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BERICHT/230: Der Gaza-Krieg - Hintergründe jenseits von Kassam-Raketen (Zivilcourage)


ZivilCourage Nr. 1 - Februar/März 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Der Gaza-Krieg
Hintergründe jenseits von Kassam-Raketen

Von Clemens Ronnefeldt


Die vorläufige Bilanz des Gazakrieges lautet: 1.300 Tote auf palästinensischer Seite, dazu etwa 5.500 Verletzte und Schäden in Höhe von etwa 3 Milliarden US-Dollar. Auf israelischer Seite: 10 getötete israelische Soldaten, davon vier von ihren eigenen Kameraden versehentlich umgebracht, vier getötete Zivilisten durch Raketenbeschuss, einige wenige Verletzte sowie Sachschäden in nicht genau zu beziffernder Höhe.

Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter sprach am 8. Januar in der Washington Post von einem "unnötigen Krieg", der Jerusalemer Chefkorrespondent des US-Magazins Time stellte am selben Tag die Frage: "Kann Israel seinen Angriff auf Gaza überleben?"


Zur Vorgeschichte: Die versäumte Dialogaufnahme mit Hamas

Das Buch der deutschen Professorin Helga Baumgarten "Hamas. Der politische Islam in Palästina" (München 2006) liest sich aus der Sicht der Bombardierungen im Gazastreifen und der Raketen auf Israel wie eine lange Kette versäumter Möglichkeiten zum Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern. In ihrer äußerst differenzierten Untersuchung weist die Autorin auf wenig bekannte Sachverhalte hin, die den Pauschalvorwürfen, die Hamas erkenne Israels Existenzrecht nicht an und wolle das Land zerstören, die Grundlage entziehen.

Die "Gemeinde der Muslime in Jordanien und Palästina", aus der die Hamas hervorging, wurde von der israelischen Regierung finanziell unterstützt: "David Shipler, ehemaliger Korrespondent der New York Times in Israel, schreibt in seinem Buch über diese Periode (Anm. d. Autors: 1967-1975, gemeint ist die sog. "Moschee-Bau-Periode"), dass ihm der damalige israelische Militärgouverneur in Gaza, Brigadier General Yitzhak Segev, erzählt habe, wie er die islamische Bewegung dort als Gegengewicht gegen die PLO und die Kommunisten finanziert habe." (H. Baumgarten, S.32)

Die ersten Selbstmordanschläge der 1987 gegründeten Hamas (arabisch: Eifer) erfolgten nach dem Massaker 1994 in Hebron, bei dem der Arzt Baruch Goldstein in israelischer Militäruniform 29 Muslime in der Abrahams-Moschee ermordet hatte. Diese erste Hamas-Anschlagsserie endete vorläufig im März 1997 mit Attentaten in Tel Aviv und Jerusalem. Danach gab es heftige interne palästinensische Auseinandersetzungen über Selbstmordanschläge, die nach der Freilassung von Scheich Ahmad Yasin bis März 2001, also über einen Zeitraum von vier Jahren und ein halbes Jahr nach dem Tempelbergbesuch Ariel Scharons, gestoppt wurden. Im März 2004 wurde Ahmad Yasin, der Gründer der Hamas, durch eine israelische Bombe ermordet, kurze Zeit später ebenso sein Nachfolger Dr. Rantisi.

Während der Amtszeit des israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu erfolgte 1997 ein Mordanschlag auf den zu der Zeit im Exil in Damaskus lebenden Hamas-Führer Khalid Maschaal: "Der israelische Geheimdienst Mossad versuchte am 25. September (Anm. d. Autors: 1997), Kahlid Maschaal, den Chef des Hamas-Politbüros, in Amman mit Nervengift zu ermorden. Der Anschlag schlug fehl, Maschaal konnte rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht werden, und König Hussein von Jordanien zwang Netanyahu, das notwendige Gegengift zu liefern, um Maschaal zu retten. In einem komplexen Arrangement von quid pro quo (Anm. d. Autors: dieses für das) entließ nun Israel Scheich Ahmad Yasin aus dem Gefängnis und brachte ihn nach Amman, König Hussein erlaubte die Rückkehr der acht Mossad-Agenten, die in den Anschlag verwickelt waren bzw. ihn ausgeführt hatten, nach Israel. Eine Reihe von palästinensischen und jordanischen Gefangenen wurden ebenfalls freigelassen. Der jordanische Monarch erzwang diese Arrangements aus zwei Gründen. Erstens wollte er Israel klar machen, dass die Bestimmungen des israelisch-jordanischen Friedensvertrages einzuhalten waren. Diese verboten jeden Einsatz von Geheimdiensten im jeweiligen Nachbarstaat. Zweitens hatte Hussein Netanyahu genau zwei Tage vor dem Attentat gegen Maschaal, am 23. September, schriftlich informiert, dass die Hamas zu einem Dialog mit Israel und zu einem Stopp der Selbstmordattentate bereit sei." (H. Baumgarten, S. 128f)

