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GRUNDSÄTZLICHES/012: Im Zweifel für die Bundeswehr (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 24 - IV/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Im Zweifel für die Bundeswehr
Zur Kritik der militärfreundlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes

Von Ulrich Finckh


Die erste Verfassung eines Staates, die nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen verfasst wurde und darauf fußte, ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung geht das Grundgesetz nach Artikel 1 Abs. 2 GG von "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" aus. Abgeleitet werden sie nach Artikel 1 Abs. 1 GG aus der unantastbaren Würde des Menschen. Diese Grundlage unserer Verfassung hat Ewigkeitsgarantien, darf also - anders als das nach der Weimarer Reichsverfassung mit dem Ermächtigungsgesetz geschah selbst mit verfassungsändernden Mehrheiten nicht gekippt werden: Das gilt für den Föderalismus und die Grundsätze der Artikel 1 und 20 nach Artikel 79, Abs. 3 GG sowie für den Wesensgehalt der Grundrechte, der nach Artikel 19 Abs. 2 GG auf keinen Fall angetastet werden darf. Aus dem Scheitern der Weimarer Republik, aus der NS-Diktatur und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat der Parlamentarische Rat im Grundgesetz darüber hinaus noch eine weitere Konsequenzen gezogen und einen Friedensauftrag formuliert. Er wird besonders deutlich in der Absichtserklärung der Präambel, "in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen", in den Artikeln 24 und 25 GG mit der Übernahme der allgemeinen Regeln des Völkerrechts und der Bereitschaft, sich einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen und Vereinbarungen über internationale Schiedsgerichtsbarkeit beizutreten, sowie aus dem Verbot des Angriffskrieges in Artikel 26 GG.

Als Hüter des Grundgesetzes ist das Bundesverfassungsgericht vorgesehen (Artikel 92 ff1 GG), das mit Recht einen guten Ruf als Wahrer der Grundrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Kontrolle staatlicher Gewalt genießt. Natürlich gibt es Bereiche, in denen es nicht einfach ist, zu entscheiden, wie die Würde des Menschen zu wahren ist, weil die moderne Medizin Anfang und Ende des Lebens in vielen Fällen fließend gemacht hat, weil mehr Wissen auch mehr Möglichkeiten von Eingriffen ergibt und weil manche Regelungen in jedem Fall Probleme bereiten wie bei den Schwangerschaftsabbrüchen oder der Gentechnik. Auch manche sozialen Probleme sind nicht leicht rechtlich zu fassen und bleiben umstritten, ganz gleich wie die Entscheidungen ausfallen. Dem Verfassungsgericht ist es aber gelungen, in den meisten Fällen friedensstiftend zu judizieren und damit seiner Aufgabe gerecht zu werden. Außerdem stehen seine Entscheidungen zur Diskussion, die das Gericht manchmal selbst mit abweichenden Voten einzelner Richter eröffnet.

Ein Bereich allerdings, der eigentlich eine ganz besondere Bedeutung hat, weil es um Tod und Leben, im Extremfall um den Bestand des Staates geht, muss von dieser Beurteilung ausgenommen werden. Das ist der Bereich des Militärs und der Kriegsdienstverweigerung. Bekanntlich ist die Wehrverfassung von 1955 nachträglich als Ergänzung eingefügt worden. Sie begrenzt den Einsatz von Militär auf die Verteidigung und ausdrücklich im Grundgesetz genannte Aufgaben und sieht für den Fall der nicht geforderten, aber ermöglichten Wehrpflicht einen Ersatzdienst der durch Artikel 4 Abs. 3 GG geschützten Kriegsdienstverweigerer vor, der nach Artikel 12 a Absatz 2 Satz 2 GG die Dauer des Wehrdienstes nicht überschreiten und die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf. Diese Wehrverfassung war heftig umstritten. Die FDP verlangte vom Bundespräsidenten, ein Gutachten des Verfassungsgerichtes dazu anzufordern. Der Streit sollte damit zu Gunsten der Wiederbewaffnung entschieden werden. Als sich aber abzeichnete, dass diese abgelehnt werden würde, musste der Bundespräsident seine Bitte um das Gutachten zurückziehen. Später hat Karlsruhe die Wehrverfassung akzeptiert und damit, wie ich meine, das Grundgesetz missachtet. Am deutlichsten wird das am Beispiel der Artikel 1 Abs. 1 ("Die Würde des Menschen ist unantastbar.") und Artikel 2 Abs. 2 GG ("Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In dieses Recht darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.") Der Gesetzesvorbehalt in Artikel 2 GG soll notwendige medizinische Eingriffe wie Impfungen und Blutproben ermöglichen. Aber kann er auch angeführt werden, um die unantastbare Würde des Einzelnen auszuhebeln, Töten und Verkrüppeln im Kriege zu erlauben und zu rechtfertigen, dass Wehrpflichtige sich selbst dem aussetzen müssen, dass sie eventuell getötet oder verkrüppelt werden? Ist da wirklich die Menschenwürde geachtet, und wird der Wesensgehalt des Grundrechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht doch angetastet?

