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BERICHT/008: Mieten, Wucher, programmiertes Scheitern ... (SB)


Aktion gegen Wohnungsnot am 23. Januar 2013 in Hamburg


Stolzer Mieter in Telefonzelle - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wohnen mobil und prekär
Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine Telefonzelle, ausgestattet mit dem symbolischen Minimum dessen, was der Mensch zum Wohnen braucht, an einer zugigen Ecke des Jungfernstiegs in Nähe des Hamburger Rathauses. Ihre öffentliche Versteigerung an Wohnungssuchende, die sich, mit überdimensionierten Geldscheinen aus dem Kopierer ausgestattet, gegenseitig überbieten, um eine notdürftige Bleibe zu erlangen, wird von dem Kampagnennetzwerk Campact und dem Deutschen Mieterbund (DMB) als "Satire-Aktion" bezeichnet. Was trotz der eisigen Kälte für die daran beteiligten Aktivistinnen und Aktivisten ein großer Spaß zu sein scheint, schrammt hart an der Realität einer Gesellschaft vorbei, in der Wohnen selbst unter einfachsten Verhältnissen für immer mehr Menschen so teuer wird, daß ihr monatliches Haushaltseinkommen zu durchschnittlich gut einem Drittel allein für diesen unentbehrlichen Teil der Daseinsvorsorge eingesetzt werden muß.

Da sich dieses Verhältnis desto mehr zu Lasten der Mieter verschärft, je weniger Geld ihnen zur Verfügung steht, steht der sozialfeindliche Charakter der kapitalistischen Verwertung von Wohnraum außer Frage. Wer als Erwerbsloser oder prekär Beschäftigter mit Niedriglohn die Hälfte seines Nettoeinkommens für das Wohnen ausgibt, erleidet dessen Warencharakter buchstäblich am eigenen Leib. Sich für Lohnarbeit zu verkaufen und diese fremdbestimmte Zeit zu einem Drittel bis zur Hälfte darauf zu verwenden, daß die eigene Arbeitskraft in der beheizten Wohnung aufgefrischt werden kann, während das Gros des übrigen Lohns für andere essentielle Reproduktionskosten wie Ernährung, Bekleidung und medizinische Leistungen draufgeht, reduziert den Menschen auf ein funktionelles Partikel der Mehrwertproduktion. Das von den Besitzern des vermieteten Wohnraums erzielte Einkommen basiert auf einer Eigentumsordnung, der Besitzlose weitgehend ohnmächtig ausgeliefert sind.

Diesen Konflikt zu entschärfen und damit den eigenen Bestand zu sichern, ist Aufgabe des grundgesetzlich im Prinzip sozialpflichtigen Staates. Die Wirksamkeit des auf geduldigem Papier verankerten Sozialstaatsgebots beschränkt sich in Anbetracht von Mietsteigerungen, die in 25 deutschen Städten in den letzten fünf Jahren 10 Prozent betrugen, während etwa Hamburger Wohnungen allein 2011 um 7,5 Prozent teurer wurden, auf einen symbolpolitischen Legitimationsfaktor. So ist der "Mietenwahnsinn" alles andere als Produkt einer psychopathologischen Eskalation. Die Verteuerung des Wohnraums bei gleichzeitiger Stagnation respektive Verringerung der Haushaltseinkommen ist nicht nur aus Sicht des Kapitals, sondern auch des neoliberalen Staates rationaler Ausdruck eines Verwertungsinteresses, das in der industriellen Mehrwertproduktion zusehends an seine Grenzen stößt. Was das dort eingesetzte Kapital über die unbezahlt bleibende Arbeit der Lohnabhängigen noch erwirtschaften kann, steht in krassem Mißverhältnis zu den gigantischen auf dem Finanzmarkt akkumulierten Geldmengen.

