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BERICHT/232: Das Völkerrecht bewegt sich wie eine Schnecke (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 1/2011
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Das Völkerrecht bewegt sich wie eine Schnecke
FIAN's Lobbyarbeit für ein Zusatzprotokoll zum Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte zeigt, dass Menschenrechtsarbeit einen langen Atem braucht

Von Michael Windfuhr


Am 10. Dezember 2008 wurde in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Zusatzprotokoll zum Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (WSK-Pakt oder Sozialpakt) angenommen. Das Zusatzprotokoll enthält keine neuen Rechte oder inhaltlichen Bestimmungen für diesen zentralen Menschenrechtspakt, sondern das Verfahren für ein Individualbeschwerdeverfahren. Ein solches Verfahren erlaubt es Opfern von Verletzungen von Rechten aus dem Sozialpakt Beschwerde beim Komitee der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte einzureichen. Voraussetzung ist dabei unter anderen, dass die Opfer den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft haben. Vergleichbare Beschwerdeverfahren wurden in den letzten Jahren für alle zentralen Menschenrechtstexte der Vereinten Nationen entwickelt und angenommen oder sind in der Phase der Ausarbeitung, wie derzeit bei der Kinderrechtskonvention.


Wie wichtig sind solche Verfahrensrechte für die Alltagsarbeit zum Recht auf Nahrung? Was könnte es Opfern bringen? Um die Bedeutung richtig einschätzen zu können ist es zunächst wichtig, einen kleinen Rückblick auf die Anerkennungsgeschichte der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu werfen. Als FIAN 1986 mit der Arbeit begann, war der Stand der Anerkennung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte noch sehr rudimentär. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 verabschiedet worden war, waren noch alle Menschenrechte, die WSK-Rechte und die bürgerlichen und politischen zusammen aufgenommen worden. Im beginnenden Kalten Krieg zerbrach dieser Konsens der Unteilbarkeit der Menschenrechte zunächst an der Systemfrage zwischen Ost und West. Ein einheitlicher Menschenrechtsvertrag konnte nicht mehr formuliert werden. Der Westen betonte die Bedeutung der bürgerlichen Freiheitsrechte, der Osten die zentrale Funktion sozialer Menschenrechte für die Menschenwürde. Aus diesem Grund wurden zwei bindende Menschenrechtsverträge erarbeitet, der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte und der Pakt über bürgerliche und politische Menschenrechte.


Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte ist das zentrale Dokument, auf das sich FIAN seit seiner Gründung bezieht. Darin erkennen die Vertragsstaaten erstmals rechtsverbindlich das Recht auf Nahrung an. Mittlerweile haben 160 Staaten den Pakt ratifiziert, fast die Hälfte nach der Gründung von FIAN.

Ratifiziert vor FIAN-Gründung: 87 Länder (abzüglich DDR und Jugoslawien 85) bis einschließlich 1986


Erst nach dem Ende des Kalten Krieges, bei der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993, konnte die Spaltung der Menschenrechte überwunden werden. Die Wiener Abschlusserklärung betonte die Unteilbarkeit und den Zusammenhang aller Menschenrechte für die Anerkennung der Menschenwürde. WSK-Rechte waren noch Ende der 80er Jahre kaum bei Juristen bekannt. Sie wurden vielfach als zu teure politische Ziele, als nicht finanzierbare Wunschliste bezeichnet, die nicht präzise genug beschrieben waren, um sie überhaupt einklagen zu können. Neben der Anerkennung waren zudem auch die Durchsetzungsinstrumente für die Menschenrechtsbereiche unterschiedlich stark ausgestattet. Für den Pakt über bürgerliche und politische Menschenrechte gab es parallel zur Verabschiedung des Paktes auch ein Individualbeschwerdeverfahren, für die WSK-Rechte nicht.

Wenn man gut zwanzig Jahre später Resümee zieht, muss man festhalten, dass die Anerkennung der WSK-Rechte in den letzten zwei Jahrzehnten Lichtjahre vorangekommen ist. Nur noch selten muss man das Recht auf Nahrung, auf Wasser oder auf Bildung so grundsätzlich verteidigen, wie dies in der Gründungszeit von FIAN nötig war. Inzwischen ist das Recht auf angemessene Nahrung zentraler Bestandteil der Argumentation, wenn über die Welternährungskrise debattiert wird. Der Anteil von FIAN und anderen auf WSK-Rechte spezialisierten Menschenrechtsorganisationen an dieser profunden Veränderung, die als großer Menschenrechtsbildungsprozess bezeichnet werden kann, ist kaum zu überschätzen. Als das Überwachungs-Komitee der Vereinten Nationen für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (WSK-Komitee) 1987 die Arbeit aufnahm, befassten sich nur sehr wenige zivilgesellschaftliche Gruppen überhaupt mit den WSK-Rechten. FIAN war zudem eine der ersten Organisationen, die konkrete Fall-bezogene Informationen zu einem der WSK-Rechte systematisch aufgearbeitet hat. Das FIAN-Motto der ersten Jahre "Fallarbeit, Fallarbeit, Fallarbeit" war hundertprozentig richtig. So konnte an vielen Fällen gezeigt werden, dass WSK-Rechte negative wie positive staatliche Verpflichtungen umfassen. Zum einen die Verpflichtung, keine Zwangsvertreibungen durchzuführen (Achtungspflicht), zum anderen aber auch die Verpflichtung, sich für positive Leistungen wie umverteilende Agrarreformen einzusetzen (Gewährleistungspflicht). Hinzu kommen die Schutzverpflichtungen, d.h. der Schutz von verletzlichen Bauerngruppen vor Großgrundbesitzern wie vor Agrarinvestoren etc..

