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INTERVIEW/001: Johan Galtung zu den Hintergründen neofaschistischer Gewalt (SB)


Interview mit dem Friedensforscher Johan Galtung am 10. August 2011


Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung wurde schon vor 40 Jahren heftig dafür kritisiert, daß er strukturell faschistoide Entwicklungen in der westlichen Welt erkannte. Mit dem Massenmörder Anders Behring Breivik ist eine Form rechter Gewalt manifest geworden, die nur bedingt mit der Doktrin des klassischen Rechtsradikalismus konform geht und über eine starke ideologische Verankerung in den neuen rechtspopulistischen Bewegungen des Westens verfügt. Galtung, dessen Vater unter der deutschen Besatzung Norwegens in einem Konzentrationslager interniert war und dessen Enkelin das Massaker auf der Insel Utøya knapp überlebte, bleibt dennoch seinem friedenspolitischen Grundsatz, daß der Dialog zwischen Konfliktparteien alternativlos ist, treu, wie er dem Schattenblick in einem Skype-Interview erläuterte.

Johan Galtung - © 2011 TRANSCEND International

Johan Galtung
© 2011 TRANSCEND International

Schattenblick: Herr Galtung, hat die Tragödie vom 22. Juli die norwegische Politik auf eine Weise internationalisiert, wie es zuvor vielleicht nicht der Fall war, obschon das Land an Kriegen beteiligt ist?

Johan Galtung: Norwegen setzt sich überhaupt nicht besonders für Frieden ein. Norwegen ist eine Kriegernation, ist in Afghanistan ein Hauptteilnehmer des Krieges und bombardiert in Libyen. Das ist bloße Propaganda und ein Mißverständnis, ganz wie Deutschland keine Friedensnation ist. Dort macht man in etwa dasselbe, wenn auch nicht in Libyen. Man kann das, was am 22. Juli eingeflossen ist, nicht durch Norwegen erklären. Dieser Breivik hatte sein Wirkungsfeld in Norwegen, er hat dort grausamerweise gehandelt, dort kriegte er seine Inspiration, sein Können, sein Wissen und alles. Neu ist, daß Norwegen nicht nur Täter, sondern auch Opfer ist.

SB: Inwiefern sehen Sie Breivik als Vertreter einer neuen Rechten, die andere Wurzeln hat als die klassisch antisemitische und völkische Rechte?

G: Man könnte sagen, daß es völlig klar ist, daß Breivik kein Neonazi ist. Für ihn ist der Bürgerkrieg in Europa ein Krieg zwischen Muslimen und Christen und nicht, wie Hitler behauptete, zwischen Juden und Ariern. Breivik geht es nicht um Rasse, sondern um Kultur. Wo Hitler und seine Leute von der Vermischung der Rassen geredet haben, redet er von Kulturalismus. Wo Hitler die Sozialdemokratie als eine Schwäche der deutschen Nation gesehen hat, da tut der Breivik allerdings genau dasselbe. Die Ideologien haben dieselbe Struktur, aber sie sind nicht identisch. Ich möchte das Wort Neofaschismus für Breivik verwenden. Seine Begeisterung für einen starken Staat, für die starke Nation, für einen starken Mann, der er selber wäre, für das gewaltsame Erlangen von Macht, wie er selbst sagt, das zeichnet auch den Faschismus aus.

SB: Wie beurteilen Sie die Versuche, ihn für unzurechnungsfähig zu erklären, wiewohl er sich offensichtlich ideologisch in einer größeren Strömung rechten Gedankenguts bewegt?

G: Es ist, wie Sie, glaube ich, ganz richtig sagen, eine größere Strömung. Die Hauptströmung ist in den Vereinigten Staaten. Christlicher Zionismus, die sogenannten Dominionisten. Sie sind außerordentlich gefährlich, und es gibt ähnliche Strömungen in anderen Ländern. Zu den europäischen Ländern, wo diese Strömungen vertreten sind, zählen Großbritannien, die Niederlande, Ungarn und Italien, teilweise auch Spanien. Aber meines Erachtens nicht Deutschland und Österreich. Ich glaube, dort üben die Neonazis eine Art Sperrfunktion aus, in dem Sinn, daß sie noch in den 30er, 40er Jahren leben und versuchen zu rechtfertigen, was damals geschah. Sie reiten nicht ganz auf dieser neofaschistischen Welle. Zudem ist man sich in Deutschland und Österreich dieser Entwicklung sehr bewußt, d. h. es gibt viele Gegenargumente.

