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NORDAMERIKA/100: Die Ausnahme als Normalzustand (ai journal)


amnesty journal 08/09/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die Ausnahme als Normalzustand

Die Anschläge vom 11. September jähren sich zum zehnten Mal.
Der anschließende "Krieg gegen den Terror" bedeutete einen gewaltigen Rückschritt für die Menschenrechte.

Von Maria Scharlau


Die Bilder der entführten Flugzeuge, die in das World Trade Center fliegen, haben sich wie kein anderes Ereignis der vergangenen Dekade in das gesellschaftliche Gedächtnis gegraben. Die Anschläge vom 11. September 2001, die sich nun zum zehnten Mal jähren, stehen nicht nur für eine bis dahin ungeahnte Brutalität: Sie gaben auch den Ausschlag für eine weltweite radikale Umgestaltung der Terrorismusbekämpfung, die einen herben Rückschlag für die Menschenrechte bedeutete.

Vorreiter dieser neuen Politik waren und sind die USA, doch haben sie viele Nachahmer und Verbündete, auch in Europa, gefunden. Die Regierung von George W. Bush leitete noch in den Tagen nach dem 11. September 2001 einen Paradigmenwechsel ein, der bis heute anhält: So bedienten sich die USA von Anfang an der Rhetorik, der Logik und der Mittel eines Krieges: "War on terror" bedeutet immer auch Ausnahmezustand - und der ist in vielen Ländern in Sachen Terrorbekämpfung zum Normalzustand geworden. Menschenrechtliche Errungenschaften, wie das absolute Folterverbot, das Recht auf Freiheit oder das Recht auf einen fairen Prozess, wurden dabei oft außer Acht gelassen.

Ein trauriges Symbol für die menschenrechtliche Kehrtwende nach 9/11 ist das Militärgefängnis in Guantánamo Bay auf Kuba. Es wurde geschaffen, um Terrorismusverdächtige in einem "rechtsfreien Raum" internieren zu können, als sogenannte "feindliche Kämpfer". Bush bediente sich mit diesem neu geschaffenen Begriff einerseits des Vokabulars des Kriegsvölkerrechts, um zu zeigen, dass er die robusten Mittel des Krieges für legitim hielt. Andererseits versagte er dieser Personengruppe den Mindestschutz, den das Kriegsvölkerrecht für Kombattanten vorsieht. Die Logik dahinter ist so einfach wie menschenrechtswidrig: Personen, die sich - mutmaßlich - an Terroranschlägen beteiligt haben, haben sich dadurch selbst "außerhalb der Rechtsordnung" gestellt und verdienen deren Schutz daher nicht.

Dementsprechend wurde den Gefangenen zunächst keinerlei Recht auf eine Haftüberprüfung gewährt, geschweige denn das Recht auf ein faires Verfahren. Immer wieder wurden sie durch brutale Methoden wie Waterboarding, extreme Temperaturwechsel und Dauerbeschallung gefoltert, misshandelt und ihrer Würde beraubt.

US-Präsident Obama versprach kurz nach seinem Amtsantritt im Januar 2009 die Schließung von Guantánamo - bis heute ein leeres Versprechen. Obama sieht sich dem Widerstand des Kongresses gegenüber, scheint aber auch den politischen Willen zu diesem wichtigen Schritt verloren zu haben. Daher sitzen noch heute über 170 Gefangene zum Teil seit Jahren dort fest, ohne dass sie auf einen fairen Prozess hoffen können. Und obwohl Obama sich von Bushs Folterprogramm der "verbesserten Verhörmethoden" distanzierte und sie abgeschafft hat, wollte er die Foltertaten seiner Vorgängerregierung nie (straf)rechtlich aufarbeiten. Danach gefragt, ob er einen Staatsanwalt speziell hierzu einsetzen wolle, antwortete er "wir müssen nach vorne sehen und nicht zurück". Bei der Aufarbeitung von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen durch die Bush-Regierung geht es aber nicht nur um Guantánamo: Im Rahmen des von Bush aufgesetzten "Secret Detention"-Programms wurden in den Jahren nach 2001 weltweit Terrorverdächtige aufgespürt, häufig auf offener Straße entführt und in geheime Haftanstalten gebracht, wo sie regelmäßig grausam gefoltert wurden. Hierbei konnten die USA auf ein Netz von Staaten zurückgreifen, die sie bei der Festsetzung sogenannter "High value detainees" unterstützten. So erhielt die CIA von europäischen Staaten wichtige Hinweise auf den Aufenthalt bestimmter gesuchter Personen, sie durfte auf dem Boden europäischer Staaten Geheimgefängnisse betreiben, und man zeigte sich großzügig bei der Gewährung von Überflugrechten und der Nutzung von Flughäfen.