FIANs reichhaltige Fallerfahrungen machten es der Organisation möglich, sich parallel zentral in der Lobbyarbeit um die Standardsetzung beim Recht auf Nahrung zu kümmern. In den letzten 25 Jahren ist es weitreichend gelungen, die in den 80er Jahren noch beklagte fehlende Präzision bei der Beschreibung der rechtlichen Norm und der Staatenpflichten zu überwinden. FIAN konnte so entscheidenden Einfluss nehmen auf die Formulierung des allgemeinen Rechtskommentars des WSK-Komitees zum Recht auf Nahrung (1999 verabschiedet) und auf die Erarbeitung der "freiwilligen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf angemessene Nahrung", die im November 2004 vom Rat der Welternährungsorganisation einstimmig angenommen wurden.

Besonders hartnäckig wurde der Streit über die Anerkennung der WSK-Rechte immer im Zusammenhang mit der geplanten Einführung eines Beschwerdeverfahrens durch ein Zusatzprotokoll geführt. Ein solches Zusatzprotokoll gilt zwar ohnehin nur für Staaten, die dieses zusätzlich zu dem Pakt ratifizieren, dennoch wurde die gut 15 Jahre andauernde Debatte zur zentralen Plattform der Auseinandersetzung über die Bedeutung, Relevanz, Rechtsnatur und den Charakter der sozialen Menschenrechte. Der Aushandlungsprozess, der von 1993 bis Dezember 2008 dauerte, wurde dadurch zu einem großen Menschenrechtsbildungsprozess über soziale Menschenrechte.


Fast 20 Jahre Lobbyarbeit zu einem Thema

FIAN hat um 1990 begonnen, sich systematisch für ein Beschwerderecht für WSK-Rechte einzusetzen. Das Hauptmotiv war, die instrumentelle Ungleichbehandlung von WSK-Rechten und bürgerlichen und politischen Rechten zu überwinden. Durch das Fehlen eines Beschwerdemechanismus konnte sich keine Weiterentwicklung des Rechtsverständnisses auf der Basis von Einzelfällen entwickeln. Eine intensive Auseinandersetzung mit einzelnen Fällen hätte es viel leichter gemacht, etwas über Inhalt und Staatenpflichten einzelner WSK-Rechte zu lernen. So bleiben im Grunde bis heute die Falldokumentationen von Menschenrechtsgruppen oder vereinzelte Gerichtsurteile zu WSK-Rechten in einigen Ländern zentrale Erfahrungsgrundlage für die Weiterentwicklung der Rechtsnormen. Dies wird sich ändern, wenn das 2008 von der Generalversammlung angenommene Beschwerdeverfahren nach der Ratifikation der ersten zehn Länder für diese dann in Kraft tritt.

Mit anderen Organisationen hatte FIAN das UN-Komitee für WSK-Rechte seit 1989 aufgefordert, sich für ein Individualbeschwerdeverfahren für die WSK-Rechte bei den Vorbereitungstreffen für die Wiener Menschenrechtskonferenz einzusetzen. Der damalige Vorsitzende des WSK-Komitees, der australische Völkerrechtler Philip Alston, brachte dieses Anliegen dann für das Komitee in den Vorbereitungsprozess ein. FIAN beteiligte sich an dem Vorbereitungsprozess als Nichtregierungsorganisation und machte das Beschwerdeverfahren zum zentralen Lobbyziel für die Wiener Menschenrechtskonferenz. Während dieser Konferenz war FIAN dann mit einer großen Gruppe von Ehrenamtlichen aus mehr als zehn Ländern präsent und machte aktive Lobbyarbeit für die Anerkennung von WSK-Rechten im Allgemeinen und für das Zusatzprotokoll im Besonderen. Im Ergebnis nahm die Abschlusserklärung von Wien das Individualbeschwerdeverfahren mit auf, allerdings nicht mit der klaren Forderung, ein solches zu entwickeln, sondern mit einem Prüfauftrag.