Diese weiterhin rentabel, also mit handelsüblichen Renditeerwartungen von mindestens zehn Prozent, gerne aber auch mehr, anzulegen, ist oberstes Gebot der auch und gerade in der Krise prosperierenden Kapitalmacht. Die Preissteigerungen auf dem Immobilienmarkt und deren Auswirkungen auf die Mietpreisentwicklung sind nicht von ungefähr Indikatoren des Verfalls der auf Lohnarbeit basierenden Wertproduktion. Der Gebrauchswert des Wohnens und seine Veräußerung als Ware basiert auf der Aneignung des Landes, auf dem die Häuser mit Hilfe menschlicher Arbeitskraft errichtet werden. Der Konsum der in Bau und Erhalt der Häuser eingesetzten Arbeit durch die sie bewohnenden Mieter führt jedoch nicht zum Wechsel des Eigentümers, wie es beim Kauf einer Ware ansonsten üblich ist. Indem das Mietverhältnis nicht dazu führt, daß die Wohnung in die Hände der Mieter übergeht, erweist sich das Einkommen der Vermieter langfristig als eine Form der Grundrente, als Verwertung des Eigentumsanspruchs auf die knappe Ressource Land.

Die Verlagerung des Kapitaleinsatzes von der industriellen Produktion auf endliche Ressourcen ist dem Versuch geschuldet, dem drohenden Werteverlust spekulativer Geschäfte im luftleeren Raum fiktiven Kapitals, also mehrfach verzinster Gläubigerforderungen, Finanzderivate aller Art oder Kreditausfallversicherungen, zu entkommen. Wie der Kollaps der Immobilienblase in den USA zu Beginn der Krise belegt, ist der Kauf von Eigenheimen seinerseits von Kreditkaskaden und deren Verfall bedroht. Als nicht mehr solvente Eigner vor ihren ehemaligen Häusern zelteten, weil sie von ihren Gläubigern zwangsgeräumt wurden, erwies sich die propagierte Ownership-Society vollends als Maßnahme der US-Regierung, die spekulative Finanzakkumulation durch die Kapitalisierung von Lohneinkommen zu sichern, die weit unter der Schwelle der Möglichkeit lagen, in die Eigentümerklasse zu wechseln.

Wohnungen immer teurer zu vermieten gelingt desto besser, als das Angebot insbesondere in Städten, wo der Bedarf am höchsten ist, knapp bleibt. Das Limit der Bezahlbarkeit unterliegt dabei starken lokalen und regionalen Unterschieden, was sich in den berüchtigten Gentrifizierungsprozessen darstellt, mit denen die Wohnbevölkerung sozial umstrukturiert und ghettoisiert wird. Den Apologeten der sozialen Marktwirtschaft kommt es durchaus entgegen, daß sie als Eigentümer und Mieter von Luxuswohnungen tendenziell in Gated communities leben respektive ihre sozialen Antagonisten in größere Distanz zu ihnen selbst manövriert werden. Die Klassengesellschaft manifestiert sich damit auch in der Form einer räumlichen Entmischung, so daß soziale Kämpfe ganz im neoliberalen Sinne zusehends als Überlebenskonkurrenz zwischen Subalternen ausgetragen werden, anstatt daß Erwerbslose, Lohnabhängige und Prekarisierte gegen die Kapitalmacht vorgehen.

Da die Frage der Bezahlbarkeit von Wohnraum wiederum von der durchschnittlichen Einkommensentwicklung abhängig ist, betrifft die Mietpreisproblematik nicht nur ein Kriterium gesellschaftlicher Reproduktion, sondern ist von der Frage gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht zu lösen. Den Menschen in Unmündigkeit und Ohnmacht zu halten, indem man ihn materiellen Zwängen aller Art aussetzt, ist nicht das Ergebnis angeblich autonomer Marktregulative, sondern der kapitalistischen Vergesellschaftung des Menschen. Dort leben zu können, wo man leben will, anstatt von den Bedingungen der Marktwirtschaft hin- und hergetrieben zu werden, ist zudem eine Voraussetzung selbstbestimmter soziokultureller Identität. Der Mensch benötigt ein Dach über dem Kopf kaum weniger, als daß er essen und trinken muß, doch er verfolgt darüber hinaus soziale Interessen, deren Erfüllung wiederum maßgeblich für die Beantwortung der Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Existenz ist.

