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OFFENER BRIEF/070: "Solidarität kann die Angst besiegen und Raum für Alternativen eröffnen" (NoG20 International)


HAMBURG, PLANET EARTH, AUGUST 2017
international@g20-2017.org

"Solidarität kann die Angst besiegen und Raum für Alternativen eröffnen"

Zweiter offener Brief an die Menschen in Hamburg


Liebe Hamburgerinnen und Hamburger, jetzt, wo der G20-Gipfel vorbei ist, wenden wir uns erneut an Euch. Wir kommen aus den verschiedensten Netzwerken aus ganz Europa und sogar darüber hinaus.

Als Erstes möchten wir uns bei Euch für das warme Willkommen bedanken, das wir erfahren haben. Wir wissen, es war nicht einfach; schließlich wurde Hamburg schon lange vor der Ankunft der G20-Delegationen in Ausnahmezustand versetzt.

Wie alle, die in Hamburg dabei waren, wissen, war es die Polizei, die als erstes zuschlug. Schon eine Woche vor Beginn des Gipfels wurde ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts einfach ignoriert und das Protestcamp in Entenwerder ohne weiteren Anlass brutal geräumt.

In den folgenden Tagen ging diese repressive Eskalation weiter. Der Angriff auf die sich friedlich aufstellende "Welcome to Hell"-Demo erfolgte nicht nur ohne jegliche vorhergehende Provokation. Es war ein Angriff auf die Versammlungsfreiheit, auf das Demonstrationsrecht und auf die Demokratie. Das Gleiche gilt für die zahlreichen Angriffe auf JournalistInnen und auf die Pressefreiheit. Zielscheibe waren friedliche Demonstranten ebenso wie SanitäterInnen. Zum Einsatz kamen Schlagstock, Pfefferspray, Wasserwerfer und sogar scharfe Munition. Die Polizei hat wie eine Besatzungsarmee agiert bei ihrem Versuch, Hamburg in eine Stadt voller Angst und Chaos zu verwandeln.

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Hamburger Senat sind für diese Situation politisch verantwortlich. Der Hamburger Bürgermeister hatte vorher versprochen, dass G20 ein "Festival der Demokratie" werde; heute behauptet er, dass es keine Polizeigewalt gegeben habe. Der Bürgermeister scheint zu denken, er lebe in Orwells 1984 statt in der Realität von 2017.

Der Gipfel wurde Hamburg und seinen BewohnerInnen aufgezwungen - gleich einem Echo der brutalen Zwänge, welche die G20-Politik weltweit über die Menschen ausübt. Sie wollen uns Ihre Welt des Autoritarismus und der Gewalt aufzwingen, ob sie nun mit Rechtspopulismus einhergeht oder mit straightem Neoliberalismus. Was wir in Hamburg erlebt haben, war ein Geschmack davon.

Ihr G20-Gipfel ist real gescheitert. Ein politischer Bankrott. Er deckte sowohl den Unwillen als auch die Unfähigkeit auf, die drängenden Probleme unserer Zeit anzugehen: Die katastrophalen Folgen des Klimawandels, die Lebensbedingungen von Millionen Flüchtlingen, die wachsenden sozialen Ungleichheiten und das wirtschaftliche Chaos. Die wenigen während des G20 getroffenen Entscheidungen verschlimmern nur den Umgang mit den entsprechenden Themen. Das ökologische Desaster und die Lebensbedingungen vieler Menschen werden noch verschärft, die sozialen wie auch zivilen Rechte der großen Mehrheit der Weltbevölkerung weiter reduziert. Selbst der neokoloniale und neoliberale "Compact with Africa", von der deutschen Präsidentschaft initiiert und vorangetrieben, um langfristig ein Anwachsen der Flüchtlingszahlen aus Afrika nach Europa zu verhindern, wird höchstwahrscheinlich lediglich die bereits bestehende ungezügelte Korruption weiter ankurbeln.

Ihr "public-order-management" ist während dieser Tage ebenfalls komplett gescheitert: Die staatliche Repression agierte an etlichen Punkten derart krass und inakzeptabel, dass wir uns entschlossen haben, Widerstand zu leisten. Dabei waren unsere Mittel und Protestformen unterschiedlich, was aber eben auch ein Teil unserer Stärke ist.

Nicht alle machten überall mit und nicht jede war einverstanden mit allen Taktiken des Widerstands. Dazu gab und gibt es auch unter uns hitzige Diskussionen. Aber wohlgemerkt: Wir leben in einer Gesellschaft, in der zwar tagaus tagein über brennende Autos und geplünderte Läden debattiert wird, es jedoch andererseits ziemlich still geworden ist um Aleppo oder Mossul, um die Tausenden von Toten im Mittelmeer dieses und jedes Jahr und um die Millionen von Toten durch Hungersnöte, die vom Klimawandel verursacht werden.