Mit der Streichung des Gesetzes, das den Abschuss eines Passagierflugzeuges erlauben sollte, hat das Bundesverfassungsgericht vor kurzem deutlich gemacht, dass die Menschenwürde es verbietet, Menschen zum Mittel zu machen. Was geschieht eigentlich anderes, wenn junge Männer zum Wehrdienst verpflichtet, zum Töten ausgebildet und notfalls mit tödlichen Risiken eingesetzt werden (zum Beispiel für die "Verteidigung am Hindukusch")? Kann Verteidigung alles rechtfertigen? Gilt dann auf einmal der Staat mehr als der Einzelne, mehr als dessen unantastbare Würde? War die im Grundgesetz vorgesehene Verteidigung, als die Wehrverfassung beschlossen wurde, nicht nur direkt als Notwehr und Nothilfe angesichts der angenommenen akuten Bedrohung aus dem Osten verstanden worden? Schon dabei wurde mehr verlangt als sonst bei Nothilfe. Niemand muss bekanntlich sein eigenes Leben und seine Gesundheit aufs Spiel setzen, um anderen zu helfen. Insofern ging die Wehrgesetzgebung gleich über das hinaus, was in den Grundrechten vorgesehen war. Aber das allgemeine Denken war anscheinend noch so von der Kriegswirklichkeit bestimmt, dass man Risiken, die mit Militärdienst verbunden sind, für normal hielt. Es ging nur darum, ob man überhaupt für eine Wiederbewaffnung war oder grundsätzlich dagegen. Wenn man auf den Gesetzesvorbehalt in Artikel 2 Abs. 2 GG abhebt, ist im Übrigen zu fragen, welches Gesetz eigentlich abgesehen von polizeilichem Einsatz das Töten regelt? Und welches regelt, dass man sich im Krieg, der heute "Einsatz" heißt, auch selbst dem aussetzen muss, dass man getötet werden kann?

Wenn man die wichtigsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts daraufhin durchsieht, wie die Grundrechte gegenüber dem Militär behandelt werden, findet sich eine deutliche Einseitigkeit. Im Zweifel nützten sie immer der Bundeswehr.


Anknüpfen an unselige Vergangenheit

Das erste und bis heute in vielem maßgebende Urteil war das Urteil vom 20. Dezember 1960 (BVerfGE 12, 45 ff.). Konkreter Anlass war der Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Schleswig, ob eine Gewissensentscheidung anzuerkennen ist, wenn der Kriegsdienst nur im Blick darauf verweigert wird, dass man voraussichtlich auf andere Deutsche schießen muss. Das Bundesverfassungsgericht hat - durchaus sachgerecht - zunächst gefragt, ob die Wehrpflicht überhaupt verfassungsgemäß ist, und erst anschließend die Frage behandelt, welche Gewissensentscheidung nach Artikel 4 Abs. 3 GG anzuerkennen ist.

Die Wehrpflicht wurde bejaht, weil fast alle freiheitlich-demokratischen Staaten - auch neutrale -, die Wehrpflicht haben. Mich erinnert das an die biblische Geschichte in 1. Samuel 8, als die Israeliten einen König haben wollten und vom Propheten Samuel forderten, er solle einen einsetzen. Samuel warnte sie und hielt ihnen vor, was das bedeutet: "Er wird eure Söhne nehmen, um sie für sich einzusetzen bei seinen (Kriegs-)Wagen und bei seiner Reiterei - und sie werden vor seinem Wagen herlaufen - und um sie für sich einzusetzen als Anführer über tausend und als Anführer über fünfzig (...) und damit sie Geräte für seinen Krieg und die Dinge für seinen Wagen anfertigen." Aber das Volk weigerte sich, auf die Stimme Samuels zu hören, und sie sprachen: "Nein! Wir wollen einen König über uns! Dann werden auch wir sein wie alle Nationen." Karlsruhe hat nicht von der Verfassung her, sondern vorkonstitutionell von der Realität anderer Staaten her argumentiert: Sein wie alle Nationen, das wollten auch die Verfassungsrichter 15 Jahre nach Kriegsende. Natürlich hat das Gericht dann auch im Grundgesetz gesucht, ob die Wehrpflicht damit vereinbar ist. Fündig wurde das Gericht in Artikel 73 Nr. 1 (Zuständigkeit des Bundes für die Verteidigung) und in einer kühnen Interpretation der Würde des Menschen und der daraus abgeleiteten Werteordnung. Das Grundgesetz beruht demnach auf einer Tradition, die auf die preußische Reformzeit zurückgeht, und hat ein Menschenbild, das nicht das des "selbstherrlichen Individuums" ist, sondern das der "in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfach verpflichteten Persönlichkeit". "Es kann nicht grundgesetzwidrig sein, die Bürger zu Schutz und Verteidigung dieser obersten Rechtsgüter der Gemeinschaft, deren personale Träger sie selbst sind, heranzuziehen." Wirklich? Wenn das in der Gemeinschaft stehende Individuum und seine Würde zum Ausgangspunkt gemacht werden, kann eigentlich nicht die Regierung oder das Parlament über die Individuen verfügen. Die Verteidigung der Gemeinschaft müsste zur freiwilligen Aufgabe werden, die allenfalls zur besseren Wirksamkeit wie in den Freiwilligenarmeen der angelsächsischen Länder staatlich organisiert wird. Der Rückgriff auf monarchische Zeiten, ist wenig hilfreich und entspricht nicht dem Grundgesetz.

Dass die preußische Reformzeit nach allem, was seitdem geschehen ist, nach den Erfahrungen mit dem Einsatz von Wehrpflichtarmeen bei den Angriffskriegen Bismarcks und den von Deutschland begonnenen Weltkriegen und nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht ausgerechnet durch Hitler nun als Argument für die Wehrpflicht dienen konnte, ist mehr als erstaunlich. Statt sich mit der Beeinträchtigung der Grundrechte durch die Wehrpflicht auseinanderzusetzen, übernahm das Verfassungsgericht eine Ideologie der staatlichen Gemeinschaft, die mich fatal an die NS-Losung erinnert "Du bist nichts, dein Volk ist alles". Im Grunde wurde die Wehrpflicht bejaht auf Grund außerhalb der Verfassung liegender Denkansätze. Nachträglich wurde das Diktum von Theodor Heuß, die Wehrpflicht sei das legitime Kind der Demokratie, dem der Parlamentarische Rat nicht gefolgt war, doch noch zur Grundlage der Grundgesetzinterpretation. Es ist kein Wunder, dass die Vertreter der Bundeswehr gerade diesen Satz immer und immer wieder zitiert haben.

