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FRAGEN/017: "Hoffnung ist eine Aktion, keine abstrakte Idee" - Ein Einblick in die Arbeit von Combatants for Peace (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

"Hoffnung ist eine Aktion, keine abstrakte Idee"
Ein Einblick in die Arbeit von Combatants for Peace

Interview mit Rana Salman von Reto Thumiger und Vasco Esteves, 1. Dezember 2024


Com­ba­tants for Peace ist eine bi­na­tio­na­le Gras­wur­zel­be­we­gung, die 2006 von ehe­ma­li­gen pa­läs­ti­nen­si­schen und is­rae­li­schen Kämp­fern ins Leben ge­ru­fen wurde. Ihr Ziel ist es, Ge­walt und Be­sat­zung zu be­en­den und eine fried­li­che, ge­rech­te Lö­sung für den Kon­flikt zu för­dern. Die Be­we­gung ba­siert auf den Prin­zi­pi­en der Ge­walt­frei­heit und setzt auf Dia­log, Bil­dung und ge­mein­sa­me Ak­tio­nen, um Brü­cken zwi­schen den Ge­sell­schaf­ten zu bauen. Sie zeigt, dass Zu­sam-

men­ar­beit selbst in einem tief ge­spal­te­nen Um­feld mög­lich ist und Hoff­nung auf eine bes­se­re Zu­kunft bie­tet.

An­läss­lich einer Kon­fe­renz war Rana Sal­man, Co-Di­rek­to­rin von Com­ba­tants for Peace, in Ber­lin und nahm sich Zeit für ein Ge­spräch mit Pres­sen­za. Das In­ter­view führ­ten Reto Thu­mi­ger sowie Vasco Es­te­ves von der por­tu­gie­si­schen Re­dak­ti­on.


Reto Thu­mi­ger:
Com­ba­tants for Peace ist eine Gras­wur­zel­be­we­gung, die von ehe­ma­li­gen is­rae­li­schen und pa­läs­ti­nen­si­schen Kämp­fern ge­grün­det wurde. Bei Ver­an­stal­tun­gen tritt die Or­ga­ni­sa­ti­on immer zu zweit auf, ein Is­rae­li und ein Pa­läs­ti­nen­ser, was ich ein sehr in­ter­es­san­tes Kon­zept finde. Mir ist auf­ge­fal­len, dass das Ko-Prä­si­di­um aus zwei Frau­en be­steht, was ich nicht un­be­dingt er­war­tet hätte.

Rana Sal­man: Ich bin vor vier Jah­ren der Be­we­gung bei­ge­tre­ten. Da­mals waren nur sehr we­ni­ge Frau­en dabei, die Grup­pe war stark männ­lich do­mi­niert. Die Ver­än­de­rung kam lang­sam, viel­leicht nicht be­ab­sich­tigt. Aber es gab eine Of­fen­heit sei­tens der Ak­ti­vis­ten, des Füh­rungs­gre­mi­ums und un­se­rer Mit­be­grün­der, Frau­en mehr Raum zu geben und sie stär­ker ein­zu­be­zie­hen.

Ich brin­ge zum Bei­spiel einen ganz an­de­ren Hin­ter­grund mit als die Grün­der. Ich war nie eine Kom­bat­tan­tin und habe auch nicht aktiv im Kreis­lauf der Ge­walt mit­ge­wirkt. Aber das be­deu­tet nicht, dass ich kei­nen Platz in einer Be­we­gung habe, die sich den Prin­zi­pi­en der Ge­walt­frei­heit und der ge­mein­sa­men Mensch­lich­keit ver­schrie­ben hat. Im Ge­gen­teil: Ge­ra­de das hat Türen ge­öff­net, um Men­schen mit un­ter­schied­li­chen Hin­ter­grün­den ein­zu­be­zie­hen - nicht nur ehe­ma­li­ge Kämp­fer, son­dern auch ge­walt­freie Ak­ti­vis­ten und Ak­ti­vis­tin­nen, Frau­en, junge Men­schen und Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer aus Is­ra­el. Diese Viel­falt hat

un­se­re Be­we­gung be­rei­chert.