Das staatliche Gemeinwesen darauf zu verpflichten, ein Grundrecht auf angemessenes Wohnen zu gewährleisten, könnte aus humanistischer Sicht nicht naheliegender sein. Daß sich die Sachwalter der sogenannten sozialen Marktwirtschaft der grundrechtlichen Verankerung ihres selbsterklärten Anliegens, im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger zu handeln, entziehen und sich statt dessen auf den angeblichen Sachzwang berufen, die Investitionsbedingungen der Kapitalmacht zu sichern, entspringt keinem Naturzwang. Erschwingliches Wohnen läßt sich, wie auch der selbst unter vielen Linken übel beleumdete Realsozialismus bewiesen hat [1], gesamtgesellschaftlich so organisieren, daß die Befriedigung des Wohnbedürfnisses an die Stelle der aus Grund- und Hauseigentum erwirtschafteten Renten tritt. Die davon lebende Klasse verfolgt mithin Interessen, die nicht die des Gros der von Sozialtransfers oder Lohneinkommen abhängigen Menschen sein können.

Wohnungsloser vor Campact-Aktion - Foto: © 2013 by Schattenblick

Symbolischer Protest und harte Realität
Foto: © 2013 by Schattenblick

Zurück zur Telefonzelle, deren Versteigerung als spektakulärer Auftakt zur Übergabe von 70.000 Unterschriften an den Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz gedacht ist, die der Online-Appell "Wohnen muss bezahlbar sein" [2] erbracht hat. Dessen Forderungen bestehen im Kern in der gesetzlichen Begrenzung von Mietsteigerungen durch die Begrenzung neu vereinbarter Mieten auf "maximal 10 Prozent über der Vergleichsmiete der letzten zehn Jahre", was eine Ausdehnung des Zeitraums beinhaltet, in dem die ortsübliche Vergleichsmiete bestimmt wird. Da dies alle vier Jahre erfolgt, schlagen jüngste Preissteigerungen besonders stark zu Buche, während der Bezugszeitraum der letzten zehn Jahre in der Regel eine geringere Steigerungsrate als Normwert für alle daraus hervorgehenden Berechnungen zugrundelegt. Die zweite Forderung des Appells betrifft die Reduzierung der sogenannten Kappungsgrenze für Bestandsmieten, die derzeit Mietpreissteigerungen von 20 Prozent in drei Jahren zuläßt, auf "maximal 15 Prozent in vier Jahren". Schließlich wird die Freistellung von sehr viel mehr öffentlichen Mitteln für "den Erhalt, Rückkauf und Neubau von Sozialwohnungen" verlangt.

Auktionator und meistbietende Mieterin - Foto: © 2013 by Schattenblick

Schlüsselübergabe
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die rund 40 Aktivistinnen und Aktivisten, die sich lautstark und engagiert an der öffentlichen Inszenierung dieses Mißstandes beteiligen, wissen genau, warum sie sich bei großer Kälte hier versammelt haben. So erklärt eine Frau, die die Telefonzelle für mehrere tausend Euro ersteigert hat, nur um gleich wieder aus ihr auszuziehen, weil es darin einfach zu kalt ist, daß ein großes Problem in der auslaufenden Sozialbindung vieler Hamburger Wohnungen bestehe. Der Senat könne nicht dem Interesse der Investoren hinterherbauen, die Sozialwohnungen nach Verstreichen der gesetzlichen Frist in Eigentumswohnungen umwandeln oder sehr viel teurer vermieten. Für Normalverdiener seien zehn Euro pro Quadratmeter nicht mehr bezahlbar, daher verlange sie, daß das städtische Wohnungsbauunternehmen der Hansestadt mehr Sozialwohnungen errichte und daß städtische Grundstücke vorzugsweise an den sozialen Wohnungsbau vergeben würden. 30 Prozent sozialer Wohnungsbau, den die SPD in städtischen Bauprojekten verankert habe, seien zu wenig, wenn 42 Prozent der Hamburger Anspruch auf Sozialwohnungen hätten, mit den noch vorhandenen rund 100.000 Sozialwohnungen aber nur ein Viertel des Bedarfs abgedeckt werde.

