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STANDPUNKT/135: Prof. Dr. Bernard Lown - Ein Leben für das Leben (IPPNWforum)


IPPNWforum | 119 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Ein Leben für das Leben

Überlegungen des IPPNW-Günders Prof. Dr. Bernard Lown


Es ist außergewöhnlich, dass einer Bewegung, die 1980 noch gar nicht existierte, kaum fünf Jahre später der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Das Nobelpreiskomitee übergab die Auszeichnung mit den folgenden Worten: "Der Verein hat der Menschheit einen großen Dienst erwiesen, indem er zuverlässige Informationen verbreitet und ein Bewusstsein über die katastrophalen Folgen der atomaren Kriegsführung geschaffen hat." Die Empfänger des Preises waren Ärzte, die eigentlich nichts mit der internationalen Atompolitik zu tun hatten. Noch bemerkenswerter ist dass diese Ärzte verfeindeten, einander dämonisierenden Lagern angehörten, die bereit waren sich gegenseitig zu zerstören.

Diese und andere Erinnerungen wurden lebendig, als ich mein soeben veröffentlichtes Buch "Ein Leben für das Leben: Ein Arzt kämpft gegen den atomaren Wahnsinn" schrieb. Dabei kamen mir auch schmerzliche Erinnerungen an die schonungslosen Angriffe der westlichen Medien. Nach Bekanntgabe des Nobelpreises im Oktober 1985 erreichten diese Angriffe ihren Höhepunkt. In einem wütenden Leitartikel vertrat das Wall Street Journal die Auffassung, dass sich das Nobelpreiskomitee nach seiner unmoralischen Entscheidung für die IPPNW auflösen sollte.

Bundeskanzler Helmut Kohl appellierte an das Nobelpreiskomitee, die Preisentscheidung zu widerrufen. Dieser Forderung schlossen sich 10 weitere Vorsitzende christlich-demokratischer Parteien in Europa an. Der deutsche Bundeskanzler hatte offensichtlich dabei vergessen, - zu seinem späteren Unbehagen - dass der einzige Staatschef, der außer ihm jemals die Rücknahme eines Nobelpreises gefordert hatte, Adolf Hitler war. 1935 verlangte Hitler den Widerruf des Nobelpreises für den Pazifisten Carl von Ossietzky, der zu diesem Zeitpunkt in einem Konzentrationslager dahin siechte, wo er später umkam.

Aber geht es denn in meinem Buch um vergangene Geschichte? Schließlich ist der Kalte Krieg ja vorbei. Der Kommunismus ist diskreditiert. Die Sowjetunion wurde in den Abfalleimer der Geschichte verfrachtet. Die Atomwaffenarsenale wurden wesentlich verringert. Selbst einige der führenden Verfechter des atomaren Rüstungswettlaufs wie Schultz, Kissinger und andere sind heute lautstarke Befürworter der Abschaffung von Atomwaffen.

Ich meine ganz im Gegenteil, dass "Ein Leben für das Leben" heute immer wichtiger wird. Ein kalter Krieg ist noch immer im Gange, vor allem gegen die amerikanische Bevölkerung. Im Trommelfeuer der täglichen Propaganda wurde einfach das Wort "Kommunismus" durch den Begriff "Terrorismus" ersetzt. Wir wurden mit dem Lügenmärchen, dass Saddam Hussein eine atomare Bedrohung darstelle, in den Irakkrieg getrieben. Erinnern Sie sich noch an die furchterregenden Worte von Condoleezza Rice: "Wir können nicht auf den unwiderlegbaren Beweis - den rauchenden Colt - warten, denn dieser könnte die Form eines Atompilzes haben"?

