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RECHT/039: Hohe Hürden für die Onlinedurchsuchung (Mitteilungen)


MITTEILUNGEN Nr. 200, I - April 2008
Humanistische Union für Aufklärung und Bürgerrechte

3:0 für die Bürgerrechte?
Ein neues Grundrecht baut hohe Hürden für die Onlinedurchsuchung auf

Von Bettina Winsemann


Innerhalb weniger Wochen fällte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe drei Urteile, die nicht nur Bürgerrechtler und Datenschützer aufhorchen ließen. Die Richterinnen und Richter beendeten das automatische Scannen von KFZ-Kennzeichen in Hessen und Schleswig-Holstein, sie schränkten mit einer einstweiligen Anordnung den staatlichen Zugriff auf die seit 1. Januar gespeicherten Vorratsdaten ein und schufen nicht zuletzt mit ihrer Entscheidung über die sogenannte Online-Durchsuchung ein neues Grundrecht. [1] Obwohl in allen drei Fällen die angegriffenen Gesetze für verfassungswidrig erklärt bzw. in ihrer Anwendung stark eingeschränkt wurden, boten die Entscheidungen auch aus bürgerrechtlicher Sicht genügend Diskussionsstoff: Was bedeuten diese Urteile für die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger? Sind ihre Daten und Bewegungen im Straßenverkehr nun besser geschützt als zuvor? Oder entpuppen sich die Entscheidungen bei näherer Betrachtung als Pyrrhussieg oder gar als Niederlage?

Das Urteil zur Online-Durchsuchung (OD) war von Anfang an gespannt erwartet worden. Aus dem Bundesverfassungsgericht war schnell zu vernehmen, dass die Richter nicht nur über das strittige nordrhein-westfälische Gesetz, sondern auch über die Grenzen einer staatlichen Online-Durchsuchung im Allgemeinen urteilen wollten. Zwar richteten sich Teile der Verfassungsbeschwerde auch gegen andere Aspekte des Gesetzes, im Zentrum der Aufmerksamkeit stand jedoch immer die Online-Durchsuchung. Dabei fand sich der Begriff nicht einmal in dem Verfassungsschutzgesetz selbst, welches mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wurde. Dort war von einem "heimliche(n) Zugriff auf informationstechnische Systeme auch mit Einsatz technischer Mittel" die Rede. Dies wurde von manchen Kritikern angemerkt und die Aufregung um mögliche Online-Durchsuchungen deshalb als Hoax, als eine staatliche Überwachungslegende abgetan. Die Zweifel am Realitätsgehalt der Online-Durchsuchung wurden dadurch gestärkt, dass die Vertreter des nordrhein-westfälischen Landesamtes für Verfassungsschutz bei der mündlichen Verhandlung im Oktober 2007 zugeben mussten, dass ihre Behörde überhaupt nicht über die Mittel für einen Einsatz des Instruments verfüge. Außerdem wurde immer wieder beschrieben, mit welchen einfachen Mitteln sich jene, die von einer solchen Überwachung betroffen sein könnten (Schwerstkriminelle...), dagegen schützen könnten.

Die Kritik an der Durchführbarkeit von Online-Durchsuchungen übersieht jedoch einen wichtigen Punkt: Unabhängig davon, ob eine solche Durchsuchung beim angesprochenen Klientel überhaupt technisch umsetzbar wäre, würde sie das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in ihr eigenes Rechnersystem, vor allem ihr Vertrauen in staatliche Software untergraben. Das war nur einer der Gründe, warum eine Verfassungsbeschwerde sinnvoll erschien.

Das Problem eines Vertrauensverlustes durch staatliche Schadsoftware wie den "Bundestrojaner" wurde im April 2007 erfolgreich vom Chaos Computer Club aufgegriffen. Er teilte in einem Aprilscherz mit, der Bundestrojaner sei in der staatlichen Steuersoftware "Elster" gefunden worden. [2] Obwohl dieser Hoax natürlich schnell dementiert wurde, machte er deutlich, welche Auswirkungen nicht zuletzt auch die unbedachten Äußerungen der Politiker und Strafverfolger zur Folge hatten, die schon einmal laut überlegten, ob eine OD nicht mit Hilfe einer durch staatliche Software heimlich eingeschleusten Software stattfinden könnte. Eine Technik, die man bisher nur von Spyware-Anbietern kennt.