Helga Baumgarten schreibt: "Die Antwort der Hamas auf die Forderung nach Gewaltverzicht im israelisch-palästinensischen Konflikt ist die Einhaltung eines Waffenstillstandes, den die Hamas selbst seit Anfang 2005 akribisch eingehalten hat. Am deutlichsten hat Kahlid Maschaal, Chef des Hamas-Politbüros, diese Position in einem Artikel ausgesprochen, der am 31. Januar (Anm. d. Autors: 2006) im englischen Guardian und am 1. Februar in der Los Angeles Times, allerdings unter einem anderen Titel, publiziert wurde. Der Schlusssatz formuliert eindeutig: "...Wenn sie bereit sind, das Prinzip eines langfristigen Waffenstillstandes anzunehmen, sind wir bereit, dessen Modalitäten zu verhandeln. Die Hamas reicht allen, die wirklich einen Frieden auf der Grundlage der Gerechtigkeit wollen, ihre Hand zu Frieden."

Nach dem Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 erklärte der frisch gewählte Regierungschef Ismail Haniyeh am 26. Februar in einem Interview in der Washington Post "Wenn Israel erklärt, dass es dem palästinensischen Volk einen Staat ermöglicht und ihm seine Rechte zurückgibt, dann sind wir bereit, Israel anzuerkennen." (H. Baumgarten, S. 186)

Wenige Tage vorher, am 16. Februar, sagte Azzam Tamimi, Leiter des Londoner Instituts für Islamische Politische Theorie, der die Hamas in Medienfragen berät, in einem Interview mit der Jerusalem Post, "dass die Hamas-Führung in Beirut und Damaskus an einer Änderung der Charta arbeite. Diese solle gemäßigter und ohne antisemitische Formeln und Argumentationsmuster in ein wirkliches politisches Dokument umgeschrieben werden. "Der ganze Unsinn über die Protokolle der Weisen von Zion und die Verschwörungstheorien, all dieser Mist muss heraus. Er hätte eigentlich von Anfang an nicht auftauchen dürfen". (Anm d. Autors: Bei den Protokollen der Weisen von Zion handelt es sich um ein seit Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitetes antisemitisches Pamphlet, das eine jüdische Weltverschwörung belegen soll.) Über die Protokolle der Weisen von Zion sagt Tamini: "Niemand mit Selbstrespekt sollte in eine solche Falle geraten, denn dieses Buch ist eine absolute Fälschung". Allerdings, so meinte er, würde sich die Hamas nach den Wahlen 2006 sicher noch mit einer Änderung der Charta zurückhalten, um nicht den Eindruck zu erwecken, dem Druck aus dem Westen nachgegeben zu haben." (II Baumgarten, S. 65)

Vor dem Hintergrund der Eskalation am Jahreswechsel 2008/2009 hätte die Führung der Hamas sehr viel Angriffsfläche vermeiden können, wenn sie sich zu einer offiziellen Korrektur ihrer Charta hätte durchringen können.


Waffenlieferung zum Sturz der Hamas

Welch hohes Risiko die israelische Regierung für die Beseitigung der Hamas in Kauf zu nehmen bereit war, zeigte ein Interview im US-Magazin Vanity Fair mit Mohammed Dahlan, dem ehemaligen Sicherheitschef der Fatah, über das die Süddeutsche Zeitung am 7. März 2008 berichtete: "In dem Gespräch behauptet der Mann, der sich schon früh bester Kontakte in die USA rühmte, die Regierung von George W. Bush habe seine Truppe aufgerüstet, um einen palästinensischen Bürgerkrieg zu provozieren. Nur leider habe sich die Strategie als Bumerang erwiesen, weil nicht die Fatah, sondern die Hamas bei diesem Kampf schließlich siegte in Gaza. Es ist kein Geheimnis, dass die Regierung in Washington den Sicherheitskräften der Fatah Geld für Waffen und Training zukommen ließ. Das US-Magazin aber behauptet nun, ein Teil der Mittel sei wegen der Widerstände im amerikanischen Kongress auf Umwegen geflossen - über arabische Staaten. Im Dezember 2006 passierten demnach vier ägyptische Lastwagen die von Israel kontrollierte Grenze zum Gaza-Streifen. Die Fracht: 20.000 ägyptische Gewehre und reichlich Munition für Dahlans Leute von der Fatah. Interessant daran ist auch: Waffenlieferungen nach Gaza mussten von Israel genehmigt werden. Ebenfalls im Dezember 2006 waren mehrere diplomatische Emissäre aus Europa in Gaza unterwegs - mit ganz anderen Absichten. Sie wollten einen palästinensischen Bruderkrieg abwenden, weshalb sie mit Nachdruck auf eine Einheitsregierung von Fatah und Hamas drängten". So weit die Süddeutsche Zeitung am 7. März 2008 unter der Überschrift "Feinde schaffen mit Waffen".