Als ich da­zu­kam, war vie­les im­pro­vi­siert: Ein klei­ner Raum in Tel Aviv dien­te als Ar­beits­raum, und in der West­bank tra­fen sich die Ak­ti­vis­ten vor Ort, um ihre Ak­tio­nen zu pla­nen. Trotz knap­per Res­sour­cen trieb uns der Wille zur Ver­bes­se­rung an.

Mit der Zeit be­gann die Be­we­gung zu wach­sen, und es wurde klar, dass sie mehr Struk­tur brauch­te - nicht nur als Be­we­gung, son­dern auch in or­ga­ni­sa­to­ri­scher Hin­sicht. Was wir taten, war un­glaub­lich wich­tig, und immer mehr Men­schen glaub­ten an un­se­re Ar­beit und woll­ten uns un­ter­stüt­zen. Das war der Mo­ment, in dem es not­wen­dig wurde, zu wach­sen, uns zu pro­fes­sio­na­li­sie­ren und qua­li­fi­zier­tes Per­so­nal ein­zu­bin­den. Nur so konn­ten wir Pro­gram­me ent­wi­ckeln, ein brei­te­res Pu­bli­kum er­rei­chen und ins­be­son­de­re mehr junge Men­schen aus bei­den Ge­sell­schaf­ten ein­be­zie­hen.

Genau zu die­ser Zeit bin ich da­zu­ge­kom­men. Wir be­gan­nen, in Beit Jala ein Büro auf­zu­bau­en - im Grun­de star­te­ten wir bei Null und fin­gen an, eine Struk­tur zu schaf­fen, die der Größe und Be­deu­tung un­se­rer Ar­beit ge­recht wurde.

Vasco Esteves und Reto Thumiger beim Interview mit Rana Salman in einem Restaurant mit ihren Arbeitsunterlagen und dem Aufnahmegerät vor sich auf dem Tisch - Foto: © Pressenza

Vasco Es­te­ves von der por­tu­gie­si­schen und Reto Thu­mi­ger von der deut­schen Pres­sen­za-Re­dak­ti­on beim In­ter­view mit Rana Sal­man, der Co-Di­rek­to­rin von Com­ba­tants for Peace
Foto: © Pres­sen­za

Vasco Es­te­ves: Und wann hat die Be­we­gung be­gon­nen? Hat Com­ba­tants for Peace seit Be­ginn des Ga­za­krie­ges ein Wachs­tum der Be­we­gung ver­zeich­net?

RS: Die Be­we­gung wurde 2006 ge­grün­det. Be­son­ders nach Be­ginn des Krie­ges er­leb­ten wir ein Wachs­tum - mehr Men­schen schlos­sen sich uns an. Ein Bei­spiel dafür ist un­se­re Ar­beit im Jor­dan­tal, wo wir Schutz­prä­senz für Hir­ten leis­ten. Un­se­re Ak­ti­vis­ten zu­sam­men mit einer Ko­ali­ti­on aus Or­ga­ni­sa­tio­nen und Ein­zel­per­so­nen be­glei­ten Hir­ten, um sie vor Über­grif­fen zu schüt­zen. Dabei haben wir ge­merkt, dass immer mehr Is­rae­lis In­ter­es­se hat­ten, sich an­zu­schlie­ßen, zu ler­nen und mit­zu­ma­chen.

"Hoff­nung ist keine abs­trak­te Idee. Sie ist eine Ak­ti­on."

Auf pa­läs­ti­nen­si­scher Seite war es hin­ge­gen lange eine Her­aus­for­de­rung, junge Men­schen für die Be­we­gung zu ge­win­nen. Wir haben ein Bil­dungs­pro­gramm für pa­läs­ti­nen­si­sche Ju­gend­li­che zwi­schen 18 und 28

Jah­ren ins Leben ge­ru­fen - ein sechs­mo­na­ti­ges Pro­gramm, das pro Jahr­gang 15 bis 20 Teil­neh­men­de auf­neh­men soll. Als wir vor drei Jah­ren damit an­fin­gen, war es ex­trem schwie­rig, ge­nü­gend junge Leute zu fin­den. In der pa­läs­ti­nen­si­schen Ge­sell­schaft gibt es nach wie vor viel Wi­der­stand gegen ge­mein­sa­me In­itia­ti­ven und Zu­sam­men­ar­beit mit Is­rae­lis. Viele Men­schen sind miss­trau­isch oder füh­len sich un­wohl in ge­mein­sa­men Räu­men.

