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NAHOST/103: Iran - Hinrichtung Tausender Oppositioneller vor 20 Jahren (ai journal)


amnesty journal 10/11/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

An einem Freitag im August

Von Ruth Jüttner und Werner Kohlhauer


Erinnerungen lassen sich nicht verbieten. Vor 20 Jahren beschlossen die religiösen Führer der Islamischen Republik Iran, Tausende Oppositionelle hinzurichten. Jeder Versuch, den Opfern zu gedenken, wird seitdem unterdrückt. Die Angehörigen lassen sich nicht einschüchtern: Mehr denn je verlangen sie Aufklärung und ein Ende der Straffreiheit.


Die Angehörigen der ermordeten politischen Gefangenen treffen sich immer am letzten Freitag im August oder am ersten Freitag im September auf dem Khavaran-Friedhof außerhalb von Teheran. Seit Jahren kommen sie mit Blumen und Fotos ihrer vor 20 Jahren getöteten Ehemänner, Brüder, Söhne, Ehefrauen, Schwestern und Töchter. Sie singen und halten Ansprachen; sie schweigen und gedenken der Toten. Und sie verlangen Aufklärung.

Im Sommer 1988 begann unter strengster Geheimhaltung eine Hinrichtungswelle politischer Gefangener im Iran. Nur langsam drangen Informationen über die grausamen Vorgänge durch die Gefängnismauern nach außen. Schätzungen zufolge wurden 4.500 bis 5.000 politische Gefangene in nur wenigen Monaten ohne ein faires Gerichtsverfahren getötet. Wie die Memoiren von Ayatollah Montazeri bestätigen, wurden die Hinrichtungen der politischen Gefangenen, die auf ihrer Opposition zur Regierung beharrten, vom damaligen Religionsführer Ayatollah Khomeini angeordnet.

Die Massenhinrichtungen von 1988 zählen zu den schwersten Menschenrechtsverbrechen in der Geschichte der Islamischen Republik Iran. Von offizieller Seite wird bis heute über diese Verbrechen geschwiegen. Die Angehörigen der Getöteten, die mit ihren Gedenkveranstaltungen daran erinnern, werden vom Geheimdienst überwacht, schikaniert und bedroht.

Beobachter sahen zunächst einen Zusammenhang zwischen den Hinrichtungen und den oppositionellen Volksmujaheddin, die Ende Juli 1988 von ihren Stützpunkten im Irak aus in den Iran einmarschierten. Unmittelbar nachdem die iranische Armee den Angriff zurückgeschlagen hatte, begannen die Massenhinrichtungen. Die iranische Regierung bestritt anschließend das "Gefängnismassaker" und stellte die Opfer als Volksmujaheddin dar, die an dem Angriff beteiligt gewesen seien.

Dieser Darstellung widerspricht jedoch, dass die Mehrheit der hingerichteten Volksmujaheddin zum Zeitpunkt des Angriffs teilweise schon seit Jahren unter unmenschlichen Bedingungen im Gefängnis saßen. Unter den Opfern waren viele gewaltlose politische Gefangene, die wegen Verteilen von Flugblättern, Teilnahme an Demonstrationen oder der finanziellen Unterstützung von Familien der politischen Gefangenen inhaftiert waren. Eine genaue Analyse der Augenzeugenberichte ehemaliger politischer Gefangener, die das "Gefängnismassaker" überlebten, deutet daraufhin, dass die Gefängnisbehörden bereits Anfang 1988 erste Maßnahmen für die Massenhinrichtungen im Sommer ergriffen. Die Gefangenen wurden nach ihrer politischen Zugehörigkeit in Zellenblöcken zusammengelegt, mutmaßliche Unruhestifter in Isolationshaft verbracht.

Im Juli wurden die Gefangenen von der Außenwelt vollständig isoliert: Fernsehgeräte wurden aus den Abteilungen entfernt, die staatlichen Rundfunknachrichten nicht mehr über Lautsprecher übertragen. Familienangehörige wurden an den Gefängnistoren ohne Erklärung abgewiesen. Drei Monate lang herrschte Ungewissheit über das Schicksal der politischen Gefangenen.

Überlebende ehemalige Gefangene berichteten, dass eine Kommission, bestehend aus einem religiösen Richter, einem Staatsanwalt und einem Angehörigen des Geheimdienstministeriums, die Gefangenen einem erneuten Verhör unterzogen. Zunächst wurden die Anhänger und Sympathisanten der Volksmujaheddin vor diese "Todeskommissionen" gebracht. Die ahnungslosen Gefangenen wurden über ihre politische Zugehörigkeit befragt. Wer sich nicht von den Volksmujaheddin lossagte und bereit erklärte, seine politischen Gefährten zu denunzieren, wurde nach nur wenigen Minuten zum Tode verurteilt. Das "Urteil" wurde sofort durch Erhängen im Gefängnis vollstreckt.

Ende August richtete sich die Aufmerksamkeit der Kommission auf die linken politischen Gefangenen, darunter Angehörige der kommunistischen Tudeh-Partei, verschiedener Fraktionen der Volksfedayin und der Rahe Kargar. Die Verhöre folgten dem gleichen Muster. Die Häftlinge sollten ihrer politischen Überzeugung öffentlich abschwören. Die linken Gefangenen wurden zusätzlich über ihren religiösen Glauben und ihre Gebetspraxis verhört. Wer an seiner Überzeugung festhielt und sich nicht als praktizierender Moslem bezeichnete, wurde hingerichtet.

Im Spätherbst wurden die Angehörigen der Hingerichteten, die wegen der vielen Gerüchte in äußerster Sorge lebten, in die Gefängnisse bestellt. Sie wurden lediglich über den Tod ihrer Angehörigen informiert. Über die Exekutionen zu sprechen oder Trauerfeierlichkeiten abzuhalten, war strengstens verboten. Auch über die Orte, wo die Opfer verscharrt wurden, schweigen die Behörden bis heute.

Der Friedhof Khavaran, auf dem Hunderte oder gar Tausende vergraben wurden, ist der Ort, an dem die Angehörigen seit Jahren der Opfer gedenken und dazu beitragen, dass dieses Verbrechen gegen die Menschenrechte auch nach 20 Jahren nicht in Vergessenheit gerät. Die Angehörigen fordern die Aufklärung der grausamen Vorgänge. Sie verlangen Klarheit darüber, unter welchen Umständen und warum die politischen Gefangenen getötet und wo die Leichen vergraben wurden.

Im Iran genießen die Verantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverbrechen seit Jahrzehnten Straffreiheit. Weder die Verantwortlichen für den Tod der Fotoreporterin Zahra Kazemi, die an während eines Verhörs zugefügten Verletzungen starb, noch die Auftraggeber für die Serienmorde an mehreren Oppositionellen und Schriftstellern im Herbst 1998 wurden je vor Gericht gestellt und zur Rechenschaft gezogen. Das Schweigen über die Massenhinrichtungen von 1988 zu durchbrechen, könnte ein erster Schritt auf dem langen Weg zu einem Ende der Straflosigkeit im Iran sein.


Ruth Jüttner ist Amnesty-Expertin für den Nahen und Mittleren Osten.
Werner Kohlhauer ist Sprecher der Iran-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2008, S. 52
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2008