Bei ihrer Bodeninvasion sind israelische Soldaten vermutlich von Hamas-Kämpfern mit ägyptischen Gewehren in den Händen bekämpft werden, die von der US-Regierung und arabischen Ländern bezahlt und von der israelischen Regierung per Genehmigung in den Gazastreifen gebracht wurden.


UN-Sonderberichterstatter Falk zum Bruch der Waffenruhe zwischen Hamas und Israel

Der UN-Sonderberichterstatter Richard Falk, US-Amerikaner und ehemals Professor für Internationales Recht an der Universität in Princeton, derzeit UN-Sonderbeauftragter für die Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, hat sich sehr kritisch zu der israelischen Position im Gazakonflikt geäußert. Er hat bereits Anfang Dezember 2008 einen internationalen Strafgerichtshof gefordert, um gegen die israelische Führung wegen möglicher Verletzungen des internationalen Kriegsrechts zu ermitteln. Er tat dies, weil er in der Abriegelung des Gazastreifens "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sah.

In einer lokalen US-Zeitung schrieb Falk den Artikel "Die Gaza-Katastrophe verstehen"
(http.//www.huffingtonpost.com/richard-falk/understanding-the-gaza- ca_b_154777html, dt. Übersetzung: A. Schneider) und darin: "Der Hamas wird die Schuld für den Zusammenbruch des Waffenstillstands durch ihre angebliche Weigerung, ihn zu erneuern, sowie durch die Zunahme der Raketenangriffe zugeschoben. Die Wirklichkeit ist allerdings weniger eindeutig. Es gab keinen nennenswerten Raketenbeschuss aus Gaza während des Waffenstillstandes, bis Israel am 4. November einen Angriff gegen angeblich palästinensische Militante in Gaza durchführte, bei dem mehrere Palästinenser getötet wurden. In dem Moment wurde der Raketenbeschuss aus Gaza intensiviert. Außerdem hat die Hamas bei mehreren öffentlichen Gelegenheiten dazu aufgerufen, den Waffenstillstand zu verlängern - Aufrufe, die nie anerkannt, geschweige denn durch israelische Regierungsstellen aufgegriffen wurden. Darüber hinaus ist die Zuweisung der Verantwortung für alle Raketenangriffe an die Hamas auch nicht überzeugend. Eine Vielfalt unterschiedlicher Milizen operiert in Gaza; manche davon, wie die Fatah-unterstützte Al-Aqsa-Märtyrerbrigade, sind gegen die Hamas und könnten sogar Raketen abfeuern, um israelische Vergeltung zu provozieren oder zu rechtfertigen. Gut bestätigt ist die Tatsache, dass, als die von den USA unterstützte Fatah Gazas Verwaltungsstruktur kontrollierte, sie genauso wenig in der Lage war, die Raketenangriffe zu verhindern, trotz konzertierten Bemühungen, dies zu tun."

In der israelischen Zeitung Haaretz war am 18. Dezember 2008 zu lesen, die Hamas habe sogar Angehörige der "Islamic Djihad"-Miliz verhaftet, die einzelne Raketen auf Israel geschossen hatten.
(http.//haaretz.com/hasen/spages/1047494.html)

Im Februar des Vorjahres waren 257 Raketen auf israelisches Gebiet abgeschossen worden, im Mai noch 149, im Juni dann 87, bevor am 18. Juni die Waffenruhe zwischen Israel und Hamas in Kraft trat. Im Juli flog eine Rakete, im August wurden acht gezählt, im September eine, im Oktober zwei. Nach der Invasion der israelischen Armee vom 4. November folgte im November wieder ein Hagel von 126 Raketen. Diese Zahlen veröffentlichte das israelische Außenministerium bis Kriegsbeginn auf seiner Website (vgl. Alain Gresh, Verblendet in Gaza, in: Le Monde Diplomatique, Januar 2009, Berlin, S. 1; Knut Mellenthin, Israel braucht Hamas, junge Welt, 14.1.2009).

Seit Beginn der Raketenabschüsse vor etwa acht Jahren verloren insgesamt 15 Israelis ihr Leben durch Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen. 2007 gab es einen Selbstmordanschlag in Eilat mit drei Toten Israelis und 2008 einen Suizid-Anschlag mit einer toten Israelin in Dimona (vgl. www.btselem.org/english/).