Dabei erkennt das Verfassungsgericht durchaus, dass die Wehrpflicht den Staat verändert. Es sagt: "Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ist eine Entscheidung hohen staatspolitischen Ranges; sie wirkt in alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens hinein." Dass man dann fragen muss, ob diese Wirkung in alle staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche hinein mit dem Grundgesetz, vor allem mit den Grundrechten der Menschen, vereinbar ist, wurde übergangen. Die besondere neue Ausrichtung des Grundgesetzes nach den Katastrophen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges, der Friedensauftrag, die Übernahme der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und die Konsequenzen, die sich eigentlich aus allem ergaben, wurden negiert. Um das zu stützen wurde erklärt, alle Teile des Grundgesetzes hätten gleichen Verfassungsrang. Angesichts der besonderen Hervorhebung der Grundrechte mit ihrer Ewigkeitsgarantie ist das für mich nicht nachvollziehbar.

Dass die Wehrpflicht bejaht wurde, vor allem, was Heuß dazu gesagt hatte, war sicher für viele Menschen hilfreich. War die Wehrpflicht demokratische Normalität, konnte niemand vorgeworfen werden, dass er im Zweiten Weltkrieg Soldat war oder sonst in der Wehrmacht mitgemacht hatte. Immerhin waren das etwa 18 Millionen! Alle Verbrechen von den Angriffen auf neutrale Staaten und den Überfällen trotz bestehender Nichtangriffspakte über alle Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung bis hin zu den Massenmorden in den Ghettos und Vernichtungslagern waren auf einmal nicht mehr individuell zu verantworten. Mitmachen in der Wehrmacht war ja demokratische Pflicht. Die von den Nazis gern zitierte britische Rede "right or wrong - my country" wurde selbst für diesen Eroberungs- und Vernichtungskrieg mit seinen ungeheuerlichen Verbrechen im Ergebnis nachträglich akzeptiert.

Rechtsschöpferisch wurde das Verfassungsgericht, das seine Interpretationshoheit erstaunlich weit ausnützte, auch bei der Entscheidung der konkreten Frage, ob jemand, dessen national bestimmtes Gewissen den Krieg gegen deutsche Brüder ablehnt, den Schutz des Artikel 4 Abs. 3 GG beanspruchen kann. Karlsruhe sagte nein, lehnte eine situationsbedingte Kriegsdienstverweigerung ausdrücklich ab. Diese Entscheidung nahm das Gericht allerdings sofort etwas zurück, indem die Ablehnung jeglichen Kriegsdienstes nur "hier und heute" gefordert wurde. Gustav Heinemann hat damals protestiert, auf die Situationsbezogenheit aller Gewissensentscheidungen hingewiesen, aber typisch Rechtsanwalt, der überlegt, wie Mandanten zu helfen ist - vorgeschlagen, was später tausendfach vorgetragen wurde, dass man konkrete Bedenken ja auch als Anlass nehmen kann, um daraufhin "jeden Krieg hier und heute" abzulehnen. Indem das Verfassungsgericht in dieser ersten grundlegenden Entscheidung anfing, Gewissensentscheidungen zu beurteilen, hat es die ganze Misere der Prüfungsverfahren, in denen viele tausend Verweigerer zu Unrecht abgelehnt wurden, verschuldet. Die Argumentation mit der Menschenwürde wurde ins Gegenteil verkehrt. Der Missachtung der in Artikel 4 GG ausdrücklich geschützten Gewissen wurden Tor und Tür geöffnet.

Nachträglich kann man sicher sagen, dass auch der Vorlagebeschluss insofern ungeschickt war, als er nicht die Problematik der Gewissensprüfung ansprach. Das Verfassungsgericht ging davon aus, dass in den Anerkennungsverfahren fair danach gefragt und gesucht wird, ob eine an Gut und Böse orientierte Entscheidung getroffen wird, gegen die nicht ohne ernste Gewissensnot gehandelt werden kann. Das Anerkennungsverfahren nach Verwaltungsrecht geht aber davon aus, dass der Kriegsdienstverweigerer ein Antragsteller ist, der sein Gewissen selbst darlegen, ja beweisen muss. Bleiben Zweifel, gehen die zu seinen Lasten. Weil das Grundrecht nicht sofort bis zum Beweis des Gegenteils gilt, sondern beantragt, bewiesen und staatlich geprüft werden muss, hat es seinen Rang als Grundrecht verloren. Das ist radikal anders als beispielsweise bei Einschränkung oder Entzug von Grundrechten in Strafverfahren. Da ist im Zweifelsfall für den Angeklagten zu entscheiden.


