Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → INITIATIVE

FREE GAZA/189: Ereignisfragmente - Augenzeugenbericht eines Passagiers der Mavi Marmara (Jamal Elshayyal)


The Free Gaza Movement - Montag, 7. Juni 2010

Erschreckender Bericht von einem der Passagiere an Bord der Mavi Marmara

Von Jamal Elshayyal (*)


Erst einmal muß ich mich dafür entschuldigen, daß ich solange dafür gebraucht habe, meinen Blog auf den neuesten Stand zu bringen. Die Ereignisse der letzten Tage waren gelinde gesagt hektisch, und ich versuche noch immer, irgendwie mit dem klarzukommen, was passiert ist.

Genau zu diesem Zeitpunkt stand ich vor einer Woche auf Deck der Mavi Marmara und sah zum ersten Mal israelische Kriegsschiffe in der Ferne, die sich der Flottille näherten. Ich wußte noch nicht, wie tödlich und blutig die Ereignisse sein würden, die bald darauf eintraten.

Was ich in diesem Beitrag schreibe, entspricht den Tatsachen, jeder einzelne Buchstabe, nichts davon ist eine Meinungsäußerung, nichts davon ist Analyse. Das werde ich Ihnen, den Lesern überlassen.

Nachdem die Kriegsschiffe in der Ferne gesichtet worden waren (etwa um 23.00 Uhr) forderten die Organisatoren die Passagiere auf, ihre Schwimmwesten anzuziehen und im Schiffsinneren zu bleiben, während sie die Situation weitere beobachteten. Die Kriegsschiffe blieben zusammen mit den Hubschraubern einige Stunden lang auf Abstand.

Um 2.00 Uhr Ortszeit informierten mich die Organisatoren, daß sie das Schiff auf einen Kurs gebracht hätten, der so weit von Israel wie möglich entfernt und so tief wie möglich in internationalen Gewässern lag. Sie wollten keine Konfrontation mit dem israelischen Militär, zumindest nicht bei Nacht.

Kurz nach 4.00 Uhr Ortszeit griff das israelische Militär das Schiff in internationalen Gewässern und völlig unprovoziert an. Tränengas wurde eingesetzt, Schallgranaten abgeschossen und gummiummantelte Stahlgeschosse wurden aus fast allen Richtungen abgefeuert.

Dutzende Schnellboote, die im Schnitt 15-20 maskierte israelische Soldaten an Bord hatten, die bis an die Zähne bewaffnet waren, umkreisten die Mavi Marmara, die rund 600 unbewaffnete Zivilisten beförderte. Zwei Hubschrauber zur Zeit schwebten über dem Schiff. Kommandos an Bord der Helikopter fingen gleichfalls an, mit scharfer Munition zu feuern, bevor auch nur ein Soldat auf dem Schiff gelandet war.

Zwei unbewaffnete Zivilisten wurden nur wenige Meter von mir entfernt getötet. Dutzende unbewaffnete Zivilisten wurden vor meinen Augen verletzt.

Ein israelischer Soldat, der eine riesige Automatikwaffe und eine Pistole an der Seite trug, wurde von mehreren Passagieren überwältigt. Sie haben ihn entwaffnet. Sie haben seine Waffen weder benutzt noch abgefeuert, stattdessen haben sie seine Waffen über Bord ins Meer geworfen.

Nach dem, was mir zu dem Zeitpunkt etwa eine halbe Stunde zu sein schien, hißten Passagiere an Bord eine weiße Fahne. Die israelische Armee fuhr fort, scharf zu schießen. Die Schiffsorganisatoren machten eine Lautsprecherdurchsage, daß sie sich mit dem Schiff ergeben hätten. Die israelische Armee schoß weiter mit scharfer Munition.

Ich war der letzte, der das Oberdeck verließ.

Unten hatten sich alle Passagiere im Schlafbereich versammelt. Es herrschte Schock, Wut, Angst, Schmerz, Chaos.

Ärzte rannten in alle Richtungen und versuchten, die Verwundeten zu behandeln, Blut war auf dem Boden, Tränen liefen über die Gesichter der Menschen, Schmerzensschreie und Schreie der Trauer waren überall zu hören. Tod lag in der Luft.

Drei schwerverletzte Zivilisten wurden auf dem Boden im Empfangsbereich des Schiffes behandelt. Ihre Kleidung war blutgetränkt. Passagiere standen im Schockzustand daneben, einige lasen laut Verse aus dem Koran vor, um sie zu beruhigen, Ärzte arbeiteten verzweifelt daran, sie zu retten.

Es wurden verschiedene Lautsprecherdurchsagen auf hebräisch, arabisch und englisch gemacht: "Das ist eine Botschaft an die israelische Armee. Wir haben uns ergeben. Wir sind unbewaffnet. Wir haben Schwerverletzte. Bitte kommen Sie, um sie abzuholen. Wir werden nicht angreifen."

Es gab keine Antwort.

Eine von den Passagiere, die ein Mitglied des israelischen Parlaments war, schrieb ein Schild auf hebräisch, mit genau dem gleichen Wortlaut. Sie hielt es zusammen mit einer weißen Fahne hoch und näherte sich den Fenstern, vor denen die Soldaten draußen standen. Sie zielten mit ihren lasergesteuerten Waffen auf ihren Kopf, und machten ihr Zeichen, sie solle weggehen.