Nach dem 7. Ok­to­ber muss­ten wir das Pro­gramm aus Si­cher­heits­grün­den für ein paar Mo­na­te un­ter­bre­chen - wegen Stra­ßen­sper­ren, Be­we­gungs­ein­schrän­kun­gen und der Ge­fahr durch Sied­ler­ge­walt. Un­se­re Teil­neh­men­den kom­men aus ver­schie­de­nen Tei­len des West­jor­dan­lands, und wir woll­ten sie kei­ner un­nö­ti­gen Ge­fahr aus­set­zen, be­son­ders junge Män­ner, die oft Ziel­schei­ben mi­li­tä­ri­scher Ge­walt sind.

Als wir im März die Wer­bung für die nächs­te Grup­pe star­te­ten, waren wir von der Re­so­nanz über­wäl­tigt: 93 junge Pa­läs­ti­nen­ser:innen aus dem ge­sam­ten West­jor­dan­land haben sich be­wor­ben. Das war ein hoff­nungs­vol­les Zei­chen. Die­ses Mal haben nicht wir sie ge­sucht - sie haben uns ge­fun­den. Sie sind neu­gie­rig, wol­len die an­de­re Seite ken­nen­ler­nen, ihre Ge­schich­ten tei­len und ihre Wahr­heit aus­spre­chen. Viel­leicht sehen sie in die­sem Raum eine Platt­form, um zu­sam­men­zu­kom­men, sich aus­zu­drü­cken und neue Wege zu ent­de­cken.

Doch es ist nach wie vor ge­fähr­lich. Seit Be­ginn des Krie­ges ist es selbst für uns schwie­rig, uns in so­zia­len Me­di­en zu äu­ßern. Es kann sehr ge­fähr­lich sein, ein­fach nur einen Bei­trag zu liken. Pa­läs­ti­nen­si­sche Bür­ger in Is­ra­el wer­den seit Jah­ren zum Schwei­gen ge­bracht. Sie tei­len oder liken nichts mehr in so­zia­len Me­di­en, weil sie ver­haf­tet wer­den könn­ten. Wir ken­nen meh­re­re Fälle, in denen junge Leute an Check­points an­ge­hal­ten wur­den. Ihre Han­dys wur­den durch­sucht, und wenn sie Bil­der über Gaza oder kri­ti­sche Ge­sprä­che hat­ten, wur­den sie ver­haf­tet oder sogar ge­schla­gen. Es ist ein gro­ßes Ri­si­ko.

"Ohne In­klu­si­on schei­tern Frie­dens­pro­zes­se."

RT: Ich habe diese Frage ein­gangs auch des­halb ge­stellt, weil in vie­len Frie­dens­pro­zes­sen in der Welt Frau­en eine zen­tra­le Rolle ge­spielt haben. Ohne die Be­tei­li­gung von Frau­en wären diese Pro­zes­se nicht zu­stan­de ge­kom­men.

RS: Damit Frie­dens­pro­zes­se wirk­lich ef­fek­tiv und nach­hal­tig sind, müs­sen sie ver­schie­de­ne Stim­men und Be­dürf­nis­se ein­be­zie­hen. Oft schei­tern sol­che Pro­zes­se, weil mar­gi­na­li­sier­te Ge­sell­schafts­grup­pen aus­ge­schlos­sen blei­ben - Frau­en, junge Men­schen, all die­je­ni­gen, die nor­ma­ler­wei­se kei­nen Platz am Ver­hand­lungs­tisch haben. Das ist einer der Haupt­grün­de, warum viele Frie­dens­in­itia­ti­ven nicht funk­tio­nie­ren. Des­halb spre­chen wir immer wie­der von In­klu­si­on: Alle müs­sen Teil des Pro­zes­ses sein.

Die For­schung und Er­fah­run­gen aus frü­he­ren Kon­flik­ten zei­gen deut­lich, wie ent­schei­dend die Rolle von Frau­en ist. Sie haben oft er­folg­reich Waf­fen­still­stän­de aus­ge­han­delt, an Ver­hand­lun­gen teil­ge­nom­men und zur Ver­söh­nung bei­ge­tra­gen. Frau­en re­prä­sen­tie­ren einen gro­ßen Teil der Ge­sell­schaft, auf bei­den Sei­ten des Kon­flikts, und sie er­zie­hen auch die nächs­te Ge­ne­ra­ti­on. Ihre Rolle ist also nicht nur wich­tig - sie ist un­ver­zicht­bar. Man kann sie nicht ein­fach igno­rie­ren oder aus der Glei­chung strei­chen.

