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BERICHT/228: Der entwicklungspolitische Ansatz unter kriegsähnlichen Bedingungen (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 20 - IV/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Der entwicklungspolitische Ansatz unter kriegsähnlichen Bedingungen
Chance für eine friedliche Entwicklung?

Von Herbert Sahlmann


Entwicklung braucht Frieden und Sicherheit. Frieden und Sicherheit sind nur zu schaffen, wenn die Menschen eine Entwicklungsperspektive haben.


Der afghanische Hintergrund

Afghanistan ist ein "Least Developed Country" (LDC): Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar/Tag, 70 % sind Analphabeten, das Land hat weltweit die höchste Kindersterblichkeitsrate, die Lebenserwartung beträgt nur 45 Jahre, die physische und soziale Infrastruktur ist nur rudimentär ausgebildet; Afghanistan hat eine Stammesgesellschaft mit den Paschtunen, den Tadschiken, den Usbeken und den Hazaras als den Hauptstämmen.

Afghanistan ist ein schwacher Staat: Eine staatliche Verwaltung ist in der Fläche kaum vorhanden, obwohl dort ca. 80 % der Afghanen leben; die Staatseinnahmen liegen unter 1 Milliarde US-Dollar; das Polizei- und das Justizwesen sind unterentwickelt.

Die Schattenwirtschaft umfasst über 80 % des Bruttoinlandsproduktes, davon sind 35 bis 40 % der Drogenwirtschaft zuzurechnen, das ist ein Mehrfaches der Staatseinnahmen; über 40 % der Afghanen sind arbeitslos.

Das Land hat für die Weltmacht USA geopolitisch eine strategische Lage zu Russland, China, Iran, dem indischen Subkontinent und zu dem erdölreichen Mittelasien und Kaspischen Meer.

Afghanistan ist ein rohstoffreiches Land mit Vorkommen an Erdöl, Erdgas, Steinkohle, Gold, Edel- und Halbedelsteinen, die aber wegen der mangelnden Infrastruktur, des Hindukusch-Gebirgsriegels und wegen der politischen Unsicherheit bisher kaum genutzt werden.

Afghanistan hat neben großen Wüsten- und Gebirgsflächen ein bedeutendes landwirtschaftliches Potenzial, das zwar nur etwa 12 % der Landesoberfläche umfasst, aber bisher nur etwa zur Hälfte landwirtschaftlich genutzt wird; trotz dieses Potenzials ist jetzt nach einem sehr harten Winter 2007/2008 und einer großen Dürre in diesem Jahr die Ernährung der Afghanen in großen Landesteilen nicht gesichert, nach UN-Angaben werden 300 Millionen Euro zum Import von Nahrungsmitteln benötigt.

Der politische Ansatz zur Stabilisierung

Nach Jahrzehnten von Okkupation und Bürgerkrieg wurde im Jahr 2001 die mehrjährige Taliban-Herrschaft mit massiver amerikanischer Unterstützung (Operation Enduring Freedom/OEF) durch die tadschikisch-usbekisch geführte Nord-Allianz beendet.

Ende 2001 begann in Bonn/Königswinter der so genannte Petersberg-Prozess zur Stabilisierung, Demokratisierung und Entwicklung Afghanistans, der zu dem so genannten Petersberg-Abkommen führte; die Taliban/Paschtunen waren daran allerdings nicht bzw. nur unzureichend beteiligt.


Die internationale Entwicklungspolitik

Nach Unterbrechung der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit Afghanistan während der sowjetischen Okkupation und der Taliban-Herrschaft, aber bescheidener zivil-gesellschaftlicher Weiterführung der Hilfe, gab es einen Neuansatz der staatlichen EZ für Afghanistan mit einer Reihe von Geberkonferenzen: 2002 in Tokio, 2004 in Berlin, 2006 in London mit dem "Afghan Compact" und der "Interim Afghan National Development Strategy" als Basis für die internationale Kooperation bis zum Jahr 2010.


Deutsche Entwicklungszusammenarbeit

Auf der Geberkonferenz in Tokio gab es eine deutsche EZ-Zusage in Höhe von 80 Millionen Euro jährlich bis 2010, davon jeweils 30 Millionen für den Polizeiaufbau; 2007 erfolgte eine Erhöhung der EZ auf 100 Millionen, und in diesem Jahr beträgt die EZ-Zusage 140 Millionen und 30 Millionen für Nahrungsmittelnothilfe. Von 2001 bis 2008 wurden insgesamt 840 Millionen EZ zugesagt, davon ist über die Hälfte abgeflossen. Bilaterale Schulden in Höhe von 74 Millionen wurden erlassen, ein Resterlass von 15 Millionen ist in Aussicht gestellt.