In der Tat: Die Bedrohung durch den Nuklearismus ist real, aber sie kommt aus ganz anderen Ecken. Da sind zuallererst die riesigen Atomwaffenarsenale der USA und Russlands. Sie reichen aus, um die Welt gleich mehrfach zu zerstören. Zum zweiten hat das Pentagon seine Pläne zum Einsatz von Atombomben nie aufgegeben. Während der vergangenen Monate hat der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates in Gesprächen über mögliche US-Reaktionen gegenüber dem Iran mehrfach hervorgehoben, dass sich die USA "alle Optionen offen halten". Das schließt die Option eines Atomschlags ein. Drittens nimmt die Bedrohung durch atomare Proliferation zu - jenseits von Ländern wie Nordkorea und Iran. Und besonders beunruhigend ist als Letztes die Möglichkeit, dass Terroristen Zugang zu nuklearen Bausteinen erlangen könnten.

Aber sollten wir nicht ein hoffnungsvolleres Bild malen? Schließlich leben wir in der Ära von Präsident Barack Obama, der uns eine grundlegende Änderung der katastrophalen Außen- und Innenpolitik der Bush-Ära versprochen hat. Ganz oben auf der Liste unserer Erwartungen steht der Abbau der Atomwaffenarsenale. Und in der Tat hat Obama am 5. April 2009, gerade zehn Wochen nach seinem Einzug ins Weiße Haus, bei einer Kundgebung auf dem Hradcany-Platz in Prag "Amerikas Verpflichtung betont, Frieden und Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben."

Jedoch verdunkeln Schatten unsere Erwartungen, die nur mit einem Rückblick auf den Kalten Krieg zu verstehen sind. Die entscheidenden Fragen jener Zeit sind heute nicht überholt sondern drängen sich angesichts aktueller Ereignisse mit Macht auf. Warum hat die amerikanische Regierung auf Atomwaffen gesetzt? Nur wenige Gesellschaften sind für deren schreckliche Konsequenzen anfälliger als der reiche, verstädterte, hochentwickelte und industrialisierte Norden, allen voran die USA. Gäbe es die Atomwaffen nicht, müssten die USA niemanden fürchten. Weil es sie gibt, müssen sie alle fürchten.

Wie in "Ein Leben für das Leben" ausgeführt, liegt der Ursprung der Atompolitik im amerikanischen Militarismus und in der Rolle des Pentagon bei der Gestaltung der US-Außenpolitik. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte verfügte eine Nation über solch eine enorme militärische Schlagkraft. Das spiegelt der US-Militärhaushalt wieder. Der Etat des Pentagon übersteigt die gesamten Militärausgaben der übrigen Welt, das sind etwa 22.000 Dollar pro Sekunde. Jedes Jahr geben die USA pro Erdenbürger 100 Dollar für die Kriegsführung aus. Im Gegensatz dazu belaufen sich die gesamten Ausgaben der UNO und all ihrer Abteilungen auf 3 Dollar je Erdenbürger - also ein Dreißigstel davon.

Die amerikanische Militärmacht hat sich heutzutage über die ganze Welt ausgebreitet. In früheren Zeitaltern maß man die Ausdehnung eines Reiches an der Anzahl seiner Kolonien. Die US-amerikanische Version von Kolonien heißt Militärstützpunkte. Das Pentagon hat derzeit 750 Überseestützpunkte in 130 Ländern in Besitz oder gepachtet. Außerdem gibt es auf jedem Kontinent ein Regionalkommando oder eine militärische Kommandozentrale der USA. In diesem Jahr hat das US-Militär eine solche Kommandozentrale für Afrika eingerichtet. Da diese in keinem afrikanischen Land willkommen war, wurde das Afrika-Hauptquartier in Deutschland eingerichtet.

Zur Beherrschung der Weltmeere hat das Pentagon elf Marine-Einsatztruppen eingerichtet, die auf Flugzeugträgern stationiert sind. Jede einzelne dieser Einsatztruppen kann jede andere Seemacht herausfordern. Darüber hinaus haben die USA zur Beherrschung des Weltalls ein Weltraumkommando eingerichtet, und ein Kommando für den Cyberspace kann bei Bedarf in Ihre PersonalComputer eindringen. Ungeachtet dieser ungeheuren Macht hält das Pentagon an der Überzeugung fest, dass Atomwaffen für die militärische Stellung Amerikas eine wichtige Rolle spielen.

