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BERICHT/179: Interview mit einem Wehrmachts-Deserteur (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 5 - Dezember 2007
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

"Ich wurde jahrzehntelang als Feigling, Vaterlandsverräter und Dreckschwein beschimpft"

Interview mit Ludwig Baumann, Wehrmachts-Deserteur und Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz


Ludwig Baumann ist einer der wenigen noch lebenden Wehrmachtsdeserteure. Wegen Fahnenflucht 1942 zum Tode verurteilt, überlebte er den Krieg - nachdem er zu einer langjährigen Zuchthausstrafe begnadigt worden war - nach Stationen in KZ, Wehrmachtsgefängnis und Strafbataillon schwer traumatisiert. Als Vorsitzender der Bundesvereinigng der Opfer der NS-Militärjustiz kämpfte er viele Jahre um Rehabilitierung und die, wie er sagt, "späte Würde" der Kriegsgegner, gegen die die Wehrmachtsjustiz 30.000 Todesurteile verhängt hatte, von denen über 20.000 vollstreckt wurden. Lange als "Vaterlandsverräter" und "Dreckschwein" beschimpft, wurde sein Urteil zusammen mit den anderen vom Bundestag im Jahr 2002 endlich aufgehoben. Im Gespräch mit 'ZivilCourage'-Chefredakteur Stefan Philipp Ende Oktober in Bremen schilderte Ludwig Baumann, der am 13. Dezember seinen 86. Geburtstag feiern kann, seine Erfahrungen.


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ZIVILCOURAGE: War dir die Kriegsgegnerschaft bei Deiner Geburt 1921 schon in die Wiege gelegt?

LUDWIG BAUMANN: Überhaupt nicht. Mein Eltern stammten aus sehr armen Verhältnissen, mein Vater hatte es aber mit großem Fleiß und Ehrgeiz in Hamburg als Tabakgroßhändler zu Besitz gebracht. Ich bin sehr bürgerlich erzogen worden und mit der Erwartung, es als einziger Sohn dem Vater nachzumachen und tüchtig und erfolgreich zu werden. Krieg und Militär waren kein Thema in meinem Elternhaus.

ZIVILCOURAGE: War dein Vater im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen?

LUDWIG BAUMANN: Ja, allerdings nicht im direkten Kriegseinsatz. Er war in Kiel und hatte dort 1918 auch den Matrosen-Aufstand miterlebt, den er allerdings belächelte. Er war kein zackiger Soldat, aber deutsch-national und hat vom Kaiser geschwärmt. Und obwohl er kein Nazi war, hat er bei der letzten freien Reichstagswahl die NSDAP gewählt, später allerdings sehr bereut, für Hitler gestimmt zu haben.

ZIVILCOURAGE: Hattest Du eine glückliche Kindheit?

LUDWIG BAUMANN: Nein. Es gab die hohen Leistungsanforderungen meiner Eltern, da ich aber Legastheniker bin, war meine Schulzeit eine einzige Qual mit stundenlangem, trotzdem erfolglosem Büffeln. Ich kam dann mit 14 Jahren in eine Maurerlehre. Mit 15 starb meine Mutter bei einem Verkehrsunfall, was für mich ein sehr schlimmes Erlebnis war und mich ziemlich aus der Bahn warf. Ich war dann nicht mehr artig, sondern begann zu opponieren - gegen meinen Vater, ich bin auch nicht in die Hitler-Jugend gegangen.

ZIVILCOURAGE: Wann hast du deine ersten militärischen Erfahrungen gemacht?

LUDWIG BAUMANN: Beim Reichsarbeitsdienst. Dort habe ich gelernt, welch schikanöse Behandlung es in einem militärischen Apparat gibt. Wie oft musste ich Strafwachen machen, zur Strafe auf dem Bauch robben, weil ich mich z.B. geweigert habe, die Stiefel von Vorgesetzten zu putzen.

ZIVILCOURAGE: Kurz nach Kriegsbeginn wurdest du 1940 Soldat in der Wehrmacht.

LUDWIG BAUMANN: Ich wurde zur Marine einberufen, war zur Grundausbildung in Belgien auf einem riesigen Truppenübungsplatz und kam danach an die französische Kanalküste. In Bordeaux wurde dann eine neue Hafenkompanie gegründet. Dafür mussten andere Einheiten dann jeweils ein, zwei Mann abgeben, da haben sie ihre schwierigsten Soldaten hingeschickt. Unser Kompaniechef in Bordeaux war ein Leutnant, der auf Beförderung hoffte. Wir waren aber ein wüster Haufen, und es hagelte Disziplinarstrafen.