Was wir auch sehen, ist, dass viele Frie­dens­pro­zes­se mensch­li­che As­pek­te, die Frau­en häu­fig ein­brin­gen, völ­lig über­se­hen. Es geht sel­ten um Em­pa­thie oder Ver­söh­nung - statt­des­sen blei­ben Ver­hand­lun­gen oft auf einer rein tech­ni­schen Ebene: Er­klä­run­gen, Un­ter­schrif­ten, for­ma­le Ver­ein­ba­run­gen. Aber Frau­en brin­gen eine an­de­re Tiefe mit. Als Schwes­tern, Töch­ter, Müt­ter - sie sor­gen sich, füh­len mit. Sie kön­nen den Schmerz, die Trau­er und den Kum­mer der Frau­en auf der an­de­ren Seite nach­voll­zie­hen. Die­ser mensch­li­che Zu­gang fügt jedem Frie­dens­pro­zess einen un­schätz­ba­ren Wert hinzu.

Selbst wenn ein Frie­dens­pro­zess zu einem Ab­kom­men oder einem Waf­fen­still­stand führt, bleibt die Auf­ga­be, Ver­trau­en auf­zu­bau­en, Brü­cken zu schla­gen und Ver­söh­nung zu schaf­fen. Das sind genau die Be­rei­che, in denen Frau­en und die Zi­vil­ge­sell­schaft eine ent­schei­den­de Rolle spie­len. Ohne diese Ar­beit wird Frie­den kaum Be­stand haben.

VE: Auf wel­che zen­tra­len The­men und Ak­ti­vi­tä­ten kon­zen­triert sich Com­ba­tants for Peace? Was sind die wich­tigs­ten Be­rei­che, in denen die Be­we­gung aktiv ist?

RS: Unser Haupt­au­gen­merk liegt auf der Ar­beit vor Ort, denn wir sind eine Ba­sis­be­we­gung. Das be­deu­tet, wir sind immer prä­sent - sei es bei Pro­tes­ten, De­mons­tra­tio­nen, ge­walt­frei­en Ak­tio­nen oder So­li­da­ri­täts­in­itia­ti­ven. Ein Bei­spiel, die Be­glei­tung von Hir­ten im Jor­dan­tal, um sie vor Sied­ler- und Mi­li­tär­ge­walt zu schüt­zen, habe ich schon er­wähnt. In den letz­ten zwei Mo­na­ten haben wir Fa­mi­li­en wäh­rend der Oli­ven­ern­te un­ter­stützt, indem wir sie zu ihrem Land be­glei­tet haben, damit sie si­cher Oli­ven pflü­cken konn­ten.

Neben die­sen Ak­tio­nen füh­ren wir auch Bil­dungs­pro­gram­me durch. Wie ich be­reits er­wähnt habe, rich­ten sich un­se­re Pro­gram­me an junge Pa­läs­ti­nen­ser und Is­rae­lis, die bei uns ge­walt­frei­en Wi­der­stand, ge­walt­freie Kom­mu­ni­ka­ti­on und an­de­re The­men ler­nen, die in den Schu­len oft feh­len. Wir nen­nen das "al­ter­na­ti­ve Bil­dung" - es geht darum, den an­de­ren ken­nen­zu­ler­nen und die ei­ge­ne Ge­schich­te zu er­zäh­len. Für uns ist das ein mäch­ti­ges Werk­zeug, um Brü­cken zu bauen. So be­gann auch un­se­re Be­we­gung: mit Tref­fen, bei denen Men­schen ihre Ge­schich­ten teil­ten und bei­spiels­wei­se lern­ten, wie man so­zia­le Me­di­en nutzt, um ihre Bot­schaf­ten zu ver­brei­ten.