Auch Deutschland hat hierbei eine unrühmliche Rolle gespielt, die trotz der Untersuchung des BND-Ausschusses von 2006 bis 2009 bis heute nicht ganz aufgeklärt ist. Der Abschlussbericht sprach die Bundesregierung zwar von den erhobenen Vorwürfen frei, allerdings basierte er auf einer unzureichenden Faktenlage. Die Bundesregierung hatte sich übermäßig und missbräuchlich auf die notwendige Geheimhaltung bestimmter Informationen zum Schutz des "Staatswohls" berufen, wie auch das Bundesverfassungsgericht 2009 bestätigte.

Und so ist bis heute nicht aufgeklärt, welche Rolle deutsche Geheimdienstinformationen beispielsweise im Fall des Deutsch-Syrers Mohammed Haydar Zammar gespielt haben: Hat der Bundesnachrichtendienst mit entscheidenden Hinweisen an die CIA dazu beigetragen, dass Zammar im Dezember 2001 in Marokko festgenommen und in das syrische Folter-Gefängnis Far Falestin gebracht wurde? Fest steht, dass sich die deutschen Behörden in den Jahren danach nicht um eine Freilassung Zammars oder um seine Überstellung nach Deutschland bemüht haben. Vielmehr schickten sie im November 2002 Mitarbeiter des BND, des Bundeskriminalamtes und des Verfassungsschutzes nach Damaskus, die Zammar dort über drei Tage hinweg im Gefängnis Far Falestin verhörten. Verschiedene völkerrechtliche Bindungen Deutschlands wie z.B. die Anti-Folter-Konvention sehen in einer solchen Situation eine Schutzpflicht gegenüber dem Gefangenen vor.

Amnesty International hat die deutschen Behörden scharf dafür kritisiert, dass sie - anstatt ihrer Schutzpflicht nachzukommen - die Haftsituation Zammars auch noch dazu ausnutzten, ihn zu vernehmen. Zammar sitzt nach einer fragwürdigen strafrechtlichen Verurteilung noch immer in Syrien in Haft. Bis heute wurde hierfür von deutscher Seite keinerlei Verantwortung übernommen, keine Schuld eingestanden.

Dabei könnte die Informationsweitergabe durch den deutschen Geheimdienst in einer neuen Form der Terrorismusbekämpfung durch die USA wieder eine Rolle spielen: Die Regierung Obamas hat in den vergangenen Jahren in Pakistan verstärkt Drohnen zur gezielten Tötung Terrorverdächtiger eingesetzt. Die New America Foundation gibt an, dass allein im Jahr 2010 durch 118 amerikanische Drohneneinsätze mindestens 600 Personen gestorben sind.

Der Drohneneinsatz außerhalb von Kampfgebieten zeigt mehr denn je, dass sich die USA aus ihrer Sicht bei der Terrorismusbekämpfung in einem echten Krieg befinden. Sie begründen das Vorgehen mit einem bewaffneten Konflikt im kriegsvölkerrechtlichen Sinn mit Al-Qaida und den Taliban. Wo dieser Krieg stattfindet? Immer dort, wo sich mutmaßliche Mitglieder von Al-Qaida und den Taliban aufhalten. Nach dieser Logik handelt es sich um einen zeitlich und räumlich völlig entgrenzten Krieg. Eine US-Drohne dürfte demnach theoretisch auch über der Hamburger Fußgängerzone eingesetzt werden, wenn dort ein mutmaßlicher Al-Qaida-Kämpfer einkauft.

Und noch etwas muss in Erinnerung gerufen werden, wenn man sich die alten und neuen Praktiken der Terrorismusbekämpfung nach 9/11 ansieht: Oft trifft es Unschuldige, wie den Deutsch-Türken Murat Kurnaz, der jahrelang in Guantánamo saß, obwohl er nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Nur durch ein faires Verfahren kann strafbares Verhalten nachgewiesen werden. Und nur durch die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte vermeiden die Staaten, in die Falle der Terroristen zu treten und sich moralisch angreifbar und unglaubwürdig zu machen.


Die Autorin ist Amnesty-Expertin für internationales Recht.


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2011, S. 50-51
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2011