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MELDUNG/007: Gaza - Das Haus der Familie Nasser wurde zerbombt (Vera Macht / Inge Neefs)


Das Haus von Nasser und seinen Kindern wurde zerbombt

Von Vera Macht, 1.5.2011


Donnerstag Abend bekam ich den Anruf. Von Inge, meiner ISM Kollegin, die derzeit noch in Gaza ist. "Nassers Haus ist bombardiert worden", sagte sie nur. "Die Rettungskräfte evakuieren gerade die Familie. Ich halte dich auf dem Laufenden." Es hat eine Stunde gedauert, bis ich wusste, dass alle am Leben sind. Eine Stunde, in der die Bilder vor meinen Augen vorbei gezogen sind, wie wir tagelang für die Familie alles lebensnotwendige eingekauft haben, die strahlenden Augen der Kinder, als sie ihre neuen Sachen gesehen haben, die Hoffnung, die wir alle ihnen geben konnten. Wir, und Sie alle, die gespendet haben. Die Hoffnung, die Nassers Familie gleichermaßen uns allen gegeben hat. Hoffnung darauf, dass man an einem Ort wie Gaza, einem Ort an dem das Elend an jeder Ecke ist, dass es auch dort etwas gibt, was man mit vereinten Kräften in Ordnung bringen kann. "Ich habe sie noch nie so glücklich gesehen", hat mir Inge noch in unserem letzten Gespräch erzählt, als ich sie nach den Kindern gefragt habe. "Sie haben draußen gespielt, und sich auf das neue Haus gefreut." "Gaza ist kein Ort für happy ends", hat mir einmal ein Freund aus Gaza gesagt. Gaza ist kein Ort für happy ends, diesen Satz hatte ich in den Ohren, als ich die schreckliche Nachricht bekam. Nassers Haus ist bombardiert worden. Vier Mal. Vier ganze Male. Jeder hat überlebt, so erzählte mir Inge nach einer unendlich lang dauernden Stunde, doch die kleine Maisa, 5 Jahre alt, und Ala, 10 Jahre, waren unter dem Schutt des Hauses begraben worden. Und mit ihnen alles wofür wir alle die letzten Monate gekämpft haben. Für psychologische Betreuung, die Verarbeitung des Tods der Mutter, eine gesicherte Lebensgrundlage, und vor allem - für ein Gefühl von Sicherheit. Ein kleines bisschen Kindheit und Freude inmitten eines lebensfeindlichen Ortes. "Maisa war tapfer", so erzählte mir Inge. Die kleine Maisa ist immer tapfer, mit ihren 5 Jahren, in denen sie Dinge durchgestanden hat, die man in keinem Alter durchstehen kann. Ala war im Schockzustand. Vier Bomben auf ein Familienhaus, das dem israelischen Militär wohlbekannt ist. Eine so himmelschreiende Grausamkeit, dass sie jedes Gefühl von Recht und Unrecht in Schmerz verwandelt. Gaza ist kein Ort für happy ends.

Doch alle haben überlebt. Mit erneutem Trauma, zerstörtem Haus, zerstörten Habseligkeiten, aber alle haben überlebt. Und das heißt, nach vorne zu schauen, immer und immer wieder. Gaza ist kein Ort für happy ends, damit können und dürfen wir uns nicht abfinden. Die psychologische Betreuung wird weitergehen. Wir werden ein neues Haus bauen, wie geplant. Wir werden ein kleines Happy End schaffen, auch und gerade in Gaza.

Blick durch eine zerstörte Wand ins Innere des Hauses. - Foto: ISM Suche in den Trümmern des Hauses. - Foto: ISM

Fotos: ISM

Wohnhaus beschossen - zwei Kinder, eine Frau und ein Mann verletzt

Von Inge Neefs; ISM GAZA, 30. April 2011


"Ich habe letzte Nacht von meiner Frau geträumt, sie sagte mir, dass es heute eine Überraschung für mich geben würde." Nasser Abu Said, 37, freut sich darüber: eine NGO hat bestätigt, dass eine Zuzahlung von US$ 2000 geleistet würde, um den Bau eines neues Hauses für ihn sicherzustellen. Er lächelt oft, aber sein Gesicht ist vorwiegend gezeichnet von seinem täglichen Überlebenskampf.