ZIVILCOURAGE: Was war deine Aufgabe dort?

LUDWIG BAUMANN: Eigentlich hatten wir nichts zu tun. Die Alliierten hatten die Häfen von See aus blockiert, so dass es auch fast nichts zu bewachen gab. Ich habe mich mit französischen Hafenarbeitern angefreundet, mit denen ich oft beim Wein zusammensaß. Erst später erfuhr ich, dass viele von denen zum sich formierenden Widerstand gehörten.

ZIVILCOURAGE: Diese Freunde haben dir dann auch bei deiner Flucht im Juni 1942 geholfen. Wie kam es überhaupt zu diesem Entschluss?

LUDWIG BAUMANN: Ich wollte kein Soldat sein. Damals wie heute hat Soldat-sein mit Entwürdigung und Unfreiheit zu tun. Meine Abneigung dagegen hatte mit dem Arbeitsdienst begonnen und war nun nicht kleiner geworden. Dazu kam der Gedanke, was für einen Krieg wir da eigentlich führen. Die Wehrmacht überfiel die Länder Europas, eins nach dem anderen, schließlich der Krieg gegen die Sowjetunion, was für mich ein Schlüsselerlebnis für die Desertion war. In den Wochenschauen sahen wir, wie der Krieg geführt wurde, und dann kam der kalte Winter 1941. Da konnte man sich ausrechnen, dass Unzählige im Osten auf freiem Feld verhungern und erfrieren würden. In der Heimat wurden ja Kleidersammlungen veranstaltet, aber natürlich für die deutschen Soldaten, und nicht für die russischen Kriegsgefangenen. In meiner Einheit konnte man schon mit dem einen oder anderen über solche Gedanken reden. Das wollten wir, zwei weitere Kameraden, mit denen ich viel sprach, und ich, nicht länger mitmachen. Wir wollten nicht andere töten, und wir wollten auch selbst nicht getötet werden, sondern ganz einfach leben.

ZIVILCOURAGE: Hattest du zuvor schon etwas übers Desertieren gehört, sind aus deiner Einheit welche geflohen?

LUDWIG BAUMANN: Ich kann mich nicht erinnern, dass mal jemand abgehauen ist. Aber natürlich wurden wir von unserem Kompaniechef belehrt, z.B. mit dem Spruch Hitlers "Als Soldat kann man sterben, als Deserteur muss man sterben."

ZIVILCOURAGE: Du bist dann mit einem Freund geflüchtet. Wohin wolltet ihr?

LUDWIG BAUMANN: Unsere französischen Freunde hatten uns Adressen in Toulouse, das im unbesetzten Teil Frankreichs lag, und in Marokko gegeben.

ZIVILCOURAGE: Wie gestaltete sich eure Flucht konkret?

LUDWIG BAUMANN: Wir sind nachts in die Waffenkammer auf unserem Schiff eingebrochen und haben uns mit Pistolen und Munition bewaffnet. Im Hafen warteten unsere französischen Freunde mit einem Kleinlaster und Zivilkleidung. Sie brachten uns in die Nähe der innerfranzösischen Grenze, über die wir dann gehen wollten.

ZIVILCOURAGE: Ihr kamt aber nicht weit.

LUDWIG BAUMANN: Wir liefen einer deutschen Zollstreife in die Arme, die zufällig dort vorbeikam. Die hielten uns zwar für Franzosen, wir kamen ihnen aber verdächtig vor, und deshalb nahmen sie uns mit.

ZIVILCOURAGE: Ihr hättet euch wehren können.

LUDWIG BAUMANN: Ja, wir hätten sie erschießen können, die entsicherten Pistolen hatten wir in der Tasche. Aber wir konnten es nicht und haben es nicht.

ZIVILCOURAGE: War euch denn nicht klar, dass ihr als Deserteure mit dem Schlimmsten rechnen musstet?

LUDWIG BAUMANN: So genau nicht. Es gab diese Redensart, dass es noch keine richtige Fahnenflucht ist, wenn man weniger als 24 Stunden weg ist. Auf der Zollwache, wo wir zunächst inhaftiert waren, kamen wir auf die glorreiche Idee zu sagen, wir wollten zur französischen Fremdenlegion; das waren ja schließlich auch Soldaten, und das Vichy-Regime war ja mit Nazi-Deutschland befreundet ... dass die Legion de Gaulle unterstand, wussten wir gar nicht.