Die herrschenden Klassen sind verantwortlich für nahezu alle Tragödien dieser Welt. Es ist wichtig sich klar zu machen, dass während dieser Tage die G20-Führer die gefährlichsten Leute in Hamburg waren.

Der G20-Gipfel wurde Hamburg aufgezwungen. Es war ein arroganter Versuch, ihre Macht zu zeigen, Euch und uns mit dem massiven Aufmarsch ihres militarisierten Apparats zu terrorisieren. Sie wollten das falsche Bild sozialer Befriedung durch Anwendung brutaler Gewalt erzwingen.

Wir sind auch nach Hamburg gekommen, um mit Euch solidarisch gegen diese "Notstands"-logik zusammen zu stehen. So wurde die gleiche Strategie auch auf uns angewendet. Manchen von uns wurde die Einreise nach Deutschland ohne jede Rechtfertigung verweigert. Am Samstag, dem 8. Juli, wurde eine massive "Jagd auf Ausländer" eröffnet; wir sollten als Sündenböcke für die Krawalle und Straßenschlachten herhalten. Die meisten wurden binnen 24 Stunden wieder frei gelassen, da jeglicher Anhaltspunkt für eine Straftat fehlte. Aber einige befinden sich immer noch in Haft.

Solidarität ist die wirkliche Alternative zum Alptraum ihrer Welt. Für einige Tage haben wir es mit euch gemeinsam in Hamburg geschafft, uns gegen ihren polizeilichen Ausnahmezustand durchzusetzen. Und wir haben auf verschiedenste Art und Weise gezeigt, dass eine andere Welt nicht nur möglich ist, sondern bereits in unserer täglichen Praxis existiert.

Während jetzt reaktionäre Politiker versuchen, ein Bild von "Chaos und Gewalt" zu malen und den gesamten Protest zu kriminalisieren, haben wir in Hamburg während dieser paar Tage etwas komplett Anderes gesehen. Wir haben große Solidarität erfahren. Was immer wir auch brauchten - es wurde uns von den wundervollen HamburgerInnen, von ihren Kirchen, ihren Theatern oder ihren Fußballklubs zur Verfügung gestellt: angefangen von Schlafplätzen, Duschen, Wasser, Essen bis zu Schutz und Aufnahme, wenn es darum ging, aus Polizeikesseln heraus zu kommen. Aber auch warme Umarmungen, ein liebevolles Lächeln und vor allem eine eindrucksvolle Präsenz auf den Straßen, die sich laut und kraftvoll den G20 und ihrer autoritären Politik entgegenstellte.

Wenn sie sich nun nicht mehr trauen sollten, einen weiteren derartigen Gipfel in einer großen europäischen Stadt auszutragen, dann nicht nur, weil sie "Krawalle" befürchten. Sondern vor allem, weil wir gezeigt haben, dass wir mit Freude unterwegs sind (bei der Protest Tanzdemo am Mittwoch oder am Freitag bei Jugend gegen G20), kreativ (bei der "1000 Gestalten"-Performance), mutig (bei der "Welcome to Hell"-Demo), ambitioniert und entschlossen (bei den Blockaden am Freitag), voller guter Ideen (beim "globalen Gipfel der Solidarität"). Und schließlich sind wir am Samstag zahlreich, vielfältig und geeint, alle zusammen auf die Straße gegangen - unter dem Motto "Solidarität ohne Grenzen", sie können uns nicht stoppen!

All das macht uns viel stärker, als sie es sind:
Dank Euch, Hamburgerinnen und Hamburger, war es möglich, zusammen die Angst zu besiegen. Zusammen haben wir gezeigt, dass wir die bestehenden Zustände radikal verändern und diese Welt der Ungerechtigkeit auf den Kopf stellen können. Zusammen stehen wir in Solidarität mit den linken Bewegungen in Deutschland, mit der Roten Flora in Hamburg, genauso wie mit anderen Strukturen, die nun angegriffen werden. Und zusammen fordern wir die sofortige Freilassung unserer eingesperrten internationalen GenossInnen und aller NoG20-AktivistInnen.

Für die Internationale NoG20 Koordinierung,
international@g20-2017.org

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Quelle:
Pressemitteilung vom 22. August 2017
Internationale NoG20 Koordinierung
E-Mail: international@g20-2017.org
Internet: www.g20-protest.info


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2017

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