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STANDPUNKT/106: Rote Karte für die Preisgabe des Grundsatzes "Nie wieder Krieg!" (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 4 - Oktober 2012
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Rote Karte für die Preisgabe des Grundsatzes "Nie wieder Krieg!"
Deutlich machen, dass nur noch gewaltfreie Methoden der Konfliktbearbeitung akzeptiert werden

Von Wolfram Wette



Seit 1990 erleben wir in Deutschland eine schleichende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Ihre Folgewirkungen strahlen längst auch auf die Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik aus.

Dies geschieht in einem Land,

- dessen Mehrheitsgesellschaft sich nach 1945 in der Überzeugung "Nie wieder Krieg!" einig wusste;

- in dem die Menschen seit den 1950er Jahren lernten, dass man keine Territorien erobern muss, um die eigene Bevölkerung ernähren zu können, sondern dass Wohlstand und soziale Sicherheit im Frieden viel besser gedeihen und selbst der Export von Waren davon profitiert;

- in dem Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende nach und nach größeres Ansehen gewonnen haben als die Wehrdienstleistenden;

- dessen Bundespräsident Gustav W. Heinemann (SPD), vormals ein führender Gegner der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, bei seiner Antrittsrede vor Bundestag und Bundesrat in Bonn am 1. Juli 1969 unter großer Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten sagen konnte: "Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben."

- das sich nach 1945 einer Außenpolitik der militärischen Zurückhaltung befleißigt hat und damit gut gefahren ist.

Dies geschieht in einem Land,

- das sich nach dem Ende des Kalten Krieges und der überraschend möglich gewordenen deutschen Einigung in der höchst komfortablen Lage befand, "Freunde ringsum" zu kennen und keinen einzigen Feind;

- dem sich in dieser Lage die einzigartige Chance eröffnete, die historisch-politischen Erfahrungen verpflichteten Losung "Nie wieder Krieg!" eine Vielzahl friedenspolitischer Schritte folgen zu lassen und sie im internationalen Raum als spezifisch deutschen Beitrag zur "gewachsenen Verantwortung" und zum Weltfrieden vertreten;

- dessen Bevölkerung (West wie Ost) seit Jahrzehnten eine Friedensmentalität entwickelt hat, die - historisch bedingt wahrscheinlich sogar ausgeprägter und belastbarer war und ist als in anderen europäischen Ländern.

Dies geschieht in einem Land,

- dessen Militär in der Umbruchsphase von 1989/90 in eine Art Schockstarre fiel, weil es mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und dem Fehlen von Feinden in eine tiefgreifende Legitimationskrise geriet und sich auch die Frage nach der Sicherheit der Arbeitsplätze in der Bundeswehr und in der Rüstungsindustrie stellte;

- in dem nun Militärführung und Teile der Politik fieberhaft nach neuen Aufgaben für die Streitkräfte suchen: Grenzschutz gegen Flüchtlinge, Einsatz als "Grünhelme" zum Schutz der Natur, Einsatz im Innern gegen Terroristen - und dann eben, dem Wink des amerikanischen Präsidenten Bush sen. folgend, die Idee, eine neue, militärisch definierte Rolle als "partner in leadership" zu übernehmen;

- in dem sich die politischen Parteien seit 1990 Zug um Zug mit dem Kurswechsel hin zu einer Militarisierung der Außenpolitik anfreundeten oder sich mit ihm abfanden. Dabei konnte es den Militärs und der Rüstungsindustrie egal sein, wie die Auslandseinsätze politisch legitimiert wurden: als friedensschaffende Maßnahmen, als Krieg gegen den Terror, als bewaffnete Entwicklungshilfe oder als Krieg für Menschenrechte, nationale Interessen, die Stabilisierung eines brüchigen Staates am Hindukusch oder neoimperialistisch - zur Rohstoffsicherung;

- das im Waffenexport auf dem schändlichen Rang 3 der Liste der größten Rüstungsexporteure gelandet ist und dessen Regierung sich derzeit anschickt, die Richtlinien für Waffenexporte und das restriktive Außenhandelswirtschaftsgesetz zugunsten der deutschen Rüstungsindustrie zu ändern;

- dessen Regierung gleichzeitig dabei ist, per Gesetz einen gesonderten Gerichtsstand für im Ausland eingesetzte Soldaten einzurichten, was einer "durch die Hintertür" erneut etablierten neuen Militärjustiz gleichkommt;

- in dem, kaum dass die Allgemeine Wehrpflicht abgeschafft ist, in den Schulen verstärkt für die - von der Bevölkerung bislang verweigerte - Akzeptanz der weltweiten Militäreinsätze geworben wird;

- in deren Hochschulen sich die Tendenz breit macht, Zivilklauseln gegen Kriegsforschung nicht zu akzeptieren oder sie zu unterlaufen.

