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EUROPA/456: Klage im Zivilprozeß Srebrenica-Überlebender gegen die Niederlande abgewiesen


Presseerklärung vom 10. September 2008

Klagen im ersten Zivilprozess Srebrenica-Überlebender gegen die Niederlande am 10.09.2008 in Den Haag in allen Punkten abgewiesen


Das niederländische Landgericht in Den Haag hat in seinem heutigen Urteil die Klagen der Familie des in Srebrenica ermordeten Elektrikers Rizo Mustafic sowie von Hasan Nuhanovic, der seine Eltern und einen Bruder dort verlor, in allen Punkten abgewiesen. Das Gericht sollte klären, ob die niederländische Regierung und das Kommando des niederländischen Bataillons der UNPROFOR verantwortlich für das skandalöse Verhalten der niederländischen Einheiten zu machen sind, Schutz suchende Bosnier im Juli 1995 an ihre serbischen Mörder ausgeliefert zu haben.

"Der Alptraum für die Familien Mustafic und Nuhanovic geht damit weiter, ebenso wie der der Familien von 239 weiteren von niederländischen Soldaten ausgelieferten und von serbischen Truppen ermordeten Männern und Knaben. Sie hatten bei den Niederländern zunächst Schutz gefunden. Obwohl diese mit ansahen, dass ganz in ihrer Nähe, nur wenige Meter entfernt, bosniakische Frauen vergewaltigt und bosniakische Knaben und Männer liquidiert wurden, haben sie die kaltblütig in den Tod geschickt. Wie immer man die Angst der Soldaten und ihres Kommandeurs nachempfinden mag, so war es doch ihre allermindeste Pflicht, wenigstens diese Schutzbefohlenen zu retten. Die niederländische Regierung muss die Konvention der Vereinten Nationen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes endlich achten, für das Versagen ihrer Soldaten geradestehen, sich entschuldigen und den Überlebenden Wiedergutmachung leisten", kommentierte der Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Tilman Zülch. Zülch unterstützt die Einwohner von Srebrenica seit 1992 und erhielt 2006 den "Srebrenica Award against Genocide 1995" der Mütterbewegung von Srebrenica.


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HINTERGRUND

Urteil im ersten Zivilprozess Srebrenica-Überlebende gegen die Niederlande am 10.09.2008 in Den Haag

Warum mussten Ibro, Nasiha und Muhamed Nuhanovic sowie Rizo Mustafic sterben, obwohl die Vereinten Nationen ihnen Sicherheit versprochen hatten?


Heute wird das niederländische Landgericht in Den Haag das Urteil darüber verkünden, ob der niederländische Staat und seine Blauhelmsoldaten dafür veantworlich gemacht werden können, dass sie Schutz suchende Bosnier im Juli 1995 an ihre serbischen Mörder ausgeliefert haben.

"Wir erwarten, dass sich die niederländische Regierung endlich gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft zu ihrer Verantwortung für die 8376 ermordeten Knaben und Männer der Stadt und ihre überlebenden Angehörigen bekennt", sagte GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch heute in Göttingen. "Heute sind Gedanken und Augen aller Überlebenden des Massakers, die die Verantwortung der Blauhelme und der niederländischen Regierung für den Tod ihrer hilflosen Angehörigen einfordern, nach Den Haag gerichtet. Die Richter dürfen sie nicht enttäuschen."

Niederländische Blauhelme hatten im Juli 1995 Bosnier, die sich in den sicheren Bereich der UN-Soldaten in der UN-Basis in Potocari geflüchtet hatten, in den sicheren Tod fortgeschickt, während serbische Truppen bereits wenige Meter entfernt bosnische Flüchtlinge in der UN-Schutzzone ermordeten oder vergewaltigten. Auch den Blauhelmen persönlich bekannten Bosniern und Angehörigen ihrer Dolmetscher wurde die Zuflucht verweigert.

Vor sechs Jahren haben die Familie des in Srebrenica ermordeten Elektrikers Rizo Mustafic sowie Hasan Nuhanovic, der seine Angehörigen verlor, beim Landgericht in Den Haag Klage eingereicht. Darin werden die Niederlande für das Versagen ihrer Blauhelmtruppen verantwortlich gemacht. Es sollte geklärt werden werden, ob die niederländische Regierung und das Kommando des niederländischen Bataillons innerhalb von UNPROFOR verantwortlich für das skandalöse Verhalten der niederländischen Einheiten zu machen sind, sich mehr um die eigene Sicherheit als um den Schutz der ihnen anvertrauten Zivilbevölkerung gesorgt zu haben.

Hasan Nuhanovic verlor damals seine Eltern und seinen jüngeren Bruder. Die Gebeine seines Vaters wurden in einem Massengrab gefunden und identifiziert. Bis heute hat er keine Gewissheit über das Schicksal seiner Mutter und seines Bruders. Viele Massengräber wurden von serbischen Truppen später mit Bulldozern verwüstet, um Spuren zu vernichten. Die Gebeine der Ermordeten wurden an anderer Stelle erneut verscharrt.

Alma Mustafic, die Tochter des ermordeten Rizo Mustafic, schrieb der GfbV: "Tief in meinem Herzen hoffe ich, dass das Gericht gerecht urteilt und dass dieses Verbrechen nicht bagatellisiert und nicht verleugnet wird."


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Die Tragödie der Familie Nuhanovic:

In der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 1995 war Hasan Nuhanovic mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem improvisierten Büro des UNPROFOR-Stützpunktes in Potocari, einem Vorort von Srebrenica, der unter dem Kommando des Niederländers Andre de Haan stand. De Haan, der sich mit einem Arzt und einer Krankenschwester ebenfalls in den Räumen aufhielt, war gern gesehner Gast der Familie und hatte die Kochkünste von Frau Nuhanovic immer gelobt. Trotzdem half er ihr nicht, als sie bei der Nachricht von der Ermordung von neun Menschen vor der UNPROFOR-Basis zusammenzubrechen drohte. Am darauf folgenden Morgen habe de Haan zwischen 5 und 6 Uhr morgens gesagt: "Hasan, sag Deiner Mutter, Deinem Bruder und Deinem Vater, dass sie die Militärbasis verlassen sollen."

Nuhanovic hat die furchtbaren Ereignisse von Srebrenica akribisch recherchiert und in dem Buch "Under the UN Flag" auf mehr als 500 Seiten in allen Details dokumentiert, bevor er seine Klage einreichte.


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Quelle:
Presseerklärung Den Haag / Göttingen, 10. September 2008
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-0, Fax: 0551/58028
E-Mail: info@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2008