Hintergrundfolie: Wahlen in Israel und Rehabilitierung für den Libanonkrieg 2006

Richard Falk folgert: "Dieser Hintergrund legt nahe, dass Israel seine verheerenden Angriffe seit dem 27. Dezember lancierte, nicht nur um die Raketenangriffe zu stoppen oder zu vergelten, sondern auch aus einer Reihe nicht anerkannter Gründe. Es war schon seit mehreren Wochen vor dem israelischen Angriff zu erkennen, dass die israelische politische und militärische Führung die Öffentlichkeit auf eine militärische Großoffensive gegen die Hamas vorbereitete. Der Zeitpunkt des Angriffs scheint durch eine Reihe von Überlegungen gewählt worden zu sein: Vor allem das Interesse der politischen Rivalen, Verteidigungsminister Ehud Barak und Außenministerin Tzipi Livni, daran, ihre Härte vor den für Februar festgelegten - und nun eventuell bis zu einem Ende der militärischen Operationen verschobenen - nationalen Wahlen zu demonstrieren. Solche Kraftbeweise sind ein Charakteristikum vergangener Wahlkampagnen gewesen, und besonders in dem gegenwärtigen Fall wurde die derzeitige Regierung erfolgreich durch den notorisch militaristischen israelischen Oppositionspolitiker Benjamin Netanyahu angefochten, wegen ihrer angeblichen Unfähigkeit, die Sicherheit aufrecht zu halten. Solche wahlbedingte Motivation wurde durch den kaum verborgenen Druck der militärischen Befehlshaber verstärkt, die Gelegenheit zu ergreifen, um die Erinnerung an den verheerenden Libanonkrieg 2006 zu tilgen. Dieser hatte sowohl den Ruf Israels als Militärmacht befleckt wie auch zu einer weit verbreiteten internationalen Verurteilung Israels für die schwere Bombardierung ungeschützter libanesischer Dörfer, die unverhältnismäßige Gewalt und den verbreiteten Einsatz von Splitterbomben gegen dicht bevölkerte Gebiete geführt."


Israelische Befindlichkeit vor dem Angriff

Der UN-Sonderbeauftragte versucht in seinem Beitrag, auch die innerisraelische Situation vor dem Angriff darzustellen: "Respektierte konservative israelische Kommentatoren gehen noch weiter. Zum Beispiel verknüpfte der prominente israelische Historiker Benny Morris vor einigen Tagen in der New York Times die Gazakampagne mit eine tiefer liegenden Reihe von Befürchtungen in Israel, die er mit der dunklen Stimmung vor dem 1967-er Krieg verglich, als sich die Israelis stark bedroht fühlten durch arabische Mobilisierung an ihren Grenzen. Morris behauptet, dass, trotz des israelischen Wohlstands und der relativen Sicherheit der letzten Jahre, mehrere Faktoren Israel dazu gebracht haben, kühn gegen Gaza vorzugehen: Die angenommene, fortgesetzte Weigerung der arabischen Welt, die Existenz Israels als eine feststehende Gegebenheit anzuerkennen; die aufrührerischen, durch Mahmoud Ahmadinedschad ausgesprochenen Drohungen, zusammen mit der angenommenen Absicht Irans, sich Kernwaffen zu verschaffen; die verblassende Erinnerung an den Holocaust zusammen mit der wachsenden Sympathie für die Palästinenser im Westen, und die Radikalisierung der politischen Bewegungen an den Grenzen Israels in Form von Hamas und Hisbollah. Insgesamt argumentiert Morris, dass Israel versuche, durch die Vernichtung der Hamas in Gaza eine breitere Botschaft an die Region zu senden: Dass es vor nichts zurückschrecken wird, um seinen Anspruch auf Souveränität und Sicherheit aufrecht zu halten." Soweit Richard Falk.

Am 18. Januar veröffentlichte die Jerusalem Post den Beitrag "Die Vier-Milliarden-Dollar-Gelegenheit vor der Gazaküste", wo im Jahre 2000 ein größeres Erdgasfeld entdeckt wurde. Der Wirtschaftskorrespondent der Zeitung, Matthew Krieger, argumentierte darin, dass die Hamas nach dem jüngsten Krieg ausreichend geschwächt sei, um ihren Anspruch auf die Erdgasvorkommen als Teil eines Waffenstillstandes aufzugeben.
(www.jpost.com/servlet/Satellite?cid= 1232265973735&pagename=JPost% 2FJPArticle%2FshowFull)

Alle bisher genannten Motive sind vermutlich nicht annähernd so ausschlaggebend gewesen für die Entscheidung der israelischen Führung zur Bombardierung des Gazastreifens wie der bisher verpasste oder - nach Angaben der New York Times - von der US-Regierung verhinderte Krieg Israels gegen Iran.


Der Gazakrieg als Stellvertreterkrieg gegenüber Iran

Am 18. Juli 2008 veröffentlichte Benny Morris in der New York Times einen Artikel, in dem er u.a. schrieb: "Die Iraner werden - sei es aus ideologischen Gründen oder aus Angst vor einem nuklearen Präventivschlag der Israelis - jede von ihnen gebaute Bombe einsetzen. Darum ist ein israelischer Nuklearschlag, der die Iraner an ihren letzten Schritten zu einer Bombe hindert, wahrscheinlich. Die Alternative wäre, es zuzulassen, dass Teheran seine Bombe hat. So oder so wäre in jedem der beiden Fälle ein nahöstlicher Nuklear-Holocaust vorherbestimmt." (www.nytimes.com/2008/07/18/opinion/18morris.html), dt. Übersetzung: E. Rohlfs)

