Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → MEINUNGEN

OFFENER BRIEF/011: "Ruh Jedida" - Ein neuer Geist für 2011 (Kritische JüdInnen und Israelis)


Kritische Juden, Jüdinnen und Israelis - 17. Mai 2011

"Ruh Jedida": Ein neuer Geist für 2011

Ein Brief von in Israel lebenden jungen jüdischen Menschen mit Abstammung aus der arabischen und islamischen Welt, an unsere Generation im Nahen Osten und Nordafrika


Wir, Nachkommen der jüdischen Gemeinden in der arabischen und muslimischen Welt, des Nahen Osten und des Maghreb, und zweite und dritte Generation von Mizrachi Juden in Israel, sehen mit Begeisterung und Neugier welch große und mutige Rolle die Männer und Frauen unserer Generation in den Demonstrationen für Freiheit und Wandel in der arabischen Welt spielen. Wir identifizieren uns mit Euch, und sind voller Hoffnung für die erfolgreichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten; gleichzeitig sehen wir mit großem Schmerz und Sorge die vielen Todesfälle in Libyen, Bahrain, Jemen, Syrien und vielen anderen Orten der Region.

Die Proteste der Menschen unserer Generation gegen Unterdrückung, Gewalt und Missbrauch durch die Regime, sowie die Rufe nach Veränderung, Freiheit und Errichtung demokratischer Regierungen, die die Beteiligung von Bürgern in politischen Prozessen fördern, markieren einen dramatischen Zeitpunkt in der Geschichte des Nahen Osten und Nordafrika, einer Region, die über Generationen von unterschiedlichen Mächten - inneren und äußeren - aufgerieben wurde, und deren Machthaber oftmals die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte ihrer Einwohner mit Füßen getreten haben.

Wir sind Israelis, Kinder und Enkel von Juden, die hunderte oder gar tausende von Jahren im Nahen Osten und in Nordafrika lebten. Unsere Mütter und Väter haben zu der Entwicklung der Kultur dieser Region beigetragen, und waren ein Teil davon. Folglich sind die Kultur der islamischen Welt, sowie die Verbindung und Identifizierung mit dieser Region über mehrere Generationen hin, ein untrennbarer Teil unserer Identität. Wir sind ein Teil der religiösen, kulturellen und sprachlichen Geschichte des Nahen Osten und Nordafrika, obwohl wir anscheinend die "vergessenen" Kinder dieser Geschichte sind: Zuerst in Israel, das sich und seine Kultur irgendwo zwischen Europa und Nordamerika sieht. Dann in der arabischen Welt, wo oftmals die Gegensätzlichkeit von Juden und Arabern hingenommen wird, wie auch die Vorstellung, dass alle Juden Europäer seien, und die es vorgezogen hat, die Geschichte von arabischen Juden als ein unwesentliches oder sogar nicht vorhandenes Kapitel ihrer eigenen Geschichte zu verdrängen. Und schließlich - wie wir zugeben müssen - in unseren eigenen Mizrachi Gemeinden, die sich in Folge westlicher Kolonisation, jüdischem Nationalismus und arabischen Nationalismus oftmals ihrer arabischen Abstammung schämten, so dass sich viele von uns an die Strömungen der Mehrheitsgesellschaft anpassten, und dabei unsere Vergangenheit herunterspielten oder leugneten. In vergangenen Generationen wurde versucht, die gegenseitige Beeinflussung und die Beziehungen zwischen den jüdischen und arabischen Kulturen gewaltsam auszulöschen, aber in vielen Lebensbereichen findet man immer noch Spuren davon, einschließlich Musik, Gebeten, Sprache und Literatur.

Wir möchten unsere Identifizierung und Hoffnung für den Generationenwechsel in der Geschichte des Nahen Osten und Nordafrika ausdrücken, und dafür, dass dieser Wechsel die Tore für Freiheit und Gerechtigkeit und gerechte Ressourcenverteilung in der Region öffnen wird. Wir wenden uns an Euch, Brüder und Schwestern unserer Generation in der arabischen und islamischen Welt, mit dem Wunsch nach einem ehrlichen Dialog, durch den wir auch einen Teil der Geschichte und der Kultur der Region werden können.