Das Gericht lässt sich (gerne?) belügen

Eine nächste grundlegende Entscheidung vom 7. März 1968 betrifft die ersten Totalverweigerer aus den Reihen der Zeugen Jehovas, die den Zivilen Ersatzdienst verweigerten. Eine erhebliche Reihe von Urteilen hatten wiederholte Strafen verhängt. Der 2. Senat hob die Urteile auf (BVerfGE 23, 191 ff.). "Dieselbe Tat im Sinne von Art. 103 Abs. 3 GG liegt auch vor, wenn die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst auf die ein für allemal getroffene und fortwirkende Gewissensentscheidung des Täters zurückgeht; eine dazwischen ergangene Verurteilung wegen Dienstflucht steht dem nicht entgegen." Was verweigererfreundlich wirkt, ist trotzdem problematisch, weil das hohe Gericht nicht einen Gedanken an die Überlegung verwandt hat, ob in solchen Fällen Artikel 4 Abs. 1 GG anzuwenden wäre. Wer von seinem Gewissen her jeden Kriegsdienst für ein Verbrechen hält, für das er auch keinen Ersatz leisten kann, hat Anspruch darauf, dass diese Gewissensnot akzeptiert wird.

In der Zeit des Vietnamkrieges nahm die Zahl der registrierten Kriegsdienstverweigereranträge plötzlich stark zu. Eine Anordnung des Bundesministeriums der Verteidigung vom 15. Oktober 1966, Soldaten, die einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt hatten, schon vor ihrer Anerkennung vom Waffendienst zu befreien, wurde deshalb am 1. Juli 1968 dahingehend eingeschränkt, dass diese Befreiung nach Ablehnung des Antrages aufgehoben wurde. Am 21. Februar 1969 wurden schließlich beide Verfügungen aufgehoben, von verweigernden Soldaten also fortan normaler Dienst verlangt. Dagegen gab es Verfassungsbeschwerden, die zu folgendem Urteil vom 26. Mai 1970 führten (BVerfGE 28, 243 ff.):

"1. Ist über den Antrag eines Soldaten auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer noch nicht rechtskräftig entschieden und verweigert der Soldat in dieser Zeit eine von ihm geforderte militärische Dienstleistung, so verstößt die Bewertung seines Verhaltens als Dienstvergehen nicht gegen seine Grundrechte aus Art. 4 Abs. 3, Art. 1 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG.

2. Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen." (Was der Unterschied zwischen einschränken und begrenzen ist, weiß ich nicht.)

Die Verfassungsbeschwerden wurden zurückgewiesen. In der Begründung wird die Statistik der Anträge zitiert; es wird zu Recht überlegt, dass im besonderen Bereich des Wehrrechts auch Minderjährige prozessfähig sein müssen, und dann wird eine Abwägung getroffen:

"Dem Interesse des noch nicht anerkannten Kriegsdienstverweigerers steht gegenüber die Notwendigkeit eines ungestörten Dienstbetriebes der Bundeswehr bis zur endgültigen Entscheidung über die Anerkennung sowie das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der Disziplin. Abzuwägen ist unter diesen Umständen die Sicherung des inneren Gefüges der Streitkräfte, die imstande sein müssen, ihre militärischen Aufgaben zu erfüllen, gegen das Interesse des Kriegsdienstverweigerers an der Freiheit von jeglichem Zwang gegenüber seiner Gewissensentscheidung. Die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr haben für diese Abwägung verfassungsrechtlichen Rang, da Art. 12 a Abs. 1, Art. 73 Nr. 1 und Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG die Wehrpflicht zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht gemacht und eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Verteidigung getroffen haben. Dabei bezieht sich die vorzunehmende Abwägung in den vorliegenden Fällen nur auf den Waffendienst im Frieden."

"Ein Verstoß gegen Art. 1 GG durch die Bewertung der Dienstverweigerung als Dienstvergehen kommt nicht in Betracht. Aus Erwägungen, die dem Gedanken der Menschenwürde nahe stehen, hat das Grundgesetz unter bestimmten Voraussetzungen das Kriegsdienstverweigerungsrecht zugelassen. Damit hat es zugleich abschließend festgelegt, welche im Gewissen begründeten Haltungen die Kriegsdienstverweigerung rechtfertigen. Über die Grenzen des Art. 4 Abs. 3 GG hinaus erkennt es weder weitere Gewissensvorbehalte an noch die Berufung auf die Menschenwürde gegenüber den nach Art. 4 Abs. 3 GG zumutbaren Verpflichtungen."


"Berechnetes Recht"

Das Urteil ist eine Stellungnahme für die Interessen der Bundeswehr, die in dreifacher Hinsicht schwer zu verstehen ist. Die Bezugnahme auf die Statistik ist deshalb problematisch, weil diese von Seiten des Verteidigungsministeriums grob beeinflusst wurde. Anfangs wollte man so tun, als seien Kriegsdienstverweigerer eine winzige Minderheit. Deshalb wurden Verweigerer möglichst schon bei den Musterungen aussortiert, so dass ihre Anträge nicht zu den Ausschüssen kamen und dort auch nicht registriert wurden. Erst als das schwierig wurde, weil die Zahlen stiegen, wurde plötzlich umgeschaltet, und nun schien alles anders zu sein. Eigentlich gilt: Judex non calculat. Die zweite Merkwürdigkeit ist die Bezugnahme auf eine verfassungsmäßige Wehrpflicht, obwohl diese nur ermöglicht, nicht geboten und erst durch einfaches Gesetz realisiert wird. Und die dritte ist die Behauptung, anders als nach einer absehbaren Anerkennung sei der plötzliche Ausfall von Soldaten eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr. Bekanntlich gibt es nicht selten Unfälle und Krankheiten, auch Disziplinar- und Strafverfahren, die zu plötzlichen Ausfällen von Soldaten führen. Darauf muss die Bundeswehr eingestellt sein. Der Unterschied zu dem absehbaren Ausfall eines Soldaten, wenn er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wird, besteht in der Regel aus wenigen Tagen zwischen Antrag und Anerkennung.