Am 21. Juli 2008 berichtete die israelische Zeitung Haaretz, dass der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak bei seinem USA-Besuch Anfang August um Tankflugzeuge des Typs Boeing 767 gebeten habe, damit die lediglich sieben im Besitz der israelischen Luftwaffe sich befindenden betankbaren Kampfflugzeuge bei Fern-Operationen in der Luft betankt werden könnten - und damit ihre Reichweite bis nach Iran und zurück nach Israel reichen würde. Die US-Regierung verweigerte den Kauf, weil sie - so Haaretz - "fürchtete, solch eine Transaktion könnte als Unterstützung für einen israelischen Angriff auf Iran interpretiert werden." (www.haaretz.com/hasen/spages/1013735.html, dt. Übersetzung: E. Rohlfs)

Die US-Regierung verweigerte bisher ebenfalls die Überflugrechte für israelische Kampfflugzeuge über den Irak. Gleichzeitig konnte Iran aus Russland importiertes Flugabwehrraketen-Zubehör in Empfang nehmen, allerdings bisher noch nicht die Raketen selbst, die neben den bereits gelieferten russischen Tor-M-1-Raketen als zusätzliche effektive Waffen gegen US- wie auch gegen israelische Angriffe gelten: "Es gibt Anzeichen, dass die Installation der S-300 in Iran bereits vor zwei Wochen begonnen hat. ... Ein hoher israelischer Emissär, der sofort nach Moskau eilte, erreichte offenbar nichts. Wie es aus anderen Quellen heißt, wollen die Russen angeblich S-300 auch um den syrischen Hafen Tartus stationieren, um diesen für ihre Schiffe zu sichern." (Süddeutsche Zeitung, 23.12.2008)

Mit der baldigen Inbetriebnahme des Reaktors in Busher läuft zudem die Zeit für einen Präventivschlag ab; nach dem Anlaufen des Atomkraftwerkes würden US-Soldaten in Irak und Afghanistan bei einer Bombardierung einem radioaktiven Fallout ausgesetzt. Barak Obama wurde für seine signalisierte Dialogbereitschaft gegenüber Iran von israelischer Seite bereits heftig kritisiert. Die israelische Führung erkannte spätestens am 4. November 2008, dass mit der Wahl des neuen US-Präsidenten die notwendige Unterstützung für einen israelischen Angriff auf Iran in absehbarer Zeit nicht zu bekommen sein wird.

Im engen Zeitfenster vor dem Amtsantritt von Barak Obama war der am 27. Dezember gestartete Nahost-Krieg eine der letzten Möglichkeiten der israelischen Führung, Iran, dessen regionale Interessenwahrnehmung über Hisbollah und Hamas direkt bis an die Grenzen Israels reicht, eine indirekte "Abschreckungs-Botschaft" zu senden - mit furchtbaren Konsequenzen für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen.

Am 14. Januar besuchte der israelische Präsident Shimon Peres die Militärbasis Tzeelim, um sich vor der internationalen Presse bei israelischen Soldaten für deren Gaza-Einsatz zu bedanken. "Nach seiner Ansprache stellte er sich den Fragen der Reservisten, die ihre Familien und ihre Arbeit verließen, um in den Krieg zu ziehen. Sie wollten wissen, ob ihr Einsatz denn auch Sinn mache". "Ist es denn sicher, dass die Hamas nach dem Krieg nicht mehr operationsfähig ist?", fragte ein Soldat seinen Präsidenten. "Oder wird es so sein wie mit Hisbollah, die trotz des Kriegs 2006 heute noch weiter existiert und eine Bedrohung Israels ist?" Die Antwort von Shimon Peres lautete: "Hier geht es nicht um Hamas oder Hisbollah. Hier geht es um den Iran." (alle Zitate aus: www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29539/1.html)

Richard Falk bilanziert: "Zwei Schlüsse sind daraus zu ziehen: Die Menschen in Gaza werden streng bestraft aus Gründen, die weitab von den Raketen und der Frage der Grenzsicherheit liegen, scheinbar um die Wahlchancen der gegenwärtigen Führer zu verbessern, denen jetzt eine Niederlage bevorsteht, und um andere in der Region zu warnen, dass Israel übermächtige Gewalt einsetzen wird, wann immer seine Interessen bedroht sind."


Anmerkungen zu regionalen und geopolitischen Hintergründen

Vor allem die Regierungen in Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien unterstützen überwiegend die Fatah im Bruderkampf gegen Hamas, weil sie den wachsenden Einfluss Irans in der Region eindämmen möchten - wenngleich auch vor allem Ägypten und Saudi-Arabien Versuche zur Beilegung des innerpalästinensischen Bruderkrieges unternommen haben. Israel wusste schon vor dem Angriff, dass sich der Protest aus den genannten arabischen Nachbarstaaten beim Sturz der Hamas in Grenzen halten würde. Die Operation "Gegossenes Blei" hat so auch zu einer Spaltung innerhalb der arabischen Liga geführt, ebenso zu einer weiteren Verschärfung der Spannungen zwischen dem schiitisch-persischen Iran und den beiden wichtigsten sunnitisch-arabischen Ländern der Region, Saudi-Arabien und Ägypten. Die Regierung in Kairo möchte nicht in die "israelische Falle" tappen und durch die Öffnung der Rafah-Grenze die Verantwortung für den Gazastreifen übernehmen, die Israel am liebsten abschieben würde.