Der Übergang zu einer militärisch instrumentierten Außenpolitik in den beiden letzten Jahrzehnten wird von ihren Verfechtern gerne als ein naturgegebener Prozess dargestellt. Das Gegenteil ist richtig. Heute ist es an der Zeit, dass die deutsche Zivilgesellschaft den Vertretern, Planern und Machern der militärischen Interventionspolitik die "Rote Karte" zeigt und klar macht, dass in Deutschland nur noch gewaltfreie Methoden der Konfliktbearbeitung akzeptiert werden.


Prof. Dr. Wolfram Wette ist DFG-VK-Mitglied; bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Er ist Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesvereinigung Opfer des NS-Militärjustiz.

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Salamitaktik - Militarisierung schreitet voran

"Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. August, unter bestimmten Bedingungen bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Innern der Bundesrepublik für verfassungskonform zu erklären, schreitet die Militarisierung des Lebens der Bundesrepublik weiter voran," erklärte der Politische Geschäftsführer der DFG-VK Monty Schädel.

"Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten die Auslandseinsätze der Bundeswehr stetig ausgeweitet wurden und das Bundesverfassungsgericht ohne Änderung des Grundgesetzes dieses immer abgesegnet hat, findet jetzt eine weitere schleichende Uminterpretation des Verfassungstextes durch das oberste deutsche Gericht statt. Das Bundesverfassungsgericht schafft so erneut Fakten. Selbst wenn heute noch Bedingungen für Inlandseinsätze der Bundeswehr formuliert werden, bleibt zu befürchten, dass diese Bedingungen in Zukunft ähnlich aufgeweicht werden, wie seinerzeit die Bedingungen für die Auslandskriegseinsätze. Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal seine Kompetenzen überschritten und mit der neuen Interpretation die Verfassung geändert."

Der DFG-VK-Bundessprecher wies darauf hin, dass es zum Einsatz der Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten keinerlei Änderungen im Text des Grundgesetzes gegeben hat. Allein mit neuen Interpretationen des Textes durch das Bundesverfassungsgericht wurden Out-of-Area-Einsätze und Teilnahmen an Kriegen weltweit möglich - nachdem es militäraußenpolitisch so formuliert worden war. Jetzt soll es offensichtlich um die gezielte Ausweitung von Militäreinsätzen im Innern gehen", vermutet Schädel. In den vergangenen Jahren wurde immer wieder offen darüber diskutiert, gegen Massenproteste, Arbeitskämpfe oder Occupy Militär auch im Innern einzusetzen, um politische Regierungsentscheidungen so zu untermauern. Teilweise fand der Einsatz von Bundeswehrsoldaten bereits mit fadenscheinigen Begründungen statt. "Offensichtlich haben die Regierenden die viel beschworene freiheitlich demokratische Grundordnung bereits aufgegeben, wenn sie offen mit Inlandseinsätzen des Militärs zur Lösung von Konflikten spekulieren. Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Entscheidung eher zum Abbau der Demokratie in der Bundesrepublik beigetragen, als dass es das Grundgesetz geschützt hätte."

Durch die jüngste Entscheidung des Verfassungsgerichtes fühlt die DFG-VK sich in ihrer Forderung nach Abschaffung es Militärs bestätigt. Das Vorhandensein des Militärs verführt Politik offensichtlich immer wieder dazu, das System von Befehl und Gehorsam für die Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen - selbst wenn sie sich demokratisch gebärdet.

Presseerklärung von Monty Schädel, Politischer Geschäftsführer der DFG-VK

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 4 - Oktober 2012, S. 14-15
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
Redaktion: ZivilCourage, Am Angelweiher 6, 77974 Meißenheim
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Internet: www.zc-online.de
 
Erscheinungsweise: zweimonatlich, sechs Mal jährlich
Jahres-Abonnement: 14,00 Euro einschließlich Porto
Einzelheft: 2,30 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2013