Ein wei­te­rer Schwer­punkt ist die Auf­klä­rungs­ar­beit mit jun­gen Is­rae­lis, bevor sie in die Armee ein­tre­ten. Viele von ihnen haben nie zuvor einen Pa­läs­ti­nen­ser ge­trof­fen und wach­sen mit Ste­reo­ty­pen auf - der an­de­re ist der Feind, Punkt. Wir ver­su­chen, diese Bar­rie­ren zu durch­bre­chen, indem wir Tref­fen or­ga­ni­sie­ren, die ihnen eine neue Per­spek­ti­ve er­öff­nen. Er­freu­li­cher­wei­se be­ob­ach­ten wir in Is­ra­el ein wach­sen­des Phä­no­men: Immer mehr junge Men­schen wei­gern sich, in der Armee zu die­nen. Erst kürz­lich haben 130 Re­ser­ve­sol­da­ten öf­fent­lich er­klärt, dass sie den Dienst ver­wei­gern - sie haben sogar einen Brief un­ter­schrie­ben. Das ist neu, denn frü­her war der Mi­li­tär­dienst eine Ehre; man dach­te, man ver­tei­digt sein Land. Doch jetzt er­ken­nen immer mehr Men­schen, dass die Armee nicht ver­tei­digt, son­dern Kriegs­ver­bre­chen be­geht. Sie sehen die Be­sat­zung und ihre Aus­wir­kun­gen aus ers­ter Hand.

Wir or­ga­ni­sie­ren auch Be­sich­ti­gungs­tou­ren für is­rae­li­sche Grup­pen und di­plo­ma­ti­sche Ver­tre­tun­gen in Pa­läs­ti­na und Is­ra­el, um zu zei­gen, wie die Be­sat­zung das Leben der Men­schen be­ein­flusst und wie Ge­walt von Sied­lern Hir­ten und Ge­mein­den be­las­tet. Dabei do­ku­men­tie­ren wir Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, um das Be­wusst­sein dafür zu schär­fen.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Teil un­se­rer Ar­beit sind jähr­li­che Ze­re­mo­ni­en, wie die ge­mein­sa­me is­rae­lisch-pa­läs­ti­nen­si­sche Ge­denk­fei­er. Die­ser Tag ist in Is­ra­el ein hei­li­ger Tag, an dem nor­ma­ler­wei­se der ge­fal­le­nen

Sol­da­ten ge­dacht wird. Wir ma­chen das an­ders: Wir ge­den­ken aller Opfer des Kon­flikts - Is­rae­lis und Pa­läs­ti­nen­ser. Das ist na­tür­lich kon­tro­vers, weil wir das Nar­ra­tiv ver­än­dern. Statt die Op­fer­rol­le oder Hel­den­ver­eh­rung zu be­to­nen, ver­su­chen wir, die an­de­re Seite zu ver­mensch­li­chen.

RT: Das Ziel ist, allen Op­fern die­ses Kon­flik­tes zu ge­den­ken?

RS: Wir laden keine Po­li­ti­ker oder Re­gie­rungs­ver­tre­ter zu un­se­ren Ge­denk­fei­ern ein. Statt­des­sen spre­chen trau­ern­de Fa­mi­li­en, Men­schen, die durch den Kon­flikt An­ge­hö­ri­ge ver­lo­ren haben. Eine wei­te­re wich­ti­ge Ze­re­mo­nie ist die ge­mein­sa­me Nakba-Ge­denk­fei­er, die wir jedes Jahr am 15. Mai ab­hal­ten. Wir ge­den­ken der Nakba, der pa­läs­ti­nen­si­schen Ka­ta­stro­phe von 1948, und be­schäf­ti­gen uns mit den Fak­ten des­sen, was da­mals ge­schah.

"Die Be­sat­zung bringt weder Si­cher­heit noch Schutz - für nie­man­den."

Für die pa­läs­ti­nen­si­sche Ge­sell­schaft ist der 15. Mai ein Tag der Trau­er - ein Ge­denk­tag, der an Ver­trei­bung, Ver­lust und Be­sat­zung er­in­nert. In der is­rae­li­schen Ge­sell­schaft hin­ge­gen ist das Thema Nakba ein Tabu, da der Tag mit der Grün­dung des Staa­tes Is­ra­el und der Un­ab­hän­gig­keit ver­knüpft ist. Des­halb ist un­se­re ge­mein­sa­me Ge­denk­fei­er ein wich­ti­ger Schritt: weil es wich­tig ist, die Ver­gan­gen­heit an­zu­er­ken­nen,

um eine bes­se­re Zu­kunft zu ge­stal­ten.

