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BERICHT/249: Friedenspolitischer Nachruf auf das Grundgesetz - Lizenz zum Töten (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 3 - August 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Lizenz zum Töten
Ein friedenspolitischer Nachruf auf das Grundgesetz

Von Jürgen Grässlin


Das 60-jährige Bestehen des Grundgesetzes, das im Mai groß gefeiert wurde, ist Anlass zum Nachlesen, welche Schlussfolgerungen die Mütter und Väter des Grundgesetzes aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gezogen haben.

Deutschland sollte "dem Frieden in der Welt dienen", heißt es in der Präambel. In Artikel 11 bekennt sich das deutsche Volk "zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Artikel 26 schreibt fest: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen." In Absatz 2 wird geregelt, dass "zur Kriegführung bestimmte Waffen ... nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden" dürfen.

Zunächst war die Bundesrepublik ohne eigenes Militär, erst 1956 wurde der Artikel 87a ins Grundgesetz eingefügt: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Allerdings dürfen diese "außer zur Verteidigung" nur dann "eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt".


Um zu verstehen, wie die Bundeswehr dennoch von einer Verteidigungs- zu einer Angriffsarmee umfunktioniert werden konnte, müssen wir in die 90-er Jahre zurückblicken.

Dem Zusammenbruch der Warschauer Vertragsorganisation und der deutschen Wiedervereinigung folgte die Suche nach neuen Feindbildern. In seinem internen Strategiepapier sprach Bundeswehrgeneral Naumann erstmals von einem "weiten Sicherheitsbegriff" und dem Ziel "der Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen". Diese Vorgaben fanden 1992 Eingang in die verbindlichen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) von CDU-Verteidigungsminister Rühe. Von nun an sollte sich die Bundeswehr an den "realen Bedingungen von Krieg, Gefahr und menschlichem Elend orientieren". Unter dem Deckmantel "humanitärer Friedensmissionen" wurde die Umwandlung der Bundeswehr schrittweise zur Interventionsarmee umgesetzt. Unter Bruch des Grundgesetzes führte Rühe die damals überwiegend militärkritisch eingestellte Öffentlichkeit mit seiner "Salamitaktik" an Bundeswehreinsätze außerhalb des Nato-Territoriums heran.

Mit den rechtswidrigen Out-of-Area-Einsätzen im Persischen Golf, in Kambodscha, im ehemaligen Jugoslawien, in Somalia schuf die liberal-konservative Bundesregierung Sachzwänge als Vorbereitung für deren nachträgliche rechtliche Legitimation. Im Nachhinein erfolgte diese am 12. Juli 1994 durch das umstrittene Urteil des Verfassungsgerichts.

In den kommenden Jahren folgten die Bundeswehreinsätze in Bosnien, der Einsatz im ehemaligen Jugoslawien sowie in Kroatien. Die Bundesregierung unter Kohl scheiterte nicht zuletzt an dieser aggressiven Außenpolitik.

Dank ihrer Friedensversprechungen wurden SPD und Bündnis 90/Die Grünen 1998 gewählt. Doch mit deren Zustimmung zum Kosovo-Kampfeinsatz legitimierte der Bundestag erstmals einen gleichermaßen grundgesetz- wie völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat. Im Frühjahr 1999 ließ die Bundesregierung auch ohne UN-Mandat völkerrechtswidrig auf militärische und zivile Einrichtungen schießen: Tausende Menschen starben bei der Bombardierung serbischer Städte durch Nato-Truppen, darunter Bundeswehreinheiten. Erst im Nachhinein erfolgte eine Legitimierung durch UNO.

Hatten SPD und Bündnisgrüne die Erweiterung des Bundeswehrauftrags Anfang der 90-er Jahre noch strikt abgelehnt, so hieß es - im Widerspruch zum Grundgesetzartikel 87a - in den neuen VPR: Verteidigung lasse sich "geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist".

Spätestens mit den Anschlägen am 11.09.2001 fielen die letzten Schranken. Verteidigungspolitiker in aller Welt nutzten die Terroranschläge, um die Rüstungsspirale anzuziehen. Die deutsche Sicherheit werde "nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt", verkündete SPD-Verteidigungsminister Struck drei Jahre danach und legitimierte damit den Einsatz in Afghanistan. Unter größter Geheimhaltung unterstützten Bundeswehrsoldaten des Kommandos Spezialkräfte aus Calw US-Einheiten im Afghanistan-Krieg. Seit der - im Widerspruch zu Artikel 87a des Grundgesetzes stehenden - Erweiterung des Einsatzgebietes ist die Bundeswehr längst mit einer Lizenz zum weltweiten Töten im Einsatz.

Der so genannte "Krieg gegen den Terror" legitimierte auch die indirekte Unterstützung Deutschlands für den Krieg der US-geführten Interventionstruppen gegen den Irak im März und April 2003. Mit der Genehmigung der Start- und Überflugsrechte für US-Einheiten, der Steuerung durch die militärische US-Schaltzentrale Eucom bei Stuttgart usw. ging dieser Krieg auch von deutschem Boden aus.


Heute ist Deutschland wieder eine weltweit operierende Militärmacht. Nach den USA und Russland rangiert die deutsche Rüstungsindustrie auf Platz 3 der Waffenexporteure, kaum ein Krieg wird ohne deutsche Waffen geführt. Auf der Basis der Verteidigungspolitischen Richtlinien und im Einklang mit der neuen Nato-Strategie kommen hochprofessionelle Soldaten der Krisenreaktionskräfte und des Kommandos Spezialkräfte als schlagkräftige Eingreiftruppe juristisch wie geografisch grenzenlos zum Einsatz. Momentan verteidigen 7.370 Bundeswehrsoldaten deutsche Interessen im Golf von Aden, am Horn von Afrika, in Afghanistan und in vielen weiteren Kriegs- und Krisengebieten - offiziell im Dienste des Friedens und der Humanität. Fakt ist, dass die Bundeswehr am Hindukusch Krieg führt, deutsche Soldaten Taliban und friedliebende Menschen erschießen.

Tödliche Schüsse von Bundeswehrsoldaten auf Zivilisten und deutsche Waffenexporte an menschenrechtsverletzende Staaten dienen allenfalls dem Unfrieden in der Welt. Angesichts dieser Tatsachen verkommen die salbungsvollen Festtagsreden zum 60-jährigen Bestehen des Grundgesetzes zu einem friedenspolitischen Nachruf.


Jürgen Grässlin ist DFG-VK-Bundessprecher.

Mehr Informationen:
http://www.juergengraesslin.com


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 3 - August 2009, S. 11
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
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KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2009