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INTERNATIONAL/078: Der soziale Protest - Vorbote einer neuen Politik in Israel? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

AUFSTAND DER ZIVILGESELLSCHAFT
Der soziale Protest - Vorbote einer neuen Politik in Israel?

Von Rami Livni


Im Sommer 2011 ereignete sich in Israel etwas Politisches, das dem außenstehenden Betrachter als nicht dramatisch erscheinen mag, aber sämtliche politische Beobachter überraschte. Keiner von ihnen hatte es vorausgeahnt, aber viele Medienschaffende, Akademiker, Politiker und progressive Aktivisten sahen darin gar ein konstituierendes Ereignis der israelischen Gesellschaft: Während dreier Monate kam es zu den größten sozialen Protesten in der Geschichte des Landes. Wird die Saat der Protestbewegung aufgehen?


Die sozialen Proteste in Israel eroberten den öffentlichen Diskurs im Sturm, sie brachten täglich unzählige Bürgerinitiativen unterschiedlichster Art hervor und Hunderttausende auf die Straße. Viele Bürger nahmen zum ersten Mal in ihrem Leben an Demonstrationen teil. Bei diesen Protesten ging es aber nicht um jene Themen, die man von Bürgerprotesten in einem Staat wie Israel erwarten würde, also nicht um den Nahostkonflikt, nicht um das Besatzungsunrecht und nicht um die Notwendigkeit einer politischen Lösung dieses Konflikts, sondern um soziale Gerechtigkeit, um Wohlstand und um die Verbindungen zwischen Geld und Macht. Angeführt wurden diese Proteste nicht von bekannten Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben und der Politik, sondern von einer Gruppe unbekannter junger Leute, vor allem junger Frauen, fast ohne Erfahrung mit progressivem gesellschaftlichen Aktivismus.

Wer sich in Israel oder im Ausland ein aktuelles Bild von der israelischen Gesellschaft und israelischer Politik machen möchte und diese verstehen will, sollte den Verlauf der sozialen Proteste des vergangenen Sommers genauer betrachten und sich ihrer Bedeutung bewusst werden. Angesichts der noch fehlenden Zeitperspektive und des fehlenden historischen Kontextes, sollte man sich zwar vor voreiligen Schlüssen hüten, doch eine vorsichtige Bewertung lässt die Folgerung zu, dass diese Proteste tieferliegende Strömungen des politischen Bewusstseins der Israelis zum Vorschein und zur Entfaltung gebracht haben. Einerseits waren sie Ausdruck gereifter gesellschaftlicher Stimmungen, Sehnsüchte und Prozesse, die jahrelang unter der Oberfläche schwelten und nun unter den gegebenen Umständen hervorbrachen. Andererseits können die Proteste auch als spannende Versuchsanordnung für verschiedene originäre Selbsterfahrungen im Hinblick auf die relevantesten politischen Fragen - im Großen und Kleinen - gesehen werden. Sie reichen vom Unterschied zwischen rechts und links und der Bedeutung gesellschaftlicher Solidarität bis hin zur demokratischen Entscheidungsfindung in der Gruppe und der Aussortierung organischer Abfälle in den Zeltlagern.


Auf ein Zelt folgten viele

Alles begann damit, dass eine 25-jährige Filmcutterin namens Daphni Leef ihre Wohnung in Tel Aviv aufgeben musste, weil sie die gestiegene Miete nicht mehr zahlen konnte. Im Gegensatz zu anderen jungen Menschen der Mittelklasse, die die verschiedenen Plagen des israelischen Wohnungsmarktes - Vervielfachung der Miete in wenigen Jahren, kein staatlicher Wohnungsbau, fehlende Unterstützung für Studenten, zu wenige Studentenunterkünfte an den Universitäten und schlechte öffentliche Verkehrsverbindungen, die das Wohnen außerhalb der größeren Städte fast unmöglich machen - wortlos über sich ergehen lassen, beschloss Leef zu handeln. Aus Protest gegen den Verlust ihrer Wohnung errichtete sie ein Zelt auf dem Rothschild-Boulevard, der besten Adresse in Tel Aviv. Einige Freunde folgten ihr nach. Eine oder zwei Zeilen war den Medien diese Geschichte wert - ein Kuriosum.