Am 26. Mai 1970 ging es um wiederholte Disziplinarstrafen bei der Bundeswehr (BVerfGE 28, 264 ff.). Das Urteil fiel anders aus als bei den Zeugen Jehovas: "Wiederholte Arrestmaßnahmen im Disziplinarverfahren gegen einen Soldaten, der zur Zeit der Disziplinarbestrafungen noch nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannt war, verletzen bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit weder das Grundrecht aus Art. 103 Abs. 3 GG noch das Rechtsstaatsprinzip." Zur Begründung findet das Gericht: "... eine verschiedene Abgrenzung der Tatidentität für das Straf- und Disziplinarrecht ist sachgerecht." Es findet sich keine Überlegung, was die Disziplinarstrafen für einen Gewissenstäter und für seine Menschenwürde bedeuten, auch keine Kritik daran, dass der Bundesminister der Verteidigung solche Bestrafungen den allein zuständigen Vorgesetzten befiehlt.

Am 12. Oktober 1971 wird es mit den Strafen ernster, weil es in dem Fall von Gehorsamsverweigerung nicht mehr nur um disziplinäre Bestrafung, also um Erziehung zu künftigem militärischem Wohlverhalten, sondern um Jugendarrest geht. Die Bestrafung wird gebilligt (BVerfGE 32, 40ff.), auch noch nach der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, aber der Disziplinararrest ist anzurechnen. In abweichenden Voten machten drei Richter geltend, dass der Arrest ihrer Rechtsauffassung nach nicht mehr zulässig sei, wenn der Soldat als Kriegsdienstverweigerer anerkannt ist.

Eine besondere Qualität erreichte die militärfreundliche Rechtsprechung 1977/78 im Prozess um das so genannte Postkartenverfahren. Die sozial-liberale Koalition hatte das unerträgliche Verfahren zur Prüfung der Gewissensentscheidungen der Kriegsdienstverweigerer wenigstens weitgehend ersetzen wollen. Eine einfache Erklärung sollte bei noch nicht zur Bundeswehr Einberufenen in Verbindung mit drei Zusatzmonaten Ersatzdienst reichen, um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. Dieses Gesetz wurde von den Unionsparteien wütend bekämpft. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die unionsregierten Bundesländer klagten in Karlsruhe gegen das Gesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat mündlich verhandelt und bald danach das Gesetz zunächst durch eine einstweilige Anordnung außer Kraft gesetzt (BVerfGE 78, 25 ff.).

Die Bundesregierung erhob keine Gegenvorstellungen, und nach einiger Zeit wurde das Gesetz dann für nichtig erklärt (BVerfGE 78, 364 ff.). Nur am Rande wurde argumentiert, dass die Zustimmung des Bundesrates notwendig gewesen wäre, was die Ablehnung des Gesetzes rechtfertigte. Ganz unnötig wurde das Gesetz inhaltlich kritisiert. Ein wichtiges Argument waren die statistischen Angaben des Verteidigungsministeriums, die eine Verweigererflut suggerierten. Das alte Wort judex non calculat, die Unabhängigkeit des Richters von eventuellen Auswirkungen, wurde wieder missachtet und schon in der einstweiligen Anordnung auf die zahlenmäßige Entwicklung Bezug genommen. Im Urteil wurde einerseits zu Recht festgestellt, dass es dem Gesetzgeber freisteht, eine Wehrpflichtarmee oder eine Freiwilligenarmee zu organisieren. Andererseits wurde die Wehrpflicht zu einer staatsbürgerlichen Pflicht hohen Ranges hochstilisiert. Die Herrschaft des Artikels 3 GG (vom Gericht als "Wehrgerechtigkeit" bezeichnet) war für das Gericht offensichtlich nur in Gefahr, weil die vielen Verweigerer nicht alle Ersatzdienst leisten könnten, was tatsächlich nicht der Fall war. Es wurde festgelegt, dass es keine Wahl zwischen Wehr- und Ersatzdienst geben darf, dass vielmehr der Staat sich überzeugen muss, dass eine Kriegsdienstverweigerung auf einer Gewissensentscheidung beruht. Dabei wurde angeordnet, dass alle Kriegsdienstverweigerer Ersatzdienst leisten müssen, was inzwischen dazu führt, dass viel mehr Verweigerer einen Ersatzdienst leisten als Wehrpflichtige Grundwehrdienst von neun Monaten in der Bundeswehr.

Peinlich war allerdings, dass - was leider erst später herauskam - alle statistischen Angaben irreführend, ja geradezu betrügerisch waren. Die Kriegsdienstverweigereranträge waren bis dahin von den Prüfungsausschüssen registriert worden. Das bedeutete, dass die Anträge der Verweigerer erst nach der Musterung registriert wurden, wenn entschieden war, wer untauglich war oder aus anderen Gründen nicht für eine Einberufung in Frage kam. Der Musterungsbescheid enthielt dann den zusätzlichen Vermerk, dass es nun keiner Entscheidung über die Verweigerung mehr bedürfe. Der Antrag kam also gar nicht bis zum Prüfungsausschuss und wurde folglich dort auch nicht registriert. Das war geändert worden. Für das neue Gesetz hatte die Bundeswehrverwaltung angeordnet, dass die Kreiswehrersatzämter alle Kriegsdienstverweigereranträge sofort registrieren, nicht etwa erst wie bisher nach der Musterung die Anträge der Einberufbaren. Das veränderte die Statistik grundlegend, doch wurde das dem Gericht verschwiegen. Alle Anträge von Leuten, die später untauglich gemustert wurden oder aus anderen Gründen nicht einberufbar waren, wurden jetzt mitgezählt. Zusätzlich wurden alle Anträge registriert, die bis dahin überhaupt nicht beachtet wurden, etwa die Protestanträge von Rentnern, die Sympathieaktionen von Freundinnen der Verweigerer und die Anträge pazifistischer Eltern, die für ihr Baby eine Kriegsdienstverweigerung erklärten. Die verheimlichte Umstellung der Statistik war regelrechter Betrug und täuschte einen Berg von Kriegsdienstverweigereranträgen vor, den es nicht gab. Tatsächlich hatte sich fast nichts an der Zahl der Anträge, die bisher registriert wurden, geändert. Aber die Täuschung führte dazu, dass das Bundesverfassungsgericht meinte, es könnten nicht alle Kriegsdienstverweigerer Ersatzdienst leisten, und sozusagen die Notbremse zog.