Es ist so gut, ihn lachen zu sehen, es erinnert mich an das Familienfoto aus glücklicheren Zeiten mit ihm, seiner Frau und den 5 Kindern. Das Foto muss kurz vor den schrecklichen Ereignissen im letzten Jahr aufgenommen worden sein, die die Familie in einen körperlichen und seelischen Abgrund getrieben hat.

Am 13. Juli 2010, einem warmen Sommerabend, den die Abu Said Familie im Freien verbracht hat, wurden sie von der israelischen Besatzungsmacht angegriffen. "Fünf Panzergranaten und eine Flechette- Bombe", erzählte mir Nasser noch einmal, vor zwei Tagen, mit leerem Ausdruck in den Augen. Die Nägel der Bomben durchstießen den Körper seiner Frau, und sie starb, während der Krankenwagen daran gehindert wurde die Verletzte zu erreichen. Ihre fünf Kinder im Alter von 3 bis 12 schauten dabei zu wie sie ihren Verletzungen erlag und ihr Körper langsam leblos wurde.

Am Abend des 28. April war Nasser noch in Gedanken im Traum von seiner Frau, während er im Schlafzimmer lag, als plötzlich die israelische Besatzungsarmee um 20:10 Uhr sein Haus angriff. Innerhalb von fünf Minuten wurden vier Granaten aus einem Panzer gefeuert, der an einer israelischen Basis vor der Grenze stationiert war, 3 km vom Haus der Familie entfernt. Die erste ging geradewegs durch die Wand des Schlafzimmers, in dem Nasser ruhte. Die zweite und dritte durchstießen die Wand des Flurs, in dem drei seiner Kinder spielten, und die vierte traf das Schlafzimmer ein zweites Mal.

"Es war dunkel, der Strom fiel aus, sobald der Angriff begann. Ich hatte Angst, mich zu bewegen, sogar Angst die Lampe an meinem Handy anzumachen. Ich hatte Angst, sie würden wieder schießen, sobald sie eine Bewegung sehen würden. Aber dann hörte ich die Schreie meiner Kinder, die mich riefen damit ich sie unter den Trümmern herausziehe. Ich rannte in den Flur und sah Ala 'unter den Steinen, konnte aber nur sehen wie sich Maisas Hand unter den Trümmern hob", sagt Nasser. "Es war schrecklich. Ich wusste nicht wo meine anderen Kinder waren,und fürchtete dass sie getötet worden waren."

Nach etwa 40 Minuten in größter Angst stellte sich heraus, dass Jaber (3), Baha (7) und Sadi (9) draußen mit ihren Großeltern und physisch unverletzt waren.

"Ala' sah, dass ich in Panik war, und antwortete nur, er wäre in Ordnung, als ich ihn unter den Trümmern hervorgezogen habe. Erst als der Krankenwagen kam, hat er mir von seinen Verletzungen erzählt ", sagt Nasser.

Sowohl Maisa als auch Ala waren von einem Granatsplitter verletzt worden und wurden in das Al-Aqsa-Märtyrer Krankenhaus in Deir al-Baleh gebracht, zusammen mit Nassers Bruder, Mohammed Abu Said (43) und seiner Frau Sana`. Mohammed hat einen Riss in seinem Schädel davongetragen, ein geschwollenes Auge und sein Gesicht ist zerkratzt, während Sana' einen Granatensplitter in ihrem Fuß hat.