ZIVILCOURAGE: Wie bist du als Deserteur in der Militärhaft behandelt worden?

LUDWIG BAUMANN: Wir wurden in den Vernehmungen geschlagen und gequält. Sie wollten heraus bekommen, mit wem wir über unsere Fluchtabsicht gesprochen hatten und wer uns geholfen hatte. Das haben wir aber nicht verraten.

ZIVILCOURAGE: Du bist dann Ende Juni 1942 zum Tod verurteilt worden.

LUDWIG BAUMANN: Ja, nach nicht einmal einer Stunde Verhandlung stand das Urteil des Kriegsgerichts fest: Todesstrafe wegen "Fahnenflucht im Felde" und - absurd - zusätzlich 14 Monaten Gefängnis und Verlust der "Wehrwürdigkeit".

ZIVILCOURAGE: Du bist dann Ende August zu einer 12jährigen Zuchthausstrafe begnadigt orden, die nach dem Krieg abzusitzen gewesen wäre.

LUDWIG BAUMANN: Ja, aber von dieser Begnadigung habe ich erst Ende April 1943 erfahren. So lange saß ich in der Todeszelle und dachte jeden Morgen, wenn die Wachen kamen, dass sie mich zur Exekution abholen.

ZIVILCOURAGE: Warum wusstest du nichts von der Begnadigung?

LUDWIG BAUMANN: Ich weiß es nicht. Ich wurde jedenfalls erst am 29. April 1943 im Wehrmachtsgefängnis einem Hauptmann vorgeführt, der mir diese Gnadenentscheidung eröffnete und sich die Bekanntgabe von mir schriftlich quittieren ließ. Das war wohl eine zusätzliche Folter - die auch gewirkt hat: Mich haben diese Monate in der Todeszelle so traumatisiert, dass ich erst viel später aufgrund der Akten gesehen habe, dass der Zeitraum 10 Monate war. In meiner Erinnerung waren das lediglich wenige Monate gewesen, drei oder vier, wie ich dachte.

ZIVILCOURAGE: Deine Leidenszeit war damit aber noch nicht zu Ende?

LUDWIG BAUMANN: Nein, es folgten noch zwei schlimme Jahre bis zum Kriegsende. Wir wurden von Bordeaux ins zentrale Wehrmachtsgefängnis nach Torgau verlegt, waren unterwegs aber noch einige Wochen im KZ Esterwegen. In Torgau bin ich dann gleich an Diphterie erkrankt, kam in Quarantäne, hatte viele Monate Lähmungen und konnte nicht richtig laufen. Die Verhältnisse in Torgau waren schlimm. Als Neuzugang kam ich zu 160 anderen Gefangenen in die Kasematten, dort war alles nass und matschig, viele starben. Außerdem war das Reichskriegsgericht ab 1943 in Torgau und hat dort über 1.000 Todesurteile verhängt. Oft mussten wir bei den Erschießungen im Wallgraben oder in der Kiesgrube dabei sein.

ZIVILCOURAGE: Nach einem Jahr kamst du dann in ein Strafbataillon.

LUDWIG BAUMANN: Ja, im Osten, wo wir einfach als "Kanonenfutter" eingesetzt wurden, was die wenigsten überlebt haben. Ich wurde verletzt und kam bis kurz vor Kriegsende ins Lazarett nach Brünn, was mir wohl das Leben gerettet hat. Dort wurde ich von einem dienstverpflichteten tschechischen Arzt betreut, der mich stillschweigend so behandelt hat, dass meine Verletzung viel langsamer als normal ausheilte.

ZIVILCOURAGE: Der Krieg war dann zu Ende...

LUDWIG BAUMANN: ... und wir hatten gehofft, dass unsere Handlungen nun anerkannt werden. Wir wurden jahrzehntelang weiter nur als Feiglinge, als Dreckschweine, als Vaterlandsverräter beschimpft und bedroht.

ZIVILCOURAGE: Mit "wir" meinst du ihr als Deserteure.

LUDWIG BAUMANN: Ja, die wenigen überlebenden Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Aber das ist eben aus der Rückschau betrachtet, wir haben uns ja erst später getroffen. Zunächst musste jeder alleine für sich damit fertig werden.

ZIVILCOURAGE: Wie ging es dir?