Mit ihrer Entscheidung haben die Richter, wie es zu Recht angemerkt wurde, salomonisch und listig gehandelt. Auch wenn sie die Online-Durchsuchung nicht komplett verboten, haben sie ihr ähnlich hohe Hürden auferlegt wie beim Großen Lauschangriff. Um eine OD künftig überhaupt in Erwägung zu ziehen, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: Es muss eine konkrete Gefahr vorliegen, die ein überragend wichtiges Rechtsgut bedroht. Nur bei unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben einer Person oder bei konkreter Bedrohung für den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen dürfen die Ermittler über eine Online-Durchsuchung anfangen nachzudenken. Außerdem ist ein Richtervorbehalt zwingend vorgesehen.

Gerade bei dieser Entscheidung gingen die Bewertungen des Urteils von Anfang an weit auseinander. So sahen viele in der Tatsache, dass die Richter in Karlsruhe die Online-Durchsuchung nicht komplett verboten, eine schwere Niederlage für diejenigen, die sich für die Privatsphäre engagierten. Die Kläger sahen das anders - sie empfanden das Urteil nicht nur in einem Punkt als richtungsweisend.

Nun kommt von vielen Kritikern der Einwand, der Richtervorbehalt sei heutzutage eine Farce, da Richter überlastet und allzu bereit sind, vorgefertigte Anordnungen zu unterzeichnen ohne sich selbst umfangreich mit der Materie zu befassen. Eine nicht ganz von der Hand zu weisende Kritik, die auch durch entsprechende Studien [3] und Beobachtungen gestützt wird. Was aber bei dem Urteil zur OD noch hinzukommt, ist, dass einerseits die Datenerhebung grundsätzlich zu unterbleiben hat, falls im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren wird. Andererseits muss nicht zuletzt bewiesen werden, dass die ermittelten Daten echt sind. Eine technische Echtheitsbestätigung der erhobenen Daten setzt grundsätzlich eine exklusive Kontrolle des Zielsystems im fraglichen Zeitpunkt voraus, so das Urteil. Für Zwecke der Strafverfolgung wird die Online-Durchsuchung deshalb kaum zu gebrauchen sein.

Für die Kläger war das Urteil nicht nur aus diesem Aspekt heraus als Sieg zu bewerten. Hinzu kam die Tatsache, dass das monierte Gesetz in vielen Bereichen der geforderten Normenklarheit und Verhältnismäßigkeit nicht genügte und als verfassungswidrig eingestuft wurde. Schließlich nutzte das Bundesverfassungsgericht das Urteil, um ein neues Grundrecht zu definieren. Mit dem "Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG" wollten die Richter etliche Lücken schließen, die sich durch die Anwendung neuer Techniken aufgetan haben.

Der Begriff "informationstechnisches System" verhindert, dass sich das neue Grundrecht nur auf den PC oder das Internet beschränkt. Vielmehr wurde hier berücksichtigt, dass die Technik weiter fortschreitet und somit beispielsweise auch intelligente Prothesen einmal in die Liste der Systeme geraten könnten, auf deren Zugriff die Begehrlichkeiten von Strafverfolgung und Politik schielen. Interessant ist ferner, dass das Gericht es allgemein für unabdingbar hielt, dass auch der Staat die Integrität und Vertraulichkeit der informationstechnischen Systeme achtet - eine Missachtung würde die freie Entfaltung der Menschen, die heutzutage zunehmend auf die Nutzung von Informationstechniken angewiesen sind, behindern. Und nicht zuletzt äußerte das Gericht seine Skepsis hinsichtlich prophylaktischer Datenansammlungen - was bei Themen wie der Vorratsdatenspeicherung und vielen weiteren Datenerhebungsideen noch eine große Rolle spielen dürfte.

Bei der Entscheidung über Online-Durchsuchungen deshalb von einem Pyrrhussieg oder gar einer Niederlage zu sprechen, ist zu einfach. Was die Richter am 27. Februar 2008 in Karlsruhe vorgelegt haben, ist eine weise Entscheidung.


Bettina Winsemann (Twister) ist freie Autorin und eine Beschwerdeführerin gegen die Online-Durchsuchung im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz


Anmerkungen:

[1] Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.2.2008, im Internet unter:
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20080227_1bvr037007.html

[2] Pressemitteilung des Chaos Computer Clubs von 1. April 2007, online unter:
http://www.ccc.de/updates/2007/bundestrojaner-elster

[3] Otto Backes & Christoph Gusy (2003): Wer kontrolliert die Telefonüberwachung? Eine empirische Untersuchung zum Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung. Peter Lang. Zusammenfassung im Internet unter:
http://www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Aktuelles/pdf/backes_kurzfassung_ telefonueberwachung.pdf


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Quelle:
Mitteilungen der Humanistischen Union e.V.
Nr. 200, I - April 2008, S. 1-2
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2008