bei Rot über die Straße ging, war das wie eine Befreiung für mich." Nicht in allen Texten ist ein biographischer Bezug so offensichtlich.

Neben seinen literarischen Texten publiziert Aguilera Artikel in deutschen, spanischen und US-Medien. Vor zwei Jahren gab er eine Sammlung kritischer Aufsätze kubanischer Schriftsteller heraus, die sich über die Menschenrechte in Kuba äußern. Dem vorausgegangen war der heftigste Schlag gegen die Meinungsfreiheit seit Beginn der Revolution 1959. In rechtswidrigen Eilverfahren waren 75 kubanische Schriftsteller, Wissenschaftler, Bibliothekare und Journalisten im "Schwarzen Frühling" im März 2003 zu Haftstrafen von bis zu 28 Jahren verurteilt worden. Intellektuelle aus der ganzen Welt, darunter Václav Havel, Günter Grass und Mario Vargas Llosa, setzten sich mit einem offenen Brief, der auch von ai und P.E.N. unterzeichnet wurde, für ihre Freilassung ein. Die meisten von ihnen befinden sich bis heute in Haft - darunter auch der Journalist Juan Adolfo Fernández Sainz, für dessen Freilassung sich ai mit der Kampagne "EinSatz für die Menschenrechte" engagiert.

Nach der Unterzeichnung des Briefes verhängte die kubanische Regierung eine Einreisesperre gegen Aguilera. "Wie alle Kubaner wollte auch ich immer raus aus Kuba", sagt der Schriftsteller beinahe trotzig. Kuba als "Idyll inmitten einer kapitalistischen Weltordnung" sei ein europäischer Mythos. Bis er zurückkehren wolle, müsse sich so viel verändern, dass es fast besser sei, "weiter seine Kreise durch die Welt zu ziehen, wie ein Insekt, das plötzlich verrückt geworden ist". Noch in diesem Monat zieht Aguilera mit einem Stipendium für ein Jahr nach Frankfurt am Main.


Weitere Informationen zur Menschenrechtslage in Kuba:
www.amnesty-kuba.de


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Quelle:
amnesty journal, September 2007, S. 16-17
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2007