Doch dann bauten allmählich - spontan und unabhängig voneinander - weitere Protestierende Zelte auf dem Boulevard auf und in wenigen Tagen entwickelte sich die Aktion zu einem Massenphänomen. Im Zentrum von Tel Aviv und danach in Dutzenden Städten und Dörfern überall in Israel wurden Tausende von Zelten aufgestellt. Der Wohnungsprotest fand großen Anklang in der Öffentlichkeit und in den Medien. Wer leidet nicht unter der drückenden Last von Hypotheken oder Mieten, die einen viel zu großen Teil des Einkommens verschlingen, und unter der unsicheren Wohnsituation, zum Ausdruck gebracht durch die Abhängigkeit von elterlicher Unterstützung oder durch den endgültigen Verzicht auf den Traum von einer eigenen Wohnung?

Zunächst fast ausschließlich auf die Wohnungspolitik beschränkt, weitete sich die Aktion zu einer gewaltigen Protestwelle gegen die wirtschafts- und sozialpolitische Tagesordnung Israels aus. Weitere Gruppen, die sich als deren Opfer fühlten, erkannten die Chance, ihren Unmut in der Öffentlichkeit kundzutun und schlossen sich dem Protest an: (alleinerziehende) Mütter, die für teure private Kinderbetreuung aufkommen müssen, weil es nicht genug staatliche Ganztagsschulen gibt, Verbraucher, die die stark gestiegenen Preise von Grundnahrungsmitteln beklagen, Landwirte, Rentner, Ärzte in der Fachausbildung, Sozialarbeiter, Lehrer und viele mehr. In den urbanen Zentren Israels wurden immer mehr Zeltstädte aufgebaut, die sich zu dynamischen Schauplätzen gesellschaftlicher Aktivität entwickelten. Sie wurden zu Stätten der Debatte und der Mobilisierung sowie zu Plattformen für Dutzende Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit durch Einzelne oder Organisationen. Der Kampf stand unter dem Motto "Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit" sowie im Zeichen der Forderung nach einer Neuordnung der Sozialpolitik. Die Protestierenden führten nonstop Aktivitäten durch, darunter Massendemonstrationen mit Hunderttausenden von Teilnehmern und lokale Initiativen wie kurze Straßenbesetzungen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig entwickelten sich in den Zeltstädten Bildungsaktivitäten mit öffentlichen Vorträgen und kollektivem öffentlichen Unterricht, demokratische Institutionen zur Entscheidungsfindung auf verschiedenen Stufen und eine heitere Festivalstimmung: Musik, Tanz und ein Gefühl der Freiheit und des Aufwachens aus langer Lethargie.


Neue Debatte über Wirtschafts- und Sozialpolitik

Wirklich neu an dieser sozialen Protestbewegung und der Hauptgrund dafür, dass sie in Echtzeit als beispielloses öffentlichkeitspolitisches Ereignis wahrgenommen wurde, war der Umstand, dass es ihr gelang, die Kritik der Wirtschafts- und Sozialpolitik zuoberst auf die öffentliche Tagesordnung zu setzen. Denn im Unterschied zu Europa und selbst zu den Vereinigten Staaten, wo rechts und links vor allem Haltungsunterschiede bei wirtschafts- und sozialpolitischen Themen und in der traditionellen Frage der angemessenen Einmischung des Staates in der Wirtschaft bezeichnen, betrifft der - nicht minder scharfe - Rechts-Links-Gegensatz in Israel fast ausschließlich die Frage der Besatzung und der Friedensregelungen mit den Arabern. Insbesondere seit den 80er Jahren herrschte in der israelischen Öffentlichkeit und in der israelischen Politik der Eindruck vor, dass sich der Kapitalismus widerspruchslos als bester Weg und als objektive Selbstverständlichkeit bestätigt hat. Sämtliche Regierungen, gleichgültig ob unter rechter oder linker Führung, haben seither mehr oder weniger dieselben Ziele verfolgt: beschleunigte wirtschaftliche Liberalisierung und Privatisierung, Steuersenkungen, Änderung der Beschäftigungsstruktur und Abbau sozialer Dienstleistungen. Das hat dazu geführt, dass in Israel praktisch keine öffentliche oder politische Debatte über wirtschafts- und sozialpolitische Fragen stattfand, die wirtschaftspolitische Terminologie war den meisten Israelis fremd. Begriffe wie Sozialdemokratie oder Liberalismus, Sozialstaat oder gewerkschaftlich organisierte Arbeit hört und liest man in Israel nur selten, sie spielten in der Politik so gut wie keine Rolle.