LUDWIG BAUMANN: Ich war traumatisiert und bin dem Alkohol verfallen. Mein Vater hat das in Hamburg, wohin ich zurückgekehrt war, auch mit erleiden müssen, und ist vor Kummer gestorben. Ich habe dann seinen ganzen Besitz, er hatte den Tabakgroßhandel und mehrere Grundstücke und Häuser, mit anderen zusammen versoffen. Ich bin dann nach Bremen gekommen, habe meine Frau kennengelernt, aber dann doch weiter getrunken. Meine Frau ist dann 1966 bei der Geburt unseres sechsten Kindes gestorben - und erst von dann an habe ich die Verantwortung für mich und meine Kinder übernehmen können, die ich dann alleine großgezogen habe.

ZIVILCOURAGE: Durch die Friedensbewegung der 1980er Jahre wurde die Desertion zu einem öffentlichen Thema. Gar nicht weit weg von dem Ort in Bremen, wo du wohnst, wurde 1986 eines der ersten, wenn nicht überhaupt das erste Deserteur-Denkmal aufgestellt - und steht noch heute im Gustav-Heinemann-Bürgerzentrum.

LUDWIG BAUMANN: Bei der Einweihung war ich dabei, und das hat mein Leben auch verändert. Die Initiative ging damals von der Gruppe 'Reservisten verweigern sich' aus; die hatten ihre Wehrpässe zurückgegeben und dieses kleine Deserteur-Denkmal hergestellt. Ich bin als Zeitzeuge dazu gekommen. Dieses Denkmal hat dann für sehr viel Furore gesorgt.

Der damalige Bremer Bürgermeister Klaus Wedemeier wurde im "Weser-Kurier" so zitiert, dass er sich jedes Mal, wenn er zum Verteidigungsminister Manfred Wörner auf die Bonner Hardthöhe kam, anhören musste, das Denkmal müsse weg, sonst erhalte Bremen keine Rüstungsaufträge mehr. Da ist mir erst klar geworden, dass Desertion damals auch etwas mit heute zu tun hat. Hier in der Nähe ist eine Bundeswehrkaserne; Soldaten war es jahrelang verboten, das Gustav-Heinemann-Bürgerzentrum in Uniform zu betreten.

ZIVILCOURAGE: Du hast dich dann mit anderen Wehrmachts-Deserteuren getroffen, und ihr habt die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz gegründet, deren Vorsitzender du immer noch bist.

LUDWIG BAUMANN: Ja, im Oktober 1990 haben wir uns das erste Mal hier in Bremen getroffen, 37 alte Menschen, fast alle gebrechlich und teilweise gebrochen. Aber das ist auch kein Wunder, wenn du dein Leben lang kriminalisiert bist und bleibst, beschimpft wirst, keine Würde hast. Wir haben damals unseren gemeinsamen Kampf um Rehabilitierung, um Aufhebung der Urteile, um unsere späte Würde begonnen.

ZIVILCOURAGE: Erfolgreich, am 17. Mai 2002 hat der Bundestag Eure Verurteilungen aufgehoben.

LUDWIG BAUMANN: Ja, aber das war ein langer und mühsamer Kampf mit vielen Rückschlägen und weiteren Verleumdungen. Und Bündnispartnern wie der SPD und den Grünen, die unser Anliegen in ihrer Oppositionszeit unterstützt haben und dann, kaum an der Regierung, beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien mitgemacht haben.

ZIVILCOURAGE: Wie viele Mitglieder seid ihr heute in eurer Bundesvereinigung?

LUDWIG BAUMANN: Ungefähr 50, aber die meisten Deserteure sind mittlerweile verstorben, es ist nur eine Handvoll übrig geblieben.

ZIVILCOURAGE: Du wirst nun bald 86 Jahre alt, bist aber immer noch sehr aktiv und zu vielen Veranstaltungen, Diskussionen, Treffen mit Schulklassen etc. in ganz Deutschland unterwegs...

LUDWIG BAUMANN: ... und so lange ich noch kann, werde ich das auch weitermachen.

ZIVILCOURAGE: In Stuttgart hast du vor kurzem das dortige Deserteur-Denkmal mit eingeweiht. Freut dich das, dass es an immer mehr Orten solche Denkmale gibt?

LUDWIG BAUMANN: An sich bin ich nicht für Denkmale, aber so lange es überall Kriegerdenkmale gibt, auf denen die Soldaten Helden sind, so lange finde ich Deserteur-Denkmale gut.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 5 - Dezember 2007, S. 4-7
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
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KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2008