Ein Brite versuchte es mit dem gleichen Schild, nur hielt er diesmal eine britische Fahne und trug es zu anderen Fenstern und einer anderen Gruppe von Soldaten. Sie antworteten auf die gleiche Weise.

Drei Stunden später erklärte man drei der Verwundeten für tot. Die israelischen Soldaten, die ihnen die Behandlung verweigert hatten, waren dort erfolgreich, wo ihre Kollegen zuvor versagt hatten, als sie mit Kugeln auf diese drei Männer schossen.

Um etwa 8.00 Uhr drang die israelische Armee in die Schlafräume ein. Sie legten den Passagieren Handschellen an. ich wurde mit den Rücken gefesselten Händen zu Boden geworfen, ich konnte mich kein Stück weit bewegen.

Man brachte mich auf's Oberdeck, auf dem sich die anderen Passagiere befanden, zwang mich, mich unter der brennenden Sonne hinzuknien.

Die Hände eines der Passagiere waren so festgezurrt, daß seine Handgelenke alle Farben aufwiesen. Als er darum bat, man möge die Fessel lockern, zog ein israelischer Soldat sie noch fester. Er stieß einen Schrei aus, der mir durch Mark und Bein ging.

Ich bat, zur Toilette gehen zu dürfen, man hinderte mich daran; stattdessen meinte der Soldat, ich sollte dort, wo ich mich befand, in meine Kleidung urinieren. Drei oder vier Stunden später erlaubte man mir zu gehen.

Man führte mich dann zusammen mit den anderen Passagieren zurück ins Schlafquartier. Der Ort war durchsucht worden und sah aus wie nach einem Erdbeben.

Ich blieb auf dem Schiff, im Sitzen, ohne etwas zu essen oder zu trinken, außer drei Schlucken Wasser in über 24 Stunden. Die ganze Zeit hielten die israelischen Soldaten ihre Gewehre auf uns gerichtet. Die Hand am Auslöser. Über 24 Stunden lang.

In Ashdod brachte mich dann vom Schiff, wo man von mir verlangte, eine Ausweisungserklärung zu unterschreiben, die lautete, daß ich illegal nach Israel eingereist und einverstanden sei, ausgewiesen zu werden. Ich erklärte dem Beamten, daß ich faktisch nicht nach Israel eingereist sei, sondern daß die israelische Armee mich in internationalen Gewässern entführt und gegen meinen Willen nach Israel gebracht hätte; deshalb könnte ich dieses Dokument nicht unterschreiben.

Man nahm mir meinen Paß ab. Man erklärte mir, ich würde ins Gefängnis kommen.

Erst dann wurden mir die Hände losgebunden; ich habe über 24 Stunden mit hinter dem Rücken gefesselten Händen verbracht, mit nichts zu essen und kaum etwas zu trinken.

Als ich im Gefängnis ankam, steckte man mich mit drei anderen Passagieren in eine Zelle. Sie maß ungefähr 12 mal 9 Fuß.(**)

Ich habe über 24 Stunden im Gefängnis verbracht. Man hat mir nicht erlaubt, einen Anruf zu tätigen.

Das britische Konsulat ist nicht gekommen, um nach mir zu sehen. Ich haben keinen Anwalt gesehen.

Es gab kein heißes Wasser zum Duschen.

Die einzige Mahlzeit bestand aus gefrorenem Brot und einigen Kartoffeln.

Ich glaube, daß der einzige Grund, warum ich auf freien Fuß gesetzt wurde, der war, daß sich die türkischen Passagiere weigerten zu gehen, wenn nicht die anderen Nationalitäten (jene, deren Konsulate nicht gekommen waren, um sie zu befreien) auch freigelassen würden.

Man brachte mich zum Flughafen Ben Gurion. Als ich nach meinem Paß fragte, gab mir der israelische Beamte ein Stück Papier und sagte: Glückwunsch, das ist Ihr neuer Paß. Ich antwortete: Sie machen Witze, Sie haben meinen Paß. Die Antwort des israelischen Beamten: "Verklagen Sie mich."

Man forderte mich erneut auf, einen Ausweisungsbescheid zu unterschreiben. Ich weigerte mich von neuem.

Man setzte mich in ein Flugzeug nach Istanbul.

Maskierte israelische Soldaten und Kommandos haben mich in internationalen Gewässern entführt.

Uniformierte israelische Beamte steckten mich hinter Gitter.

Die britische Regierung hat keinen Finger gerührt, um mir zu helfen; bis zum heutigen Tag habe ich weder von einem offiziellen britischen Vertreter etwas gehört noch etwas gesehen.

Die israelische Regierung hat mir den Paß gestohlen.

Die israelische Regierung hat meinen Laptop, zwei Kameras, drei Telephone, 1500 US-Dollar und meine ganze Habe gestohlen.

Meine Regierung, die britische Regierung, hat noch nicht einmal meine Existenz anerkannt.

Ich bin von Israel entführt worden. Ich bin von meinem Land im Stich gelassen worden.


(*) Jamal Elshayyal arbeitet als britischer Journalist für den englischsprachigen Zweig von Al Jazeera
http://blogs.aljazeera.net/profile/jamal-elshayyal

(**) Ein Fuß entspricht einer Länge von rund 0,3 Meter


Der Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/
URL des englischen Originaltextes:
http://blogs.aljazeera.net/middle-east/2010/06/06/kidnapped-israel-forsaken-britain


*


Quelle:
The Free Gaza Movement
Friends of Gaza
E-Mail: friends@freegaza.org
Internet: www.freegaza.org
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2010