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MUMIA/715: Die Stärke der Bewegung (Mumia Abu-Jamal)


Kolumne # 770
Die Stärke der Bewegung

Der Staat wendet sich gegen jede gesellschaftliche Kraft, die ihn verändern und demokratisieren will und die beabsichtigt, seinen missgünstigen konservativen Mächten eine reale Volksmacht entgegenzusetzen

von Mumia Abu-Jamal, September 2015


Was macht eine Bewegung aus? Welche gesellschaftlichen Kräfte schließen sich darin zu einer Einheit zusammen, setzen etwas Neues in die Landschaft und erweisen sich notfalls auch als fähig, zu Boden zu gehen, wieder aufzustehen und weiter voranzuschreiten?

Seit der Gründung der USA hat es keine Zeit ohne Basisbewegungen gegeben. Aber wie so vieles im Leben waren sie schwach und stark, erlebten sie Ebbe und Flut, abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, mit denen sie konfrontiert waren.

Wir leben in einer Ära, in der die bloße Vorstellung von einer Bewegung schon sonderbar oder unzeitgemäß erscheinen mag. Das liegt daran, dass der Staat im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts alles dafür getan hat, die Erinnerung an die Bewegungen der 1960er Jahre oder an jene anderen Epochen der US-Geschichte auszulöschen. Dazu bedient er sich sowohl der Medien als auch der Institutionen akademischer Bildung und der Schulen, um eine falsche, irreführende Geschichtsschreibung durchzusetzen. Diese soll die Leute konfus machen, damit sie nicht begreifen, wie Bewegungen in der Vergangenheit entstanden, wie sie handelten, wuchsen und sich ausbreiteten. Dieses manipulierte Geschichtsbild wird derart massiv in der Öffentlichkeit lanciert, dass niemand ihm entgehen kann.

Dank der wissenschaftlichen Forschungsarbeit über soziale Bewegungen kennen wir heute jedoch die Methoden, mit denen beispielsweise gegen den 1968 ermordeten Reverend Martin Luther King junior vorgegangen wurde. Einen Mann, der vom Staat so unter Druck gesetzt wurde, dass seine Widersacher hofften, er werde Selbstmord begehen.

Sein größter Feind war seine eigene Regierung, personifiziert durch den Direktor des FBI, J. Edgar Hoover, einen unverfrorenen Rassisten. Hoover nutzte seine Machtstellung dazu, keinen Versuch auszulassen, alle Bewegungen zu zerstören, die den Status quo in Frage stellten. Seine brutalsten tödlichen Angriffe richtete er gegen Mitglieder der schwarzen Freiheitsbewegungen. Darin lag Hoovers historische Rolle und Funktion.

Diese zeigte sich am besten im »Cointelpro« des FBI. Das ist der Codename für »Counter Intelligence Program« und bezeichnet eine Reihe von Infiltrations- und Bekämpfungsprogrammen, mit denen das FBI jahrzehntelang schwarze Anführer von Martin Luther King bis Huey P. Newton, dem Mitbegründer der Black Panther Party, verfolgte und attackierte. Wie diese Oppositionellen gesehen wurden, zeigte sich in dem Wort, das der stellvertretende FBI-Direktor William Sullivan vor einem Untersuchungsausschuss des US-Senats aussprach. Er nannte sie »Staatsfeinde«, als seien sie Fremde im Land ihrer Geburt. Sullivan fügte hinzu, dies sei »übliche Praxis in einem knallharten schmutzigen Geschäft«.

Warum ist das Wissen um diese Vorgänge für uns gerade in dieser Zeit so wichtig, in der eine neue gesellschaftliche Bewegung gegen rassistische Polizeigewalt im Entstehen begriffen ist und sich unüberhörbar zu Wort meldet? Weil dieser Bewegung eine entscheidende Bedeutung zukommt, indem sie junge Aktivisten und Revolutionäre lehrt, dass sich in der Ursache für das Entstehen dieser Bewegung das Wesen dieses Staates zeigt.

Der Staat wendet sich gegen jede gesellschaftliche Kraft, die ihn verändern und demokratisieren will und die beabsichtigt, seinen missgünstigen konservativen Mächten eine reale Volksmacht entgegenzusetzen. Wer versucht, eine gesellschaftlich relevante Bewegung auf die Beine zu stellen, und diese zentralen historischen Lehren nicht begriffen hat, wird unweigerlich scheitern und mit ansehen müssen, wie diese Bewegung in tausend Stücke gerissen wird.


Copyright: Mumia Abu-Jamal
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Übersetzung: Jürgen Heiser
Erstveröffentlicht in "junge Welt" Nr. 219 vom 20. September 2015

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Quelle:
Der Beitrag entstammt der Website www.freedom-now.de
mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Heiser
Internationales Verteidigungskomitee (IVK)
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Internet: www.freedom-now.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2015

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