Natürlich kann man fragen, ob ein Urteil, dass durch solchen statistischen Betrug erwirkt wird, dem Verfassungsgericht zum Vorwurf gemacht werden darf. Ich denke, dass man das aus zwei Gründen sogar muss. Einmal gilt alles, was der Richter Hirsch in seinem abweichenden Votum gesagt hat. Der frühere Abgeordnete war nicht so einfach bereit, den Angaben und Wünschen des Ministeriums zu folgen. Und dann muss man von einem Gericht verlangen, dass es den Tatbestand gründlich aufklärt. Bei Verfassungsstreitigkeiten gibt es nicht den Weg durch die Instanzen, bei dem der Tatbestand vorher sorgfältig erhoben wird. Deshalb muss das Verfassungsgericht die Sache selbst aufklären und hat die Pflicht, das gewissenhaft zu tun. Dass das unterblieben ist und man sich einfach auf die Angaben des Verteidigungsministeriums verlassen hat, ist nur verständlich aus einem tiefen Misstrauen gegenüber den Kriegsdienstverweigerern und einem übertriebenen Vertrauen in die Angaben der Regierung. Die ungeheuren statistischen Veränderungen hätten misstrauisch machen müssen. Zur Entschuldigung des Gerichtes kann man allenfalls anführen, dass nach der einstweiligen Anordnung keine Gegenvorstellung der Regierung erfolgte, auf die das Gericht hätte reagieren können. Aber die war natürlich von dem Ministerium, das für die Täuschung des Gerichts verantwortlich war, nicht zu erwarten. So bleibt die Frage, ob das Gericht wenigstens später, als der Betrug bekannt wurde, korrigierend eingegriffen hat. Das hat es nicht getan, sondern die aus der Situation erlassene Anordnung, dass der Staat sich von der Verweigerung überzeugen muss, ebenso unverändert gelassen wie die Anordnung, dass Kriegsdienstverweigerer Ersatzdienst leisten müssen. Die Feststellung, dass die Wehrpflicht unter der Herrschaft des Artikels 3 GG steht, hat das Gericht auch nicht gegenüber der Bundeswehr durchgesetzt, als nur noch wenige Wehrpflichtige einberufen wurden. Vorlagebeschlüsse von Gerichten, die auf die fehlende Wehrgerechtigkeit hinwiesen und sie als ungerecht beanstandeten, weil das Verfassungsgericht die Beachtung von Artikel 3 GG zur Pflicht gemacht hatte, wurden mit Verfahrensrügen abgebügelt. (Zur Kritik z.B. an einer solchen Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vgl den Beitrag von Glenewinkel/Tobiassen in "Forum Pazifismus" 23, 15 ff. - Anm. d. Red.)

1984/1985 bei dem Prozess über das Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz (BVerfGE 8, 354 ff.) ist das Bundesverfassungsgericht wieder, diesmal sogar auf mehrfachen statistischen Betrug des Verteidigungsministeriums hereingefallen. Um die Prüfungsverfahren weitgehend auszusetzen und trotzdem die Forderung des Verfassungsgerichtes von 1978 zu erfüllen, sollten Verweigerer im Ersatzdienst zum Beweis des Ernstes ihrer Gewissensentscheidung ein Drittel länger dienen als die Grundwehrdienstleistenden der Bundeswehr. Dagegen klagten die SPD-Fraktion und die von der SPD geführten Landesregierungen. In der mündlichen Verhandlung ging es um die Begründung der langen Zusatzdienstzeit, die Artikel 12a Abs. 2 Satz 2 GG verbietet. Die Regierung argumentierte mit mehreren Vergleichen, die die höhere zeitliche Belastung der Soldaten belegen und damit die Zusatzdienstzeit rechtfertigen sollten.

Zunächst ging es um die Wochendienstzeiten. Die seien bei Soldaten viel länger als bei Zivildienstleistenden. Verschwiegen wurde, dass die Statistiken ungleich waren. Im Wehrdienst wurde alles gezählt, was auf dem Dienstplan stand von Aufstehen, Waschen, Anziehen, Bettenmachen und Stubenreinigen bis zum Dienstende ohne Abzug von Pausen. Im Zivildienst wurden aber Abzüge gemacht: Dienst in der Unterkunft wurde bis zu täglich zwei Stunden nicht gerechnet, Waschen, Anziehen etc. sowieso nicht. Gezählt wurde in Anlehnung an die Tarifverträge der zivilen Beschäftigten dann nur die tatsächliche Dienstzeit, und die wurde bei Bereitschaftsdienst noch heruntergerechnet auf die dabei durchschnittlich zu leistende Arbeit. Trotzdem wurde behauptet, die Berechnungen seien gleich. Verschwiegen wurde außerdem, dass es bei der Bundeswehr zusätzlich noch Zeitgutschriften gab, jeweils 24 Stunden zusätzlich zum Dienst laut Dienstplan für jeden Tag im Manöver, auf dem Truppenübungsplatz, im Wachdienst oder bei der Marine auf See. Der Dienst eines Soldaten an einem Tag konnte bei dieser Berechnung so lang sein wie zwei Kalendertage. Die Dienstzeitberechnungen waren also in keiner Weise vergleichbar.