Wäh­rend die­ser Ze­re­mo­nie hören wir die Ge­schich­ten von Pa­läs­ti­nen­ser und Is­rae­lis, von Flücht­lin­gen, die die Er­eig­nis­se von 1948 mit­er­lebt haben. Viele von ihnen leben heute in Flücht­lings­la­gern. Uns ist be­wusst, dass diese Er­leb­nis­be­rich­te in Zu­kunft immer sel­te­ner wer­den, da die Zeit­zeu­gen von da­mals älter wer­den. Auch Sol­da­ten, die 1948 ge­dient haben und Zeu­gen der Er­eig­nis­se waren, ste­hen uns viel­leicht nicht mehr lange zur Ver­fü­gung. Des­halb ist es umso wich­ti­ger, diese Ge­schich­ten jetzt zu do­ku­men­tie­ren und zu tei­len, damit beide Sei­ten die Er­zäh­lun­gen des an­de­ren ken­nen­ler­nen kön­nen.

VE: Es gibt bei eurer Ar­beit also nicht nur re­ak­ti­ve Maß­nah­men, son­dern auch pro­ak­ti­ve In­itia­ti­ven?

RS: Genau, es ist wie ein Re­hu­ma­ni­sie­rungs­pro­jekt. Be­son­ders jetzt, nach den Er­eig­nis­sen im Ok­to­ber, gibt es auf is­rae­li­scher Seite ein tie­fes Miss­trau­en und eine Ent­mensch­li­chung der an­de­ren. Viele sehen in Gaza nur "Hamas" oder den Feind, ohne Em­pa­thie für die Kin­der oder das Leid der Men­schen dort. Diese Di­stanz ent­steht durch den Schmerz und die Trau­ma­ta, die beide Sei­ten er­le­ben.

Beide Sei­ten kon­zen­trie­ren sich auf ihren ei­ge­nen Schmerz: Die Is­rae­lis, weil sie immer noch Gei­seln in Gaza haben und mit Ver­lust und Angst leben; die Pa­läs­ti­nen­ser, weil sie mit Zer­stö­rung, Ver­trei­bung und

einer hu­ma­ni­tä­ren Ka­ta­stro­phe kon­fron­tiert sind. Diese Iso­la­ti­on macht es schwer, die an­de­re Seite zu sehen. Doch genau hier set­zen wir an - mit dem Ziel, Brü­cken zu bauen, Em­pa­thie zu för­dern und die Mensch­lich­keit auf bei­den Sei­ten wie­der­her­zu­stel­len.

"Warum soll­te das, was in Eu­ro­pa mög­lich war, nicht auch bei uns mög­lich sein?"

RT: In Deutsch­land gibt es oft eine Span­nung zwi­schen der his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung ge­gen­über Is­ra­el und der Ver­pflich­tung zu in­ter­na­tio­na­len Men­schen­rech­ten. Wie soll­te dei­ner Mei­nung nach Deutsch­land mit die­sem Wi­der­spruch um­ge­hen? Und wel­che Rolle könn­te Deutsch­land spie­len, um Brü­cken zu bauen und um aktiv zur Frie­dens­för­de­rung in dei­ner Re­gi­on bei­zu­tra­gen?

RS: Ich weiß, dass der Kon­flikt zwi­schen Is­ra­el und Pa­läs­ti­na in Deutsch­land ein sehr sen­si­bles Thema ist - wegen der Ge­schich­te, der Ver­gan­gen­heit und viel­leicht auch wegen der Schuld­ge­füh­le. Es ist nicht leicht, Über­zeu­gun­gen zu än­dern, be­son­ders wenn es um die Po­li­tik der Re­gie­rung geht. In Deutsch­land scheint es eine fast un­be­ding­te Un­ter­stüt­zung Is­ra­els zu geben, die oft mit dem Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung und dem Schutz der Exis­tenz Is­ra­els be­grün­det wird. Na­tür­lich ist das le­gi­tim, aber es be­deu­tet nicht, dass diese Un­ter­stüt­zung be­din­gungs­los sein soll­te. Es gibt Gren­zen, be­son­ders wenn in­ter­na­tio­na­le Men­schen­rech­te ver­letzt wer­den - und ich denke, diese

Gren­ze ist längst über­schrit­ten.