Nach dem Absturz der US-Regierung als alleiniger Supermacht wegen des Irak- und Afghanistan-Desasters inklusive eines Haushaltsdefizits von 1,2 Billionen US-Dollar spielt das rohstoffreiche Russland - insbesondere auch nach dem Georgien-(Pipeline-Interessen)-Krieg - eine zunehmend wichtigere Rolle im Nahen und Mittleren Osten, wo Moskau über Länder wie Syrien oder Iran seine geostrategischen Interessen wahrt. Die Bombardierung des Gazastreifens trägt somit auch einige Züge eines Stellvertreterkrieges wie in den Zeiten des "Kalten Krieges", ausgelöst letztendlich durch die US-Invasion 2003 im Irak, ohne die Iran nicht zu seiner derzeitigen Stärke als aufsteigende Regionalmacht und Widerpart Israels gekommen wäre.


Zur historischen Einordnung des Gazakrieges

"In weniger als zwei Wochen wurden Hunderttausende Palästinenser aus ihren Dörfern, Gemeinden und Städten vertrieben. ... Hilfe kam auch nicht von den UN-Beobachtern, die im Land unterwegs waren und die Barbarei und das Morden 'beobachteten', aber nicht willens oder in der Lage waren, dagegen einzuschreiten. Ein UN-Emissär war anders: Graf Folke Bernadotte war am 20. Mai in Palästina eingetroffen und blieb, bis jüdische Terroristen ihn im September ermordeten, weil er es 'gewagt' hatte, eine Neuaufteilung des Landes in zwei Hälften vorzuschlagen und die uneingeschränkte Rückkehr sämtlicher Flüchtlinge zu fordern". (S. 212)

"'Die Dörfer vollständig vom Feind säubern', lautete der Befehl an drei Brigaden am 6. Juli, zwei Tage bevor die israelischen Truppen - die ungeduldig darauf brannten, die Säuberungen fortzusetzen - Befehl erhielten, die erste Waffenruhe zu brechen. Den jüdischen Soldaten war sofort klar, dass mit dem 'Feind' wehrlose Palästinenser und ihre Familien gemeint waren." (S. 214)

"Israel setzte seine Luftwaffe ein, um den Widerstand zu brechen. ... Unsere Truppen sammelten 200 Leichen ein, viele davon Zivilisten, die durch unsere Bombardierung - getötet wurden." (S. 222)

"Solche Szenen beobachteten die wenigen ausländischen Journalisten, die an jenem Tag in der Stadt waren. Zwei von ihnen waren Amerikaner, die die israelischen Truppen offenbar eingeladen hatten, sie bei dem Angriff zu begleiten." (S. 225)

"Die israelische Luftwaffe warf 10.000 Flugblätter ab, die die Bevölkerung aufriefen, sich zu ergeben, ohne allerdings Schutz vor Vertreibung zu versprechen." (S. 240)

"...Obwohl es hier und da zu Zusammenstößen mit der israelischen Luftwaffe kam, die erbarmungslos und vielleicht zwecklos Rafah, Gaza und El-Arish bombardierte. Somit hat die Bevölkerung von Gaza - Alteingesessene ebenso wie Flüchtlinge - schon am längsten unter israelischen Bombenangriffen aus der Luft zu leiden, nämlich von 1948 bis heute." (S. 257)

"Tausende Palästinenser wurden bestialisch von israelischen Soldaten aller Schichten, Ränge und Altersgruppen ermordet. Trotz der überwältigenden Beweise wurde keiner dieser Israelis je wegen Kriegsverbrechen verurteilt." (S. 261)

Diese Zitate stammen aus dem Buch "Die ethnische Säuberung Palästinas" (Frankfurt 2007) des israelischen Historikers Professor Illan Pappe und beziehen sich auf die Vorgänge in Palästina in den Jahren 1947/48, als die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung systematisch vertrieben wurde - knapp 800.000 Menschen.

Im Gegensatz zu Graf Folke Bernadotte wurde der derzeitige UN-Sonderbeauftragte Professor Richard Falk im Auftrag der israelischen Regierung im Jahre 2008 "nur" festgenommen und ausgewiesen.