Ein zweites Argument waren die Wehrübungen und die Verfügungsbereitschaft. Die Statistik der Wehrübungen war auch irreführend. Es wurden nämlich nicht die Übungen der Wehrpflichtigen aufgeführt, die allein mit Zivildienstleistenden vergleichbar sind, sondern alle Übungen, auch die der ehemaligen Zeit- und Berufssoldaten, die als Kader oder Vorgesetzte auf dem Laufenden gehalten werden sollten, und die freiwilligen Übungen der Reservisten, die höhere Dienstgrade erwerben wollten. Zusätzlich wurde behauptet, die Übungen würden demnächst verdoppelt. Tatsächlich wurde die Zahl der Übungsplätze sofort nach dem Urteil von 5.000 auf 3.000 reduziert, und selbst von diesen wurden nur 2.000 in Anspruch genommen, weil Übungen von Reservisten wegen der Erstattung von Verdienstausfall sehr teuer sind. Von der Verfügungsbereitschaft wurde bis dahin (übrigens auch seitdem) nie Gebrauch gemacht. Wie 1977/78 hat die Regierung das Verfassungsgericht statistisch getäuscht, und wieder ist das Gericht darauf hereingefallen, hat das Gesetz im Wesentlichen gebilligt. Einzige Korrektur: Im Kriege müssen Soldaten, die einen Kriegsdienstverweigerungsantrag stellen, sofort vom Dienst an der Waffe befreit werden.


Militär wichtiger als Gewissen

Überblickt man die Geschichte der Rechtsprechung zum Grundrecht der Gewissensfreiheit der Kriegsdienstverweigerer, so muss man sagen, dass zwar oft das Grundrecht zitiert und als wichtig hingestellt wurde. Aber im Ergebnis war regelmäßig das Interesse der Bundeswehr wichtiger mit verschiedenen Begründungen. Mal ging es um die Wehrpflicht international, mal um die Werteordnung des Grundgesetzes, mal um die Beschränkung des Rechtes der Verweigerer ganz gezielt nur auf den Absatz 3 des Artikels 4 GG, aber nie um den Schutz der Gewissensfreiheit, schon gar nicht die der totalen Kriegsdienstverweigerer, auch nie um die Schwierigkeiten und skandalösen Fehlurteile der Anerkennungsverfahren oder den Friedensauftrag des Grundgesetzes. Stattdessen wurde die Wehrpflicht als staatsbürgerliche Pflicht von hohem Rang in den höchsten Tönen gelobt, gar zur verfassungsrechtlichen Pflicht erklärt. Sogar die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr wurde der Würde des Einzelnen und seinem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG vorgezogen. Dem entsprechen die Urteile zu den militärischen Auslandseinsätzen und zur Nato. Die "neue Nato", die völkerrechtswidrig mit dem Ersteinsatz von Atombomben droht und ihr festgelegtes Vertragsgebiet am ratifizierten Vertrag vorbei durch einfachen Beschluss auf die ganze Welt ausgeweitet hat, wurde ohne neue parlamentarische Zustimmung gebilligt, weil sie ja weiterhin das Ziel habe, Frieden zu erhalten. Das klassische Militärbündnis wurde gar zu einem System gegenseitiger (also Fronten übergreifender) kollektiver Sicherheit erklärt. So hilfreich das Bundesverfassungsgericht in vielen Fragen der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit war und ist, so einseitig war es bisher leider im Zweifel für die Bundeswehr.

Wie kommt es dann zu Verbesserungen für die Kriegsdienstverweigerer? Bisher waren es politische Entscheidungen, die geholfen haben. Die zusätzlichen neun Monate im zivilen Ersatzdienst, die das Verfassungsgericht nicht beanstandet hatte, wurden 1972 mit dem Zivildienstgesetz abgelöst durch die Regelung, dass nur für jeden tatsächlichen angefangenen Monat Wehrübungszeit pauschal ein Monat an den Zivildienst angehängt wurde. Der 1978 gescheiterte Verzicht auf viele mündliche Prüfungsverfahren kam doch noch 1984 mit dem Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz. Der Preis dafür war allerdings die Verlängerung des Zivildienstes um ein Drittel.

Dass aus der Drittelverlängerung nur eine Zusatzdienstzeit von drei Monaten wurde, ist eine lustige Geschichte. Vorausgegangen war wieder ein Betrugsversuch des Bundesministeriums der Verteidigung. 1989 hatte es mit Alarmmeldungen über bald fehlende Wehrpflichtige erreicht, dass die Verlängerung der Dienstzeiten für Soldaten von 15 auf 18 Monate, für Zivildienstleistende von 20 auf 24 Monate gesetzlich vorgesehen wurde. Dabei war dem Bundestag zugesagt worden, dass davon nur Gebrauch gemacht würde, wenn nicht mehr ausreichend Wehrpflichtige zur Verfügung stehen. 1990 wurde nun behauptet, es gebe nicht mehr genügend Wehrpflichtige, die verlängerten Dienstzeiten seien jetzt notwendig. Als ich nachrechnete, kam ich darauf, dass noch mindestens 700.000 einberufbare Wehrpflichtige zur Verfügung standen. Die "Frankfurter Rundschau" brachte meine Rechnung groß auf der ersten Seite und löste heftige Aktivitäten in Bonn aus, über die es bisher nur Gerüchte gibt. Intern soll der FDP-Vorsitzende Lambsdorff Auskunft verlangt haben, aber weder vom Generalinspekteur noch vom Parlamentarischen Staatssekretär der Hardthöhe eine befriedigende Antwort erhalten haben. Daraufhin soll er in der Runde der Parteichefs verlangt haben, auf die Verlängerung der Dienstzeiten zu verzichten, was aber am CSU-Vorsitzenden Waigel gescheitert sein soll. Für die FDP bohrten die Jungliberalen weiter. Auf Nachfragen von Journalisten im Verteidigungsministerium wurden verschiedene Zahlen genannt. Damit fiel der Schwindel auf. Das führte zu solchen Protesten, dass die Verlängerung nicht exekutiert wurde.