Der sozialen Protestbewegung ist es also zweifellos gelungen, eine wirtschafts- und sozialpolitische Debatte zu entfachen, alten Begriffen neues Leben einzuhauchen und Menschen zu ermutigen, sich eine Meinung zu ihrer Situation zu bilden. Mieter, die ihre Miete nicht bezahlen können, Autofahrer, die unter den hohen Benzinpreisen leiden und Verbraucher, die in den Lebensmittelketten überhöhte Preise zahlen müssen, haben plötzlich gelernt, die Dinge, über die sie sich beklagen, auch zu benennen. Doch damit nicht genug: Sie haben auch begriffen, dass sie ein Recht auf Protest haben und dass Protest keine Schande ist. Sie haben bemerkt, dass sich andere Leute in einer ähnlichen Situation befinden und dass man etwas ändern kann. Jeder Einzelne von den 400.000 Menschen, also mehr als 5% der Bürger des Landes, die an der großen Kundgebung auf dem Höhepunkt dieser sozialen Proteste teilnahmen, kam, um seinen persönlichen Unmut über die Situation kundzutun, jeder mit seinem individuellen Zorn über eine ganz bestimmte Sache. Doch es schien, als hätten alle verstanden, dass es zwischen ihren Anliegen einen Zusammenhang gibt, dass etwas nicht stimmt mit dem "System".

Der Protest verbuchte viele weitere Erfolge, die hier aus Platzgründen nur in Stichworten genannt werden sollen: eine insgesamt befriedigende Zusammenarbeit zwischen Teilen unterschiedlicher sozialer Schichten und verschiedener ethnischer und kultureller Gruppen, die sich in der gespaltenen israelischen Gesellschaft sonst gegenseitig bekämpfen; die Schaffung einer Kultur des friedlichen und gleichzeitig kreativen und aktiven Bürgerprotests, der das Establishment unablässig herausfordert; ein eindrückliches Organisations- und Führungsvermögen gegenüber einem mächtigen Gegner, der Regierung, die mit verschiedenen Mitteln versucht hat, den Protest zu zerstreuen und zu delegitimieren. Angesichts der Proteste hat die neoliberale Regierung unter Benjamin Netanjahu nicht unerhebliche Maßnahmen getroffen, um zu zeigen, dass sie die Proteststimmung ernst nimmt: Gewisse soziale Dienste wurden erweitert, ein Handlungskonzept zur Verringerung der Machtkonzentration in der israelischen Wirtschaft verabschiedet und geplante Steuererleichterungen für Vermögende gestrichen. Der Protest dürfte auch einen gewissen Einfluss auf die politischen Machtverhältnisse im Land ausüben.


Weder rechts noch links

Dennoch ist noch nicht abzuschätzen, ob und in welchem Umfang die soziale Protestbewegung die riesigen Erwartungen, die sie selbst geweckt hat, erfüllen kann, indem sie einen umfassenden Wandel der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Israel bewirkt. Aus linker oder sozialdemokratischer Perspektive lässt sich sagen, dass der Protest neben seinen Erfolgen auch Schwachpunkte offenbart hat, die nicht unterschätzt werden sollten. Die israelische Linke hat die Proteste mit großer Begeisterung aufgenommen. Kurz vor der Verzweiflung, als es bereits den Anschein hatte, der Rechten sei es gelungen, ihre Vormachtstellung in der israelischen Politik für die kommenden Jahre zu sichern, und die Linke, abgekämpft von jahrelangen erfolglosen Versuchen, die Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden, ihre Fähigkeit einzubüßen schien, als Regierungsalternative wahrgenommen zu werden, geschah ein Wunder: Hunderttausende haben sich im Rahmen eines kritischen und solidarischen Bürgerdialogs erhoben, um gegen die Regierungspolitik zu kämpfen. Für die Linken schien ein alter Traum in Erfüllung zu gehen. Sie konnten es kaum glauben und schöpften für kurze Zeit neue Hoffnung. Doch während die Proteste noch andauerten und vor allem als sie sich dem Ende zuneigten, musste die Linke zu ihrem großen Bedauern feststellen, dass es keinerlei Gewissheit für eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse gab.