Blick in die vollkommen zerstörte Küche des Hauses. - Foto: ISM Blick in ein zerstörtes Zimmer im ersten Stock des Hauses. - Foto: ISM

Fotos: ISM

Die fünfjährige Maisa sitzt barfuß in ihrem rosa Trainingsanzug am Ende des Krankenhausbetts. Sie sieht bleich aus, aber dann merke ich, dass sie voller Staub von den Steinen ist, die auf sie fielen, als die Wände des Flures über ihr zusammenbrachen. Sie setzt ein mutiges Lächeln auf und zeigt mir die Granatsplitterwunde in ihrer Hand. Sie muss über Nacht im Krankenhaus bleiben, weil sie Probleme beim Atmen hat. Neben ihr liegt ihr ältester Bruder Ala ', er leidet, seine Augen flackern nervös. Sein Gesicht verkrampft, als der Arzt sanft seinen Bauch drückt. Er versucht, seinen Gesichtsausdruck zu ändern, aber merkt dass er eine weitere Wunde im Nacken hat, und reagiert mit Panik und Tränen in den Augen. Seine Familienmitglieder stehen unter Schock: "Sie sind Kinder! Es ist empörend!"

Das Einfamilienhaus der Abu Said befindet sich im Ackerland um das Dorf Johr Al-Dik, genau 340 Meter von der Grenze zu Israel entfernt. Derzeit leben 14 Personen im Haus: Nasser und seine fünf Kinder leben auf der zweiten Etage mit seinen Eltern, während sein Bruder im Erdgeschoss mit seiner Frau, zwei Kindern und seiner Schwester lebt. Andere Familien haben das Gebiet in den letzten zehn Jahren wegen der Gefahr verlassen, aber der Familie Abu Said fehlen die Mittel, um in eine sicherere Umgebung umzuziehen. Überfälle mit Bulldozern und Panzern finden jeden Monat statt, während Schüsse fast täglich zu hören sind. Diese Kugeln stellen eine unmittelbare Gefahr dar: Im vergangenen Jahr ist das Haus bei verschiedenen Gelegenheiten getroffen worden, Kugeln fielen auf die Kinder während sie draußen spielten, und ihre Großeltern wurden beschossen, während sie nichts Bedrohlicheres taten, als vor dem Haus eine Tasse Tee zu trinken.

Nachdem seine Frau getötet wurde, schlug Nasser ein Zelt ein paar hundert Meter vom Haus entfernt auf, in der Hoffnung auf einen sicheren Rückzugsort für seine traumatisierten Kinder. Während der Gewalteskalation des letzten Monats zog er in das Haus zurück, denn wieviel Schutz kann ein Zelt gegen Raketen und Bomben bieten? Sobald sich die Dinge beruhigt hatten, verbrachten er und seine Kinder ihre Nächte wieder in den Zelten. Aber sie zogen wieder zurück nachdem die Kindern zwei große schwarze Skorpione in ihren Betten gefangen hatten.

Nasser versuchte verschiedenste Organisationen dazu zu bewegen ihm ein neues Haus zu bauen, weil er vor einem neuen israelischen Angriff Angst hatte. Einige seiner Anträge wurden abgelehnt, aber die meisten verschwanden irgendwo unverdaut in den Mägen der Bürokratie der NGOs. "Vielleicht werden sie mir jetzt helfen, jetzt wo mein Haus zerstört wurde. Es ist bloß eine Schande, dass meine Frau erst noch einmal getötet werden musste; All ihre Habseligkeiten sind in diesem Angriff zerstört worden. Es ist sehr schmerzhaft die Dinge zu verlieren, die ihr so am Herzen lagen."

(Übersetzung von Vera Macht)

Frontansicht des zerstörten Hauses. - Foto: ISM

Foto: ISM

Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Weitere Berichte von Vera Macht über das schwere Schicksal der Familie Nasser finden Sie unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Politik -> Brennpunkt -> Gaza
GAZA/031: Zu Besuch bei Nasser (Vera Macht)
GAZA/027: Ich habe nur noch euch (Vera Macht, ISM)


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Quelle:
ISM - International Solidarity Movement
Berichte vom 30.04. und 01.05.2011
ISM Media Office
Telefon: +972-2/297 18 24
E-Mail: info@palsolidarity.org
Internet: www.palsolidarity.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Mai 2011