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NAHOST/104: Israels Einsatz von weißem Phosphor gegen Gazas Zivilbevölkerung "nicht zu bezweifeln"


Pressemitteilung vom 19. Januar 2009

Amnesty-Ermittlungsteam im Gaza-Streifen eingetroffen

Israel hat weißen Phosphor eingesetzt
Hintergrundpapier zur völkerrechtlichen Einschätzung des Gaza-Konflikts veröffentlicht


BERLIN, 19.01.2009 - Ein Ermittlungsteam von Amnesty International hat die Erlaubnis erhalten, in den Gaza-Streifen zu reisen. Das Team hat bereits erste Ermittlungen durchgeführt. Danach hat Israel in dichtbesiedelten Gebieten des Gaza-Streifens weißen Phosphor eingesetzt (s. anhängende Pressemitteilung unserer Londoner Zentrale). [1]

Die Amnesty-Ermittler werden sich voraussichtlich bis Ende dieser Woche in Gaza aufhalten. Ein Mitglied des Teams hat zuvor im südlichen Israel Ermittlungen durchgeführt.

Das Team besteht aus:

Donatella ROVERA, Amnesty-Researcherin zu Israel, Palästinensische Autonomiegebiete, Besetzte Gebiete
Christopher COBB-SMITH, Waffen- und Rüstungsexperte von Amnesty International
Liz HODGKIN und Brian DOOLEY, Amnesty-Researcher.

Amnesty International hat zudem heute ein Hintergrundpapier zum Gaza-Konflikt aus Sicht des humanitären Völkerrechts veröffentlicht. Das 33-seitige Dokument "The conflict in Gaza: A briefing on applicable law, investigations, and accountability" können Sie als pdf bei der Pressestelle beziehen.


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[1] Pressemitteilung der Londoner Amnesty Zentrale in einer Übersetzung der Redaktion Schattenblick:


Amnesty International, London - Pressemitteilung vom 19. Januar 2009

Israel/Besetzte Palästinensische Gebiete:

Israelischer Einsatz von weißem Phosphor gegen die Zivilbevölkerung in Gaza "klar und nicht zu bezweifeln"


Eine Abordnung von Amnesty International, die den Gazastreifen besucht, hat unbezweifelbare Beweise für den weitverbreiteten Einsatz von weißem Phosphor in dichtbesiedelten Wohngebieten in Gaza-Stadt und im Norden gefunden. "Gestern haben wir Straßen und Gassen gesehen, die mit Beweisen für den Einsatz von weißem Phosphor verdreckt waren, einschließlich noch brennender Trägerkeile sowie Überresten der Granaten und Behälter, die von der israelischen Armee abgefeuert wurden," sagte Christopher Cobb-Smith, ein Waffenexperte, der sich als Mitglied eines vierköpfigen Untersuchungsteams von Amnesty International in Gaza aufhält.

"Weißer Phosphor ist eine Waffe, die einen Rauchschleier produzieren soll, um Truppenbewegungen auf dem Schlachtfeld zu decken", erklärte Cobb-Smith. "Es ist hochentzündlich, detoniert in der Luft und verteilt sich so, daß sie nie in einer Gegend mit Zivilbevölkerung eingesetzt werden sollte."

"Ein so umfassender Gebrauch dieser Waffe in den dichtbevölkerten Wohngebieten von Gaza macht schon keine Unterscheidung. Wiederholter Einsatz in dieser Weise, trotz des Beweises für seine unterschiedslose Wirkung und trotz der Opfer unter der Zivilbevölkerung, ist ein Kriegsverbrechen," kommentiert Donatella Rovera, Amnestys Expertin für Israel und die Besetzten Palästinensischen Gebiete. Weiße Phosphorkeile finden sich überall um die Wohnhäuser verteilt, und viele brannten am Sonntag immer noch und gefährden weiterhin die Bewohner und ihren Besitz. Die Straßen und Gassen sind voll spielender Kinder, die sich vom Kriegsmüll angezogen fühlen und sich oft der Gefahren nicht bewußt sind.

"Artilleriegeschütze sind Geländewaffen und taugen nicht für punktgenaue Ziele. Die Tatsache, daß diese Geschosse, die gewöhnlich am Boden detonieren sollen, in der Luft gesprengt wurden, vergrößert die zu erwartende Gefahrenzone," sagte Chris Cobb-Smith.

Jede 155mm-Artilleriegranate explodiert in 116 Trägerkeile, die mit weißem Phosphor getränkt sind, der sich bei Kontakt mit Sauerstoff entzündet und sich je nach der Höhe, in der die Explosion stattfindet (und nach den Windbedingungen), über ein Gebiet von mindestens Fußballfeldgröße verteilen kann. Abgesehen davon, daß die Zündung in der Luft schon keine Unterscheidung trifft, verstärkt der Einsatz dieser Granaten als Artilleriegeschoß die Wahrscheinlichkeit, daß Zivilisten betroffen sein werden.

Vertreter von Amnesty International fanden sowohl brennende weiße Phosphorkeile als auch die Trägergranaten (mit denen sie abgeschossen wurden) in und bei Wohnhäusern und Gebäuden. Einige dieser 155mm-Granaten aus schwerem Stahl haben extreme Schäden an Wohnanlagen angerichtet. Einer der Orte, die durch den Beschuß mit weißem Phosphor am schwersten betroffen waren, ist das UNWRA-Anwesen in Gaza-Stadt, auf das die israelische Armee am 15. Januar drei weiße Phosphorgranaten abschoß. Der weiße Phosphor landete in der Nähe von Tanklastern und verursachte ein riesiges Feuer, das tonnenweise Hilfsgüter vernichtete. Vor diesem Schlag war das Grundstück bereits einmal getroffen worden. UNWRA-Beamte hatten daraufhin die israelischen Behörden benachrichtigt und die Zusicherung erhalten, daß keine weiteren Angriffe auf das Gelände geführt würden.

Bei einem anderen Vorfall am gleichen Tag landete eine Granate mit weißem Phosphor im al-Quds-Krankenhaus in Gaza-Stadt und verursachte ebenfalls ein Feuer, das das Krankenhauspersonal dazu zwang, die Patienten zu evakuieren. Weißer Phosphor, der auf die Haut trifft, kann sich tief durch die Muskeln und in die Knochen fressen und hört nicht auf zu brennen, es sei denn, man entzieht ihm den Sauerstoff.


Hintergrund

Der von Israel und der Hamas getrennt erklärte, einseitige Waffenstillstand ab dem 18. Januar wurde von beiden Seiten nicht eingehalten. Israelische Truppen blieben in verschiedenen Gebieten im Gazastreifen stationiert, und am Morgen des 18. Januar wurde östlich von Beit Hanoun im Norden des Gazastreifens die 11jährige Angham Rif'at al-Masri durch Missiles der israelischen Armee getötet, ihre Mutter verletzt. Zur gleichen Zeit schossen bewaffnete palästinensische Gruppen einige Raketen in Städte und Dörfer in Südisrael und verletzten dabei drei israelische Zivilpersonen leicht.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 19. Januar 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2009