Des­halb sehe ich eine Art Spal­tung in Deutsch­land: Viele wol­len Is­ra­el un­ter­stüt­zen, füh­len sich aber gleich­zei­tig den Men­schen­rech­ten ver­pflich­tet. Das führt zu einem Wi­der­spruch. Deutsch­land steht an einem Punkt, an dem es ent­schei­den muss, wo es sich po­si­tio­nie­ren möch­te. Ich hoffe, dass es sich für die in­ter­na­tio­na­len Men­schen­rech­te ent­schei­det.

Wenn ich aus der Ferne nach Deutsch­land bli­cke, sehe ich Pro-Pa­läs­ti­na-Pro­tes­te, Pro-Is­ra­el-Pro­tes­te - bei­des Nar­ra­ti­ve, die uns in der Re­gi­on nicht wirk­lich wei­ter­brin­gen. Sie zwin­gen Men­schen dazu, Par­tei zu er­grei­fen, an­statt Brü­cken zu bauen. Das führt oft zu einer Ent­mensch­li­chung der an­de­ren Seite. Zum Bei­spiel, wenn Men­schen etwa pos­ten, dass sie auf der Seite Is­ra­els oder Pa­läs­ti­nas ste­hen, oder wenn sie Slo­gans ver­wen­den, die für die an­de­re Seite be­lei­di­gend sein könn­ten. Es wird zu einem Wett­be­werb darum, wer Recht hat. Aber in einer Zeit wie die­ser, mit­ten im Krieg, bringt uns das nicht wei­ter.

Was wir wirk­lich brau­chen, ist Un­ter­stüt­zung für Lö­sun­gen und den Frie­den. Waf­fen­lie­fe­run­gen, auch aus Deutsch­land, ver­län­gern den Krieg nur und näh­ren die Kriegs­ma­schi­ne­rie. Statt­des­sen soll­ten mehr Mit­tel in Frie­dens­be­mü­hun­gen und Ver­hand­lun­gen flie­ßen, um die Zi­vil­ge­sell­schaft zu stär­ken, die an einer Frie­dens­kon­so­li­die­rung ar­bei­tet. Das könn­te das Nar­ra­tiv und die Dy­na­mik des Kon­flikts ver­än­dern.

So­lan­ge Deutsch­land und an­de­re Län­der Waf­fen lie­fern und Res­sour­cen be­reit­stel­len, bleibt der Krieg eine Op­ti­on - das ist die Rea­li­tät.

"Deutsch­land hat die Chan­ce, eine pro­ak­ti­ve­re Rolle für den Frie­den ein­zu­neh­men."

RT: Viele Men­schen in Deutsch­land füh­len sich zu­tiefst dem Ver­spre­chen ver­pflich­tet, dass von deut­schem Boden nie wie­der Krieg aus­ge­hen soll. Für die meis­ten schlie­ßt das nicht nur Kampf­ein­sät­ze, son­dern auch Waf­fen­lie­fe­run­gen und jede Form von lo­gis­ti­scher Un­ter­stüt­zung für Krie­ge ein. An­ge­sichts der ak­tu­el­len welt­wei­ten Ent­wick­lun­gen sind viele, die sich dem Frie­den ver­schrie­ben haben, frus­triert und füh­len sich macht­los. Was wür­dest du die­sen Men­schen sagen?

RS: Für die Men­schen in Deutsch­land, die frus­triert sind, möch­te ich sagen: Ver­liert nicht die Hoff­nung. Wir haben die Hoff­nung auf eine Lö­sung in un­se­rer Re­gi­on nicht auf­ge­ge­ben, weil wir wis­sen, dass es mög­lich ist. Es ist nicht unser Schick­sal, für immer im Kon­flikt zu leben. Eu­ro­pa hat ge­zeigt, dass Trans­for­ma­ti­on mög­lich ist. Wer hätte vor ei­ni­gen Jahr­zehn­ten ge­dacht, dass Län­der wie Frank­reich und Deutsch­land, einst ver­fein­det, heute enge Part­ner und Freun­de sind? Warum soll­te das in un­se­rer Re­gi­on nicht auch mög­lich sein?