Heute erleben die USA im Inneren eine wachsende Wirtschaftkrise, die ungeheure soziale Notlagen mit sich bringt, und es gibt außerhalb keinen ernstzunehmenden militärischen Gegner. Trotzdem unterstützt die demokratische Partei Obamas diese furchterregende Militärmaschine, die mit der behaupteten Notwendigkeit des "Krieges gegen den Terrorismus" gerechtfertigt wird. Es sieht so aus, als ob sich Präsident Obama wie alle anderen Präsidenten vor ihm dem Druck des amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes beugen würde. Leider gibt es eine Reihe von Belegen für Obamas Kapitulation: Er hat das aufgeblähte Pentagon-Budget weiter erhöht. Er weitet die militärischen Operationen in Afghanistan aus. Er unterstützt die schändliche Praxis der CIA rechtsfreie Räume zu unterhalten. Er hat Robert Gates, den letzten Verteidigungsminister unter Bush, im Amt belassen und signalisiert damit den höchsten Entscheidungsträgern, dass die Bedürfnisse des Imperiums nicht eingeschränkt werden.

Ist das nun das Ende der Geschichte? Wohl kaum. "Ein Leben für das Leben" enthält eine wichtige Lehre, die ein optimistischeres Szenario andeutet. Die IPPNW wurde in der Reagan-Ära gegründet, während des heftigsten Rüstungswettlaufs der Geschichte und der bedrohlichsten Phase des Kalten Krieges. 16.000 Megatonnen ließen damals die Waffenarsenale überquellen, genug um jedes menschliche Leben auf der Erde mehr als 20 Mal zu vernichten. Sämtliche Waffen, die im 2. Weltkrieg eingesetzt worden waren und durch die schließlich 50 Millionen Menschen umkamen, entsprachen gerade einmal 11 Megatonnen.

Die IPPNW hat dazu beigetragen, dass der Kalte Krieg beendet wurde. Diese Ärzte-Story ist eine eindrucksvolle Lehre für heute. Wir haben eine weltweite Bewegung ins Rollen gebracht. (...) Diese Erfahrung, die ich in "Ein Leben für das Leben" beschreibe, hat mich davon überzeugt, dass es ohne die Aufklärung und Mobilisierung der Bevölkerung kaum Fortschritte bei der Abschaffung der Atomwaffen geben wird. Auch Präsident Obama hat ja im Rahmen seiner Wahlkampagne wiederholt darauf hingewiesen, dass seine Bemühungen für einen Wandel nur durch die aktive Beteiligung der amerikanischen Bevölkerung Erfolg haben werden. Erst die massiven Proteste der Bewegung gegen den Atomkrieg haben die USA und die Sowjetunion dazu gebracht, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Die komplette Abschaffung aller Atomwaffen wird also eine noch nie da gewesene weltweite globale Mobilisierung voraussetzen.

Gibt es überhaupt einen Anlass, optimistisch zu sein? Die Antwort lautet kategorisch "Ja!". Eine engagierte Gruppe von Ärzten konnte dazu beigetragen, eine überwältigende Bedrohung für das Überleben der Menschheit abzuwenden. Und es gibt heute positive Entwicklungen, die sehr wohl für Optimismus sprechen. Dazu gehören die Revolution der Informationstechnologie, eine durchschaubarere Weltordnung, die wachsende Alphabetisierung und Bildung der Menschen sowie die Emanzipation der Frau. Der vielleicht wichtigste Aspekt ist die veränderte Vorstellung der Menschen von einer gerechten Teilhabe an der Welt. Dies sind gewaltige Kräfte, die eine neue Weltordnung möglich machen. Ein grundlegender Wandel mit sozialen Umwälzungen epochalen Ausmaßes steht bevor.


Bernard Lown ist ein weltbekannter Kardiologe. Er erfand u.a. den Herz-Defibrillator. 1962 iniziierte er die "Ärzte für Soziale Verantwortung" (PSR). 1981 gündete er zusammen mit dem russischen Kardiologen Evgenij Chazov die IPPNW.


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Quelle:
IPPNWforum | 119 | 09, Oktober 2009, S. 6-7
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2009