Im Herbst 2008 wurde das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung fortgeschrieben:

"Deutschland verfolgt mit seinem zivil-militärischem Engagement drei Ziele: 1. Wir unterstützen Afghanistan dabei, die Lebensverhältnisse der eigenen Bevölkerung zu verbessern; 2. Wir beteiligen uns an den Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft, regionale Stabilität und Sicherheit in einem schwierigen Umfeld zu gewährleisten; 3. Vor allem aber verteidigen wir unsere eigenen Sicherheitsinteressen, indem wir zur Eindämmung des weltweiten Terrorismus beitragen. Afghanistan darf nicht erneut zum Rückzugsraum des internationalen Terrorismus werden."

"Wichtige Ziele der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind, die Leistungsfähigkeit der Regierung, der Zivilgesellschaft und des Privatsektors zu erhöhen, die Infrastruktur wieder herzustellen und den Zugang zur Grundbildung für Kinder zu verbessern."

Seit 2002 stellen - international und mit Afghanistan abgestimmt - die folgenden Bereiche die Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan dar: Energieversorgung (insbesondere mit erneuerbaren Energien); Trinkwasserversorgung; Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung (vor allem Einkommensschaffung/Beschäftigung); Grundbildung.

Zusätzlich fördert Deutschland die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte, insbesondere die Verbesserung der Lage der Frauen und Mädchen, und unterstützt die Mechanismen der Friedenssicherung. Außerdem gibt es eine Förderung für Alternativen zum Mohnanbau und für die Bekämpfung der Korruption.

Aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit werden jährlich 20 Millionen für den von der Weltbank geführten "Afghanistan Reconstruction Trust Fund" bereitgestellt; daraus werden landesweit Projekte unterstützt und auch Staatsgehälter gezahlt.

Die deutsche EZ ist weitgehend auf den Norden, den Nordosten und auf Kabul konzentriert. 2,5 Millionen Einwohner von Kabul, Herat und Kunduz werden jetzt mit sauberem Trinkwasser versorgt.

Deutschland unterstützt darüber hinaus die "Afghan Investment Support Agency" (AISA) und die "First Microfinance Bank", die 130 Millionen Euro an 28.000 Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer ausgeliehen hat. Bei der AISA sind 5.000 Investoren mit 1,3 Milliarden US-Dollar registriert, die 150.000 Arbeitsplätze schaffen wollen. Eine Zuckerfabrik im Norden hat 500 Bauern eine Perspektive gegeben.

Im Bereich der Grundbildung sind 230 Schulen mit Ausstattung finanziert und Institute zur Lehrer- und Lehrerinnenausbildung aufgebaut.


Die Entwicklungserfolge seit 2002

Von über 5 Millionen afghanischen Flüchtlingen sind über 3 Millionen in ihre Heimat zurückgekehrt.
Das Wachstum in städtischen Zentren ist dynamisch (2005: 14 %, 2006: 5 %).
Das Pro-Kopf-Einkommen und die Steuereinnahmen sind deutlich gestiegen, erreichen aber noch nicht das zur Grundversorgung notwendige Niveau.
Die Grundbildung und die Grundgesundheitsversorgung auch für Mädchen und Frauen ist verbessert, aber noch nicht flächendeckend sichergestellt.
Rund 4000 Kilometer Straßen wurden saniert und ausgebaut.
Mehr als die Hälfte der verminten Flächen in Afghanistan wurden geräumt.

Die heutigen Entwicklungsprobleme

Es gibt nur bescheidene Teilerfolge bei der Demobilisierung, der Entwaffnung und der Reintegration der Kampfgruppen, dem so genannten DDR-Prozess in Afghanistan.

Nach einer positiven Entwicklung der Sicherheitslage vom Jahr 2002 bis etwa zum Jahr 2005 gibt es seitdem in Afghanistan vor allem im Süden und Südosten wieder eine drastische Zunahme der Sicherheitsprobleme, die seit dem Jahr 2007 auch den Norden und Westen des Landes erreicht haben.

Eine große Rechtsunsicherheit wegen des unzureichenden Polizei- und Justizsystems lähmt das Land.

Die soziale und physische Infrastruktur, also vor allem das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, das Transport- und das Lagerwesen sind weithin mangelhaft oder allzu oft nicht vorhanden.