Es gibt eine Chan­ce. Aber wir brau­chen in­ter­na­tio­na-

le Ak­teu­re wie Deutsch­land, die eine pro­ak­ti­ve­re Rolle ein­neh­men. Manch­mal haben wir das Ge­fühl, wir kön­nen es nicht al­lein schaf­fen, weil in­ter­na­tio­na­le Mäch­te den Kon­flikt so stark be­ein­flus­sen. Viel­leicht hält sich Deutsch­land oft zu­rück, weil die USA der wich­tigs­te Ver­bün­de­te Is­ra­els sind. Aber genau des­halb hat Eu­ro­pa und be­son­ders Deutsch­land die Chan­ce, eine an­de­re Hal­tung ein­zu­neh­men und ein Ge­gen­ge­wicht zu schaf­fen.

RT: Woher nimmst du die Kraft, den Glau­ben und die Mo­ti­va­ti­on? Was in­spi­riert dich jeden Tag aufs Neue für das, was du tust und wofür du kämpfst?

RS: Ich kann keine De­tails er­zäh­len, aber ein Grund, warum ich hier in Ber­lin bin, ist, dass ich mit einer Grup­pe von Pa­läs­ti­nen­sern und Is­rae­lis zu­sam­men­ar­bei­te, um die Rea­li­tät zu ver­än­dern, neue Mög­lich­kei­ten zu schaf­fen und für un­se­re ge­mein­sa­me Vi­si­on einer bes­se­ren Zu­kunft ein­zu­tre­ten. Sol­che Tref­fen, wie die­ses hier mit Frie­dens­be­für­wor­tern bei­der Sei­ten, geben mir immer Hoff­nung. Auch zu Hause, bei Com­ba­tants for Peace, schöp­fe ich Kraft aus un­se­rer Ar­beit: Wenn wir uns tref­fen, die nächs­te Ak­ti­on pla­nen, dis­ku­tie­ren, manch­mal un­ei­nig sind, aber trotz­dem wei­ter­ma­chen - das fühlt sich an wie eine bi­na­tio­na­le Ge­mein­schaft.

Man sieht in sol­chen Mo­men­ten, dass un­se­re Vi­si­on mög­lich ist. Es ist kein Traum, keine Il­lu­si­on. Es pas­siert jetzt, di­rekt vor un­se­ren Augen.

RT: Wenn es auf die­ser Ebene mög­lich ist, warum soll­te es dann nicht auch auf ge­sell­schaft­li­cher Ebene mög­lich sein?

RS: Genau. Wir kom­men aus un­ter­schied­li­chen Hin­ter­grün­den, Über­zeu­gun­gen und Per­spek­ti­ven, und den­noch ar­bei­ten wir zu­sam­men, träu­men zu­sam­men, kämp­fen zu­sam­men - na­tür­lich ge­walt­frei. Wir kämp­fen gegen ein Sys­tem, das weder Pa­läs­ti­nen­sern noch Is­rae­lis wirk­lich dient. Die Be­sat­zung bringt nie­man­dem Si­cher­heit oder Schutz, das wis­sen wir. Und durch die Er­fah­run­gen un­se­rer Grün­der, die frü­her selbst in Ge­walt ver­wi­ckelt waren, haben wir ge­lernt, dass Ge­walt nur dazu führt, dass wir im glei-

chen Kreis­lauf ge­fan­gen blei­ben.

Des­halb müs­sen wir die­sen Kreis­lauf durch­bre­chen. Wir wis­sen, dass es nur eine po­li­ti­sche Lö­sung für un­se­ren Kon­flikt gibt. Und wir müs­sen zu­sam­men­ar­bei­ten, um eine bes­se­re Zu­kunft für alle zu schaf­fen. Hoff­nung ist für mich keine abs­trak­te Idee. Es ist eine Ak­ti­on, etwas, wofür man ar­bei­ten muss - ein ganz kon­kre­ter Weg, um Ver­än­de­rung mög­lich zu ma­chen.

Vie­len Dank für das in­ter­es­san­te und hoff­nungs­spen­den­de Ge­spräch. Wir wün­schen euch wei­ter­hin viel Er­folg bei eurer wich­ti­gen Mis­si­on!


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Dezember 2024

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