Im gleichen Jahr kamen dann der 2+4-Vertrag und die deutsche Vereinigung. Deutschland wurde verpflichtet, die Bundeswehr zu verkleinern. Deshalb wurde die Dienstzeit bei der Bundeswehr auf 12 Monate verkürzt. Bei der Pressekonferenz wurde Verteidigungsminister Stoltenberg gefragt, was das für den Zivildienst bedeute. Er antwortete: "15 Monate." Der frühere Finanzminister hatte sich verrechnet! Das ergab für die Regierung ein Dilemma: Sollte sie das zugeben oder so tun, als ob nur noch drei Zusatzmonate verlangt werden? Sie entschloss sich für die zweite Möglichkeit. Diese drei Zusatzmonate wurden dann nach und nach gestrichen, weil das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Sparmaßnahmen verpflichtet wurde und die Zentralstelle KDV vorrechnete, welches Sparvolumen ein Monat Dienstzeit bietet. Auch eine andere Verbesserung lief über politische Entscheidungen. Die Zuständigkeit für die Prüfungsverfahren wurde von der Wehrverwaltung auf das Bundesamt für den Zivildienst übertragen, das nicht für die Einberufung der Soldaten sondern der Zivildienstleistenden zuständig ist. Die andere Interessenlage wirkte sich so aus, dass inzwischen fast alle Anträge von Kriegsdienstverweigerern, wenn auch oft erst nach Rückfragen, positiv beschieden werden.

Geblieben sind aber Probleme in der Verwirklichung der Grundrechte. Für Totalverweigerer gibt es immer noch nicht die Anwendung von Artikel 4 Abs. 1 GG, obwohl klar ist, dass für sie jeder Kriegsdienst und jede Vorbereitung ein solche Verbrechen sind, dass sie für das Nichtmitmachen keinen Ersatz leisten können. Sie schaden niemandem, sondern halten sich an Art. 2 Abs. 2 GG, den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit. Trotzdem werden sie kriminalisiert. Manche streiken auch, weil sie die grobe Ungerechtigkeit der willkürlichen Einberufungen Weniger für so gravierend halten, dass sie mit ihrer Verweigerung den Protest deutlich machen wollen, und werden ebenso dafür bestraft.

Für Kriegsdienstverweigerer, die zu einem Ersatzdienst bereit sind, ist nach wie vor zu beanstanden, dass ihr garantiertes Grundrecht nicht einfach gilt, sondern sie einen Antrag mit beigefügtem Lebenslauf nach Verwaltungsrecht stellen müssen, der von staatlicher Seite überprüft wird. Sie müssen beweisen, was nicht bewiesen werden kann. Das entwertet das Grundrecht. Unangemessen ist auch, dass wegen des durch Betrug erschlichenen Urteils von 1978 jeder irgend taugliche und verfügbare Verweigerer zu einem Ersatzdienst herangezogen wird, während von denen, die nicht verweigern, nur ein kleiner Teil in der Bundeswehr dienen muss. Da es keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht gibt, ist vor Gerichten nichts dagegen zu machen. Aber es bleibt dabei: Die willkürliche Heranziehung nur eines Teiles der in Frage kommenden Wehrpflichtigen ist Unrecht. Genau solches Unrecht sollte 1978 mit dem Hinweis auf Art. 3 GG, der Forderung der Wehrgerechtigkeit, beseitigt werden. Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht 1978 die unbegründete Sorge, es gebe zu wenige Dienstmöglichkeiten für Kriegsdienstverweigerer, und hat deshalb deren Einberufung auf jeden Fall angeordnet. Da die fehlenden Einberufungsmöglichkeiten jetzt bei der Bundeswehr liegen, müsste das Bundesverfassungsgericht entsprechend eingreifen. Das kann es leicht, indem es einen Vorlagebeschluss eines Verwaltungsgerichtes, der auf die heutige Ungerechtigkeit hinweist, aufgreift. Dass es das nicht tut, ist schwer verständlich. Man kann es nur so deuten, dass das Gericht im Zweifel auf die Interessen der Bundeswehr achtet, aber deshalb noch lange nicht für das Recht der Kriegsdienstverweigerer sorgt.


Ulrich Finckh, geb. 1927, Pfarrer i.R. in Bremen, war seit 1963 kirchlicher Beauftragter für KDV, 1971 bis 1978 Bundesgeschäftsführer der Evang. Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer, 1971 bis 2003 Vorsitzender der Zentralstelle KDV, seit 1972 Vorstandsmitglied des Sozialen Friedensdienstes Bremen, 1974 bis 2004 Mitglied im Beirat für den Zivildienst (beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend).


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 24, IV/2009, S. 3 - 10
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
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KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2010