Gegen Breivik hat niemand etwas getan, er saß dort in seiner Nische, in seinem Internetloch, hat seine Sachen geschrieben und gelesen, niemand hat eingegriffen. Nicht einmal die sogenannte Sicherheitspolizei hat ihn erreicht, es geschah alles völlig überraschend. Die norwegische Sicherheitspolizei hat mich als Friedensforscher ausspioniert. Das fing an, als ich 22 Jahre alt war, und hat ungefähr 40 Jahre angehalten, behaupten sie. Davon bin ich nicht überzeugt. Ich glaube, es geht weiter. Sie haben das getan, weil ich gegen die amerikanische Außenpolitik gewesen bin, allerdings auch gegen die sowjetische Außenpolitik, aber das haben sie als Tarnung interpretiert, um meine Haltung zu den USA zu verschleiern. Also sehen Sie: Wie denkt man viereckig? Man hat ein scharfes Auge nach links und sieht Sachen, die nicht existieren, während man auf dem rechten Auge blind ist.

SB: Mit Breivik ist eine Form von Gewalttätigkeit hervorgetreten, die, wie wir schon gesagt haben, eine starke Verankerung im ideologischen Mainstream hat. Wie, meinen Sie, schaffen es die rechtspopulistischen Bewegungen, die teilweise bereits in Parlamenten sitzen, davon abzulenken, daß sie etwas transportieren, was durchaus eine gewisse Gewaltbereitschaft aufweist?

JG: Man muß mit diesen Leuten reden. Ich habe das in meinem Leben als Friedensforscher und -vermittler sehr häufig getan. Es gibt viele Leute, die sagen, man könne mit diesen Leuten nicht reden, sie wären nicht gesprächsbereit, es wäre hoffnungslos. Meine Erfahrung ist, daß sie außerordentlich viel reden. Das Problem ist nicht, daß sie nicht reden, sondern daß sie 24 Stunden lang reden. Also das zu Ende zu bringen, ist fast unmöglich. Ich finde, man muß in diesen Dialog eintreten. Ich muß allerdings eine Warnung aussprechen. Um mit diesen Leuten einen Dialog zu führen, muß man gut vorbereitet sein. Was sie glauben, ist selbstverständlich ein Ausschnitt der Wirklichkeit, um so mehr gilt, daß man gut vorbereitet sein muß.

SB: Wie sehen Sie die Zukunft dieser kulturalistischen Auseinandersetzung, die leider immer mehr kriegerische Gestalt annimmt, und zwar, wie im jüngsten Fall Libyen, meist in Form von Kriegen des Westens gegen den Osten. Meinen Sie, daß im Rahmen der Krisenentwicklung auf dem Finanz- und Wirtschaftssektor eine Art kriegerische Regulation der herrschenden Widerspruchslagen ansteht?

JG: Das ist die Hauptfrage. Meines Erachtens führt der Weg selbstverständlich über den Dialog im Sinne von Neugier und Respekt. Heute werden im Westen nur die bösen Seiten des Islam gesehen, und es gibt viele Muslime, die nur die guten Seiten des Islam und die bösen Seiten des Westens sehen. Wir gehen von beiden Seiten aus vorwärts. Ich habe viele solcher Dialoge geführt. Eine Erfahrung ist eigentlich sehr negativ: Die Muslime möchten gerne mehr von der Diversität und dem Pluralismus, die sie im Westen sehen, für den Islam übernehmen. Ich finde das gut. Aber wenn ich Christen frage, was sie am Islam interessant finden, erhalte ich keine Antwort. Warum nicht? Nicht deswegen, weil sie nichts Interessantes gefunden haben, sondern deswegen, weil sie überhaupt keine Ahnung vom Islam haben.

Es herrscht Ignoranz vor. Es gibt Spezialisten, aber sie stellen die Ausnahme von der Regel dar. Wir reden über die allgemeine Bevölkerung. Muslime könnten vielleicht die guten Seiten des Islams besser verdeutlichen. Ich nenne als Beispiel das Zusammensein und die Verteilung. Das Zusammensein, man sieht es ja metaphorisch, wenn sie beten, wie sie ihre Kultur fast hautnah leben. Die christliche Mischkultur hat dies auch getan, aber das war vor Jahrhunderten. Die Verteilung betrifft die Idee, daß man den Armen gibt, was den Armen gehört. Selbstverständlich gibt es dabei wie in allen menschlichen Belangen Schwindel und Heuchelei. Aber ich glaube, wir sind in der westlichen Kultur heute zu isoliert, wir leben in unseren Löchern. Meine Auffassung ist, daß wir voneinander lernen sollten. Der Status quo besteht darin, gegen Breiviks Gewalt zu kämpfen. Wir müssen vorwärts gehen.

SB: Herr Galtung, vielen Dank für das Gespräch.

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11. August 2011