Ohne Illan Pappe gelesen zu haben ist die Kontinuität der mehr als 60 Jahre andauernden Vertreibung und Entmenschlichung der Palästinenser kaum zu verstehen und historisch einzuordnen. Sein Buch ist ein Meilenstein der Aufklärung und wird noch eine sehr große Wirkungsgeschichte nach sich ziehen - auch wenn er selbst schreibt: "Ich gebe mich keinerlei Illusion hin, dass es mehr als das vorliegende Buch brauchen wird, um eine Realität zu verändern, die ein kolonisiertes, vertriebenes und besetztes Volk dämonisiert und das Volk glorifiziert, das es kolonisiert, vertrieben und besetzt hat." (S. 241)


Ausblick mit Uri Avnery

Noch im letzten Sommer hatte Uri Avnery, Träger des alternativen Nobelpreises und einer der schärfsten Analytiker der israelischen Friedensbewegung, eine Vision, wie ein neuer Anfang zwischen Israelis und Palästinensern aussehen könnte:

"Ich glaube," schrieb er, "ein Friede zwischen uns und dem palästinensischen Volk - ein wirklicher Friede, basierend auf wirklicher Versöhnung - beginnt mit einer Entschuldigung. Ich stelle mir den Staatspräsidenten oder den Premierminister vor, wie er in einer außerordentlichen Sitzung der Knesset folgende historische Rede hält:

Sehr verehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrte Mitglieder der Knesset, im Namen des Staates Israel und all seiner Bürgerinnen und Bürger wende ich mich heute an die Söhne und Töchter des palästinensischen Volkes, wo immer sie sich befinden. Wir erkennen die Tatsache an, dass wir gegen Sie eine historische Ungerechtigkeit begangen haben und wir bitten Sie in aller Demut um Vergebung. (...) Jerusalem, das uns allen am Herzen liegt, muss zur Hauptstadt unserer beider Staaten werden - West-Jerusalem mit der Klagemauer als Hauptstadt Israels, Ost-Jerusalem mit dem Haram Al Sharif als Hauptstadt Palästinas. Das arabische Jerusalem soll das Ihrige sein, das jüdische Jerusalem das unsrige. Lassen Sie uns zusammenarbeiten, um diese Stadt, eine lebendige Wirklichkeit, offen und vereint zu erhalten. Wir werden die israelischen Siedlungen evakuieren, die Ihnen so viel Leid und Unruhe bereitet haben, und die Siedler nach Hause holen, ausgenommen die kleinen Areale, die Israel im Rahmen der freiwillig getroffenen Vereinbarungen von Territorialtausch zugesprochen werden. Wir werden ebenso alle Konstruktionen der Besatzung abbauen, die materiellen wie die institutionellen. Wir müssen mit offenem Herzen und gesundem Menschenverstand eine gerechte Lösung für die schreckliche Tragödie der Flüchtlinge und ihrer Nachkommen suchen und finden. Jede Familie muss frei zwischen den verschiedenen Möglichkeiten wählen können: Rückkehr und Wiedereingliederung in den Staat Palästina mit großzügiger Unterstützung, am jetzigen Wohnort bleiben oder Emigration in ein Land ihrer Wahl, ebenso mit großzügiger Unterstützung, oder, ja, für eine von uns akzeptierte Anzahl von Menschen, Rückkehr in israelisches Territorium. Es ist wichtig, dass die Flüchtlinge an all unseren Bemühungen als volle Partner teilhaben. (...) Dem Frieden verpflichtet und im Gelöbnis, unseren Kindern und Enkeln eine bessere Zukunft zu schaffen, wollen wir uns erheben und uns verneigen im Andenken an die zahllosen Opfer unseres Konflikts. Juden und Araber, Israelis und Palästinenser - ein Konflikt, der schon zu lange währt."

Kann es eine solche Rede nach dem jüngsten Gaza-Massaker überhaupt noch geben? Nach diesem Krieg wird es sehr viel Zeit brauchen, bis die neu geschlagenen Wunden und Traumatisierungen im palästinensischen Volk wie im gesamten arabischen und muslimischen Raum heilen werden.


Handlungsperspektiven

Es liegt auch an der so genannten Zivilgesellschaft, ob Deutschland - insbesondere mit seiner derzeitigen Regierung - weiterhin Teil des Problems bleibt oder Teil der Lösung der Nahostfrage wird. Möglichkeiten des Engagements für eine gerechte Nahost-Friedenslösung sind u.a.:

• Verhindern wir durch politischen Druck die weitere Auslieferung von U-Booten an Israel, die atomar umgerüstet Iran oder Pakistan bedrohen.

• Das US Military Sealift Command hat ein deutsches Schiff mit dem Namen "Wehr Elbe" gechartert, um etwa 1.000 Container mit Waffen und Munition (darunter, so Amnesty International, wahrscheinlich auch Phosphor-Granaten) nach Israel zu transportieren. (www.amnesty.de/2009/1/16/gaza-konfliktwaffenembargo-lebenswichtig) Der Transport sollte über Griechenland gehen, wurde aber im Januar nach massivem Protest in Griechenland und der Ankündigung von Gewerkschaften, die Abfertigung des Schiffes zu verhindern, zunächst suspendiert (siehe Guardian: US suspends munitions delivery to Israel, www.guardian.co.uk/world/2009/jan/15/pentagon-munitions-israel-gaza) Die Waffenlieferung wurde im Sommer 2008 angeordnet und im Oktober genehmigt. Nach Angaben des Pentagon-Sprechers Patrick Ryder soll die Munition in US-Depots in Israel für US-Truppen eingelagert werden. Die israelischen Streitkräfte haben Zugriff auf die US-Munitionslager. Die britische Sektion von Amnesty International hat eine Kampagne gestartet, bei der man Briefe an den britischen Außenminister und den UN-Sicherheitsrat schicken kann, mit der Forderung, die Lieferung durch internationalen Druck zu stoppen. Diese kann online verschickt werden: www.amnesty.org.uk/actions_details.asp?ActionID=558