Mit Bewunderung sahen wir die Bilder aus Tunesien und vom Al-Tahrir Platz, und bewunderten wie Ihr es schafftet, einen gewaltlosen Widerstand zu organisieren, der hunderttausende von Menschen auf die Straßen und Plätze brachte, und schließlich Eure Machthaber zum Rücktritt gezwungen hat. Auch wir leben unter einem Regime, das - trotz seiner Behauptungen, aufgeklärt und demokratisch zu sein - in Wirklichkeit weite Teile seiner Bevölkerung nicht repräsentiert, sowohl innerhalb der "Grünen Linie" als auch in den besetzten Gebieten. Dieses Regime tritt die wirtschaftlichen und sozialen Rechte eines Großteils seiner Bevölkerung mit Füßen, es betreibt einen permanenten Prozess der Beschneidung demokratischer Rechte, und errichtet rassistische Barrieren gegen die nah-östliche und nordafrikanische-jüdische und arabische Kultur. Anders als die Bürger von Tunesien und Ägypten, sind wir noch weit davon entfernt, Solidarität zwischen verschieden Gruppen in diesem Land herzustellen um eine Bewegung zu gründen, die uns erlauben würde, uns zusammenzuschließen und gemeinsam - alle die hier leben - zu den öffentlichen Plätzen zu marschieren, und ein ziviles Regime zu fordern, das kulturell, sozial und wirtschaftlich gerecht ist.

Wir Mizrachi Juden in Israel, begründen unseren Kampf um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte mit der Ansicht, dass politischer Wandel nicht von den westlichen Mächten abhängen kann, die unsere Region und ihre Bewohner über viele Generationen hinweg ausgebeutet haben. Ein wahrer Wandel kann nur aus einem inner-regionalen und inter-religiösen Dialog entstehen, der mit den verschiedenen Kämpfen und Bewegungen verknüpft ist, die sich derzeit in der arabischen Welt abspielen. Insbesondere müssen wir den Dialog mit den palästinensischen Bürgern Israels führen, die um gleiche politische und wirtschaftliche Rechte sowie um die Abschaffung rassistischer Gesetze kämpfen, und uns mit ihnen solidarisch erklären, wie auch mit den Forderungen des palästinensischen Volkes unter israelischer Militärbesatzung in der West Bank und in Gaza, die Besatzung zu beenden und nationale Unabhängigkeit zu erlangen.

In unserem letzten Brief, im Anschluss an Obamas Rede 2009 in Kairo, haben wir zur Entstehung einer demokratischen nah-östlichen Identität aufgerufen, und unsere Einbeziehung in eine solche Identität propagiert. Wir äußern jetzt die Hoffnung, dass unsere Generation - in der gesamten arabischen, islamischen und jüdischen Welt - die Brücken aufbauen wird, die die Mauern und Feindseligkeiten vorheriger Generationen überwinden, und den tiefgehenden, menschlichen Dialog erneuern können, ohne den wir einander nicht verstehen können: den Dialog zwischen Juden, Sunniten, Schiiten und Christen, zwischen Kurden, Berbern, Türken und Persern, zwischen Mizrachi und Ashkenazys, und zwischen Palästinensern und Israelis. Wir ziehen Kraft aus unserer gemeinsamen Vergangenheit, um hoffnungsvoll in eine gemeinsame Zukunft zu blicken. Wir vertrauen auf einen inner-regionalen Dialog - dessen Zweck es ist, zu reparieren und rehabilitieren, was in vorherigen Generationen zerstört wurde - als Katalysator für das Andalusische Modell muslimisch-jüdisch-christlicher Partnerschaft zu erneuern, so Gott will, Insha'allah, und als Weg in eine kulturelle und historische goldene Ära für unsere Länder. Diese goldene Ära kann nicht entstehen ohne gleiche, demokratische Bürgerrechte, gerechte Verteilung von Ressourcen und Bildung, Chancengleichheit, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, und die Akzeptierung aller Menschen, ohne Rücksicht auf ihren Glauben, Nationalität, Status, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder ethnische Zugehörigkeit. All diese Rechte haben gleiches Gewicht beim Aufbau der neuen Gesellschaft nach der wir streben. Wir verpflichten uns, diese Ziele im Rahmen eines Dialogs zwischen allen Völkern des Nahen Osten und Nordafrika anzustreben, und durch einen Dialog, den wir mit verschiedenen jüdischen Gemeinden in Israel und auf der Welt führen werden.



