Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

RUSSLAND/075: "Keine Gnade" für Arbeitsmigranten in Sotschi (ai journal)


amnesty journal 01/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Keine Gnade"

von Ramin M. Nowzad



Die Sportler sind noch im Trainingslager, doch schon ist der erste Rekord gebrochen: Die Olympischen Winterspiele in Sotschi werden das kostspieligste Sportereignis aller Zeiten. Die Spiele kommen aber nicht nur die russische Staatskasse teuer zu stehen.


Wladimir Putin ist ein Meister der Inszenierung. Und am liebsten inszeniert er sich selbst. Kein Wunder also, dass der russische Staatspräsident die Olympischen Winterspiele 2014 zur Chefsache erklärt hat. Die Spiele in Sotschi sollen im Februar alles Dagewesene übertrumpfen.

Das lässt sich der Kreml einiges kosten: Rund 40 Milliarden Euro werden die Spiele verschlingen, mehr als alle bisherigen Winterspiele zusammen. Doch das Großereignis kommt nicht nur die russische Staatskasse teuer zu stehen.

Viele Arbeiter, die seit Monaten auf den Olympia-Baustellen schuften, fühlen sich ausgebeutet. Vor sechs Jahren, als Sotschi den Zuschlag erhielt, konnte der Kurort noch nicht einmal einen vernünftigen Skilift vorweisen - ganz zu schweigen von Sportstadien, Eissportpalästen, Rodelbahnen oder den 42.000 Hotelbetten, die das Internationale Olympische Komitee verlangt. Rund 100.000 Arbeiter rackern seither rund um die Uhr, um einen Neubau nach dem anderen aus dem Boden zu stampfen.

Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Jüngst nähte sich ein Tagelöhner aus Protest den Mund zu, im Internet kursiert ein Video der grausigen Aktion. Der Mann ist Russe - und damit noch in einer besseren Lage als das Heer der Migranten, das in Sotschi arbeitet. Es wird geschätzt, dass mehr als 40.000 Ausländer, vor allem aus Zentralasien, auf den Baustellen schuften.

Manche Baufirmen beantragen für die Migranten keine Arbeitsgenehmigungen und nehmen den Männern die Pässe ab. So sind die Arbeiter illegal im Land und den Firmen ausgeliefert: Sie können weder die Baustelle verlassen, noch sich bei der Polizei beschweren. Viele Migranten malochen sieben Tage die Woche, zehn Stunden am Tag. Wenn es gut läuft, verdienen sie pro Stunde zwei Euro. Doch manche warten monatelang auf ihr Geld, andere werden gänzlich um ihren Lohn betrogen.

Erst werden sie ausgebeutet, dann abgeschoben: Wenn die Olympischen Spiele mit großem Pomp eröffnet werden, soll kein Arbeitsmigrant das Stadtbild verschandeln. Der Gouverneur der Region ließ daran jüngst keinen Zweifel: "Alle müssen nach Hause geschickt werden", sagte Alexander Tkatschow. "Unsere Brigaden werden die Straßen säubern. Ich fordere: Keine Gnade!"

Dabei gäbe es anderes aufzuräumen, denn auch die Natur hat unter der olympischen Bauwut zu leiden: Nördlich von Sotschi wurden jüngst im Wasserschutzgebiet mehrere Tonnen Olympia-Müll entdeckt. Umweltschützer befürchten, dass Giftstoffe bereits ins Grundwasser gesickert sein könnten. Bei den Einheimischen ist das Olympiaprojekt ohnehin umstritten. Bulldozer haben Hunderte Häuser zerstört - für Schienen, Straßen und Sportarenen.

Und der nächste Skandal steht schon ins Haus, denn auch Putins Schlapphüte sind längst im Trainingslager: Wie ein russisches Journalistenduo enthüllte, hat der Geheimdienst FSB das ausgefeilte Überwachungssystem "SORM" in Sotschi in Stellung gebracht. Die Agenten wollen in der Lage sein, am Austragungsort alle Besucher, Athleten und Journalisten lückenlos auszuspähen. Jedes Telefon soll angezapft, jeder Chat gespeichert, jede SMS gelesen werden können.

Als die Olympische Flamme im Oktober Moskau erreichte, versprach Putin, dass die Spiele von großer "Offenheit" geprägt sein werden. Es steht zu befürchten, dass er sein Versprechen einlösen wird.

*

Quelle:
amnesty journal, Dezember/Januar 2014, S. 59
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: ai-journal@amnesty.de,
Internet: www.amnesty.de
 
Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.
Ein Einzelheft kostet 4,80 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2014