Die Protestbewegung war in der Tat sozial, aber nicht unbedingt sozialdemokratisch. Als die Massen "soziale Gerechtigkeit" forderten, verstanden die einen darunter den Stopp der Privatisierung und die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, andere aber mehr Wettbewerb, Senkung von Einfuhrsteuern und die Schwächung von Arbeitnehmerverbänden. Dieser zweiten Interpretation des Protests dürften sich auch Premierminister Netanjahu und seine Minister anschließen. Wenn der Kampf im Namen des ganzen Volkes und für das Volk geführt wird, warum soll sich die Regierung ihm nicht auch anschließen?

Nicht weniger beunruhigend ist die breit akzeptierte Trennlinie, die der Protest zwischen den wirtschafts- und außenpolitischen Themen zog. Drei Monate dauerte der ehrgeizigste soziale Protest in der Geschichte des Staates Israel, viele Reden wurden auf öffentlichen Plätzen gehalten, aber die entscheidendste Frage für die Zukunft des Landes, die tiefste moralische Wunde und zugleich die größte Gefahr blieb ausgespart. Die Worte "Besatzung" und "Frieden" wurden von den protestierenden Massen nicht ausgesprochen. Der Grund dafür bzw. die Taktik ist offensichtlich und scheinbar vernünftig. Es ging schließlich darum, einen möglichst breiten Konsens zu schaffen, indem man die mit unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten verbundene Frage der Friedensregelung mit den Palästinensern und der Siedlungen ausklammert und sich auf die sozialen Fragen konzentriert. Der Preis für diese Entscheidung ist aber ebenso klar: Die israelische Öffentlichkeit wurde in ihrer Meinung bestärkt, dass der Friede eine "separate" Angelegenheit ist, die mit den sozialen Fragen nichts zu tun hat, und dass es sich um ein kompliziertes, unlösbares Problem handelt und die Beschäftigung damit nur die Spaltung im Volk vertieft. Die Führer des sozialen Protests präsentierten ihre Bewegung als "weder rechts noch links". Möglicherweise haben sie sich dabei keine Gedanken darüber gemacht, wem eine solche Haltung letztlich dient. Inzwischen nagt die rechteste Regierung in der Geschichte Israels weiter an den Grundfesten der israelischen Demokratie, als hätte es die Proteste nie gegeben, als hätten sie nicht öffentlich Solidarität, Toleranz, Gleichheit und Offenheit gelobt.

Doch allen Zweifeln zum Trotz wird die Saat der Protestbewegung vom Sommer 2011 aufgehen. So rasch werden die Hunderttausenden, die eine wertvolle Lektion in Basisdemokratie und Bürgerbefähigung gelernt und gelehrt haben, ihre gemeinsame Stärke nicht vergessen. Während dreier Monate war das menschliche Bedürfnis nach Hoffnung, Initiative und Solidarität viel stärker als die eingespielten kulturellen, politischen und ideologischen Konzepte, die sich die Bürger jahrelang eingeredet haben: "Das Leben ist ein ewiger Kampf gegen die anderen! Auf die Straße gehen ist zwecklos. Schau lieber fern!" Und: "Protestier nicht! " hießen früher die Devisen. Aber sie haben doch protestiert.

Rami Livni (* 1976) ist Literaturwissenschaftler aus Israel, Mitbegründer der sozial-ökologischen Partei "Die Grüne Bewegung" und leitet heute mehrere Projekte politischer Bildung für sozialdemokratische Multiplikatoren.
(ramilivn@yahoo.com)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 31-35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2012