• Unter www.PetitionOnline.com/EAFORD09/ kann man durch seine Unterschrift die Forderung nach der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes unterstützen, der die Politik der israelischen Regierung im Zusammenhang mit der Gazablockade und dem Krieg untersucht.

• Unterstützen wir die Kampagne gegen die völkerrechtswidrige Mauer- und Grenzzaunanlage. (www.stopthewall.org)

• Bilden wir Städte- und Gemeindepartnerschaften zwischen Deutschland und Palästina, ebenso Partnerschaften zwischen Sportvereinen, Schulen und Universitäten, wie es sie längst zwischen Israel und Deutschland gibt.

• Lassen wir die Opfer im Gazastreifen nicht im Stich, indem wir z.B. die Deutsch-Palästinensische Medizinische Gesellschaft unterstützen, die sich derzeit bemüht, Medikamente an die Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen zu schaffen. (www.gaza.falastin.de/index.php?option=com_content&task=view&id=1&Itemid=4)

• Unterstützen wir die Free-Gaza-Bewegung, die mit einem weiteren Schiff voller Hilfsgüter versucht, die See-Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. (www.freegaza.de)

• Der Stockholmer Stadtrat hat einen U-Bahn-Auftrag in Höhe von 3,5 Milliarden Euro mit der französischen Firma Veolia gekündigt, der noch acht Jahre gelaufen wäre, weil diese ein Straßenbahnsystem zwischen Jerusalem und Siedlungen im besetzten Westjordanland baut - und damit gegen Völkerrecht verstößt. Die Entscheidung kam durch Tausende von Unterschriften an den Stadtrat zustande. Setzen wir auch andere Firmen unter Druck, die mit der illegalen Besatzung Geschäfte machen. (vgl. www.diakonia.se)

• Unterstützen wir die Friedens- und Menschenrechtsarbeit auf beiden Seiten des Konflikts. (vgl. Der Israel-Palästina-Konflikt, www.koop-frieden.de)

• Tun wir das unsere dazu, dass neben dem Staat Israel endlich auch das palästinensische Volk einen lebensfähigen Staat in sicheren Grenzen erhält.


Persönliches Schlusswort

Durch den fortwährenden Bau neuer Siedlungen im Westjordanland haben sich alle israelischen Regierungen seit 1967 in eine Sackgasse manövriert: Würden diese Siedlungen zu einem größeren Teil geräumt oder nach dem Modell der Genfer Initiative von 2003 ein Gebietstausch vereinbart, bestünde für den Nahen Osten die Chance auf einen dauerhaften Frieden. Gleichzeitig aber würde vermutlich ein Teil der knapp 500.000 Siedler sich mit vehementer Gewalt gegen eine Umsiedlung wehren und so einen innerisraelischen Bürgerkrieg anzetteln, vor dem bisher noch alle israelischen Regierungen zurückgeschreckt sind. Die Diplomatie-Kunst der nächsten Jahre und Jahrzehnte wird darin bestehen, Israel aus dieser Sackgasse herauszuhelfen.

Bei meinen Besuchen in Israel und Palästina der letzten Jahre ist mir aufgefallen, dass Freundinnen und Freunde der israelischen Friedensbewegung "Bilder" benutzen, um etwas in ihrem Land zu erklären, was kaum zu verstehen ist. Während Vergleiche hinken, können Bilder zuweilen tiefere Zusammenhänge erschließen, die allein mit dem Verstand nicht mehr begreifbar sind. Ich möchte zwei dieser "Bilder" benennen:

Ein israelischer Freund sagte mir: "Mein Land kommt mir manchmal vor wie ein randalierender Jugendlicher, dem niemand von außen eine Grenze setzt, weil er eine sehr schwere Kindheit gehabt hat."

Ein anderer Freund sagte mir: "Wenn Israel kein Staat, sondern eine Person wäre, würde diese vermutlich von einem Psychologen umgehend in eine Klinik zur Heilung eingewiesen, damit sie andere und sich selbst nicht mehr länger gefährdet".

Damit nicht mit Macht zurückkehrt, was verdrängt wird (Elie Wiesel), braucht es sehr viel Mut, sich der eigenen Geschichte mit all ihren Schattenseiten zu stellen - in Deutschland ebenso wie in Palästina und in Israel.


Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 1 - Februar/März 2009, S. 10 - 15
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2009