Wir, die Unterzeichnenden:

Shva Salhoov (Libyen), Naama Gershy (Serbien, Jemen), Yael Ben-Yefet (Irak, Aden), Leah Aini (Griechenland, Türkei), Yael Berda (Tunesien), Aharon Shem-Tov (Irak, Iranisch-Kurdistan), Yosi Ohana (geboren in Marokko), Yali Hashash (Libyen, Jemen), Yonit Naaman (Jemen, Türkei), Orly Noy (geboren in Iran), Gadi Alghazi (Jugoslawien, Ägypten), Mati Shemoelof (Iran, Irak, Syrien), Eliana Almog (Jemen, Deutschland), Yuval Evri ((Irak), Ophir Tubul (Marokko, Algerien), Moti Gigi (Marokko), Shlomit Lir (Iran), Ezra Nawi (Irak), Hedva Eyal (Iran), Eyal Ben-Moshe (Jemen), Shlomit Binyamin (Kuba, Syrien, Türkei), Yael Israel (Türkei, Iran), Benny Nuriely (Tunesien), Ariel Galili (Iran), Natalie Ohana Evry (Marokko, Großbritannien), Itamar Toby Taharlev (Marokko, Jerusalem, Ägypten), Ofer Namimi (Irak, Marokko), Amir Banbaji (Syrien), Naftali Shem-Tov (Irak, Iranisch-Kurdistan), Mois Benarroch (geboren in Marokko), Yosi David (Tunesien, Iran), Shalom Zarbib (Algerien), Yardena Hamo (Irakisch-Kurdistan), Aviv Deri (Marokko) Menny Aka (Irak), Tom Fogel (Jemen, Polen), Eran Efrati (Irak), Dan Weksler Daniel (Syrien, Polen, Ukraine), Yael Gidnian (Iran), Elyakim Nitzani (Libanon, Iran, Italien), Shelly Horesh-Segel (Marokko), Yoni Mizrahi (Kurdistan), Betty Benbenishti (Türkei), Chen Misgav (Irak, Polen), Moshe Balmas (Marokko), Tom Cohen (Irak, Polen, England), Ofir Itah (Marokko), Shirley Karavani (Tunesien, Libyen, Jemen), Lorena Atrakzy (Argentinien, Irak), Asaf Abutbul (Polen, Russland, Marokko), Avi Yehudai (Iran), Diana Ahdut (Iran, Jerusalem), Maya Peretz (Nikaragua, Marokko), Yariv Moher (Marokko, Deutschland), Tami Katzbian (Iran), Oshra Lerer (Irak, Marokko), Nitzan Manjam (Jemen, Deutschland, Finnland), Rivka Gilad (Iran, Irak, Indien), Oshrat Rotem (Marokko), Naava Mashiah (Irak), Zamira Ron David (Irak),Munir Nir Akirav (Irak, Bahrein) Omer Avital (Marokko, Jemen), Vered Madar (Jemen), Ziva Atar (Marokko), Yossi Alfi (geboren in Irak), Amira Hess (geboren in Irak), Navit Barel (Libyen), Almog Behar (Irak, Türkei, Deutschland).


*


Quelle:
Kritische JüdInnen und Israelis, Berlin
E-Mail: kritischeisraelis@googlemail.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2011