Die Drogenwirtschaft ist seit 2002 ausgeufert und liefert über 80 % des Rohopiums für den Weltheroinmarkt.

In der Fläche, wo 80% der Afghanen wohnen, gibt es kaum Verwaltungsstrukturen.

Die Korruption ist bis in die Spitzen der Regierung und weit im Land verbreitet.

Politik und Militär auf Geber- und Nehmerseite haben unrealistische Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt worden sind und die damit zur Frustration bei den Afghanen und zur Entfremdung vom Westen beigetragen haben.

Die Glaubwürdigkeit des Westens hat bei der afghanischen Bevölkerung erheblich gelitten unter den Menschenrechtsverletzungen und den Doppel-Standards der westlichen Führungsmacht und wegen der hohen zivilen Verluste durch die Nato-Militäreinsätze im Süden und Südosten.

Auch die gewählte afghanische Führung hat bei der afghanischen Bevölkerung wegen ihrer begrenzten Regierungsfähigkeit, wegen der Korruption und der mangelnden Effizienz viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren.

Die Paschtunen, etwa 45 % der afghanischen Bevölkerung, fühlen sich kulturell nicht ernst genommen, an der Macht unzureichend beteiligt und von der Entwicklungszusammenarbeit weithin ausgeschlossen.

Die zentralistischen Ansprüche der Karsai-Regierung haben die traditionellen lokalen Machthaber gegen die Regierung aufgebracht.

Lösungsansätze für diese Probleme

Wenn der Westen den Terrorismus wirksam bekämpfen will, sollte er dabei sechs Regeln beachten: 1. Ein vertretbares und erreichbares Ziel setzen. 2. Nach den eigenen Prinzipien leben. 3. Den Feind genau kennen. 4. Die Terroristen von ihren Gemeinschaften trennen. 5. Verbündete im Kampf gegen den Terrorismus suchen. 6. Geduld haben und das Ziel im Blick behalten.

Die Bundesregierung und die Gebergemeinschaft sollten mindestens ebenso viele Mittel für die Entwicklung und die Polizeiausbildung wie für die militärische Sicherung bereitstellen.

Der Westen kann seine Glaubwürdigkeit nur wiederherstellen, wenn er sich menschenrechtskonform verhält, die zivilen Kollateralschäden der Militäroperationen drastisch verringert, das "do no harm Prinzip" beachtet und wenn er den vollen Konsens mit den gewählten afghanischen Vertretern sucht und beachtet.

Die Nato muss eine Exit-Strategie für die Militärintervention entwickeln, die das eigenstaatliche afghanische Sicherheits- und Entwicklungshandeln sicherstellt und zugleich einen klaren, möglichst kurzen Zeithorizont vorgibt. Dabei könnte bis zur Erreichung der vollen eigenstaatlichen afghanischen Sicherheitshandlungsfähigkeit auch daran gedacht werden, verbliebene westliche Truppeneinheiten UN-Offizieren zu unterstellen und - zeitlich befristet - Unama (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) mit umfangreicheren Aufgaben zu betrauen und entsprechend mit mehr Mitteln zu versorgen.

Gleichzeitig muss die zivile Konfliktbearbeitung in Afghanistan von der afghanischen Regierung und von den Geberländern einen viel höheren Stellenwert mit einer entsprechenden Personal- und Finanzausstattung erhalten. Obwohl der Deutsche Entwicklungsdienst, die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die deutschen politischen Stiftungen und eine Reihe von Nicht-Regierungsorganisationen in diesem Bereich bereits erfolgreiche Arbeit in Afghanistan geleistet haben und leisten, hat die Bundesregierung in ihrem Afghanistan-Konzept das Potenzial und die Leistungen der zivilen Konfliktbearbeitung durch den Zivilen Friedensdienst nicht einmal erwähnt!

Herbert Sahlmann war Repräsentant des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Provincial Reconstruction Team Kunduz im Norden Afghanistans und ist Vorstandsmitglied der Stiftung Nord-Süd-Brücken. Dieser Text ist das Manuskript seines Vortrags bei der Tagung "Afghanistan und Zivile Konfliktbearbeitung", die am 16. November in Köln vom Bildungswerk und dem Landesverband der DFG-VK in Nordrhein-Westfalen sowie der DFG-VK-Gruppe Köln veranstaltet wurde.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 20, IV/2008, S. 36 - 38
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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Internet: www.forum-pazifismus.de

Erscheinungsweise: in der Regel vierteljährlich
in der zweiten Quartalshälfte.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2009