Der Auftrag wurde vom UN-Komitee für WSK-Rechte aufgegriffen. Zwischen 1995 und 1996 entwickelte es einen ersten Entwurf für ein Zusatzprotokoll. Dieser diente in den kommenden Jahren als Grundlage für politische Lobbyarbeit der Zivilgesellschaft, die sich im Rahmen der Vereinten Nationen für die Einrichtung einer Arbeitsgruppe stark machte, in deren Rahmen ein solches Zusatzprotokoll entwickelt und verhandelt werden sollte. FIAN war in diesen Jahren eine der zentralen Organisationen, die sich für die Einführung eines Zusatzprotokolls ausgesprochen hatten. Zur Koordinierung der weltweiten Lobbyarbeit wurde auf Anregung und unter Mitarbeit von FIAN ein globales Lobbynetzwerk aufgebaut, das "OP-ICESCR now"-Netzwerk mit einer gleich lautenden Kampagne (OP-ICESCR Now ist eine Abkürzung, die für "Optional Protocol to the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights - Zusatzprotokoll zum Sozialpakt - jetzt" steht). Über das Netzwerk gelang es in den folgenden Jahren, viele zivilgesellschaftliche Gruppen aus einer großen Zahl von Ländern mit einzubeziehen und einen Beschluss der Menschenrechtskommission (später des Menschenrechtsrates) hinzubekommen, eine Verhandlungsgruppe für ein solches Zusatzprotokoll einzurichten. Anschließend gelang es, die zivilgesellschaftlichen Inputs in dem dreijährigen Verhandlungsprozess über das Netzwerk abzustimmen und gemeinsam mit einer Stimme wirkungsvoll zu intervenieren. In der Zeit sind zudem zahlreiche Bildungsmaterialien und Argumentationshilfen entstanden, die die Allianz im offiziellen Verhandlungsprozess verwendet hat, um die oft stereotypen Widerstände gegen den Menschenrechtscharakter der WSK-Rechte zu überwinden. FIAN International ist bis heute aktives Mitglied in der OP-ICESCR-Allianz und gibt entsprechende Dokumente an die nationalen Sektionen weiter.

In Deutschland war und ist FIAN Deutschland einer der Hauptakteure für die nationale Lobbyarbeit zum Thema gewesen. Die Position der Bundesregierung war über viele Jahre ablehnend gegenüber einem Zusatzprotokoll, da die mit sozialen Fragen befassten Ministerien von der Angst bestimmt wurden, dass ein solches Beschwerdeinstrument zu "teuren" Verurteilungen für die Bundesregierung führen könnte. Erst ab 2007 gelang es durch die Lobbyarbeit, die Bundesregierung zu einer echten Unterstützung des Verhandlungsprozesses bei den Vereinten Nationen zu bewegen, ein großer Erfolg nach vielen Jahren der Arbeit.

Knapp 20 Jahre nach dem Start der Lobbyaktivitäten zum Thema konnte im Dezember 2008 gefeiert werden. Am Tag der Menschenrechte 2008 wurde das Zusatzprotokoll in der Generalversammlung angenommen - ein Meilenstein für die Unteilbarkeit aller Menschenrechte. Seitdem liegt das Zusatzprotokoll zum WSK-Pakt zur Ratifikation aus. Deutschland hatte in den letzten Monaten vor der Annahme in der Generalversammlung den Prozess politisch auch offiziell unterstützt. Dennoch fehlt bis heute die Ratifikation Deutschlands und Stimmen aus der Bundesregierung haben verlauten lassen, dass diese auch für die kommenden drei Jahre verschoben werden soll, um mehr Zeit für die Prüfung zu haben, was eine Ratifikation Deutschland möglicherweise kosten könnte. Noch immer sind die Besorgnisse und offensichtlichen Missverständnisse dem Instrument gegenüber riesig. Es wäre an der Zeit, die Unteilbarkeit der Menschenrechte auch auf der Ebene der Durchsetzungsinstrumente anzuerkennen. Die Reaktion zeigt: Lobbyarbeit benötigt einen langen Atem. FIAN Deutschland wird trotzt des großen Erfolges 2008 noch weiterarbeiten müssen, bis die Ratifikation gelingt.


Michael Windfuhr hat fast zwanzig Jahre für FIAN International gearbeitet (1988-2006), zuerst in der Fallarbeit zu Lateinamerika, später lange Zeit als UN-Repräsentant von FIAN und am Ende als Generalsekretär. Von 2006 bis 2010 hat er das Menschenrechtsreferat des Diakonischen Werkes geleitet. Seit Januar 2011 ist er stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin.

Kontakt:
windfuhr@institut-fuer-menschenrechte.de


Im Jahr 2008 wurde das Zusatzprotokoll zum WSK-Pakt von der UN-Generalversammlung verabschiedet. Drei Monate nach der Hinterlegung der zehnten Ratifizierungsurkunde wird das Zusatzprotokoll in Kraft treten.

Bislang wurde das Zusatzprotokoll lediglich von Ekuador (11. Juni 2010), der Mongolei (1. Juli 2010) und Spanien (23. September 2010) ratifiziert. Wann folgt Deutschland?


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 1/2011, April 2010, S. 4-6
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
Tel. 0221/702 00 72, Fax 0221/702 00 32
E-Mail: fian@fian.de
Internet: www.fian.de

Erscheinungsweise: drei Ausgaben/Jahr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2011