Ein ältere Dame, die kurz vor ihrer Pensionierung steht, befürchtet, aufgrund ihrer geringen Rente aus ihrer Wohnung ausziehen zu müssen. Da bei jedem halbwegs erschwinglichen Angebot Hunderte von Interessenten zugegen seien, habe ihr Sohn erst nach sieben Monate intensiver Suche eine Wohnung gefunden. Die sei allerdings so verwohnt gewesen, daß er sie erst einmal auf eigene Kosten von Grund auf renovieren mußte.

Was am Beispiel der Telefonzelle vorgemacht wurde, entspricht, wie auch der Redner von campact berichtet, allemal der Realität. Die Wohnungssuchenden werden gegeneinander ausgespielt, indem sie sich gegenseitig überbieten, und erhalten mitunter Wohnungen, für deren Instandsetzung sie selber Sorge tragen müssen. Ein Aktivist vertritt die Ansicht, man dürfe Wohnungen ohnehin nicht als Investition betrachten. Die Mieten sollten die Kosten der Vermieter decken, aber nicht mehr, so der berechtigte Wunsch des Mannes, dessen Hoffnung darauf, daß die SPD in seinem Sinne tätig wird, sich mit den Absichten der Initiatoren der Kampagne deckt.

Die für Wohnungspolitik und Stadtentwicklung zuständige Abgeordnete der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, Heike Sudmann, ist da nicht ganz so optimistisch, hat aber durchaus die politisch machbaren Schritte im Sinn. Vom Schattenblick danach gefragt, wie diese aus der Sicht der Linkspartei zu vollziehen wären, bezieht sie in einem kurzen Interview Stellung:

Heike Sudmann: In der Mietenpolitik ist Die Linke die Partei, die für die MieterInnen steht. Wir haben schon vor anderthalb Jahren gesagt, daß wir versuchen wollen, die SPD und diesen Senat zu bewegen, wenigstens die kleinen Dinge zu machen, die möglich sind. Als Bundesratsinitiative sollten sie die Kappungsgrenze auf den Zeitraum von vier Jahren verlängern und auf 15 Prozent Mietsteigerung begrenzen. Das wurde abgelehnt. Jetzt sagt die SPD-Bundestagsfraktion, daß sie dies auch erreichen wollen. Man kann sagen, daß wir kleine realpolitische Schritte gemacht haben.
Wir finden natürlich, daß der Mietenwahnsinn insgesamt beendet werden müßte, aber wir haben noch keine Mehrheiten dafür. Wir versuchen jetzt, die anderen mit ganz vielen kleinen Nadelstichen zum Mitmachen zu bewegen. Heute haben wir in der Bürgerschaft unseren Antrag zum neuen Gesetz, das voraussichtlich im Februar oder März verabschiedet werden wird, eingebracht. Er sieht vor, daß die Kappungsgrenze in ganz Hamburg innerhalb von drei Jahren auf 15 Prozent reduziert wird. Das haben wir heute beantragt. Ich hoffe, wir kommen damit durch, denn die SPD eiert noch. Die will dies eventuell nur für einzelne Stadtteile vornehmen.
SB: Wohnen ist ja eigentlich ein Grundrecht.
HS: Wir fordern, daß Wohnen ein Grundrecht werden muß. Es ist leider noch kein Grundrecht. Noch wird Wohnen wie eine Ware gehandelt. Ich kann sagen, ich verzichte auf den Fernseher, aber ich kann nicht sagen, ich verzichte auf die Wohnung. Deshalb fordern wir, daß das ins Grundgesetz aufgenommen wird.
SB: Es ist ja spätestens seit der Immobilienblase in den USA bekannt, daß Land und Wohnraum Investitionsobjekte erster Güte sind, mit denen sehr viel Kapital akkumuliert wird. Können Sie sich vorstellen, daß sich diese Entwicklung tatsächlich einmal zu Gunsten der Menschen, die wohnen müssen, umkehrt?
HS: Hamburg hat ja noch eigenen Grund und Boden. Da fordern wir schon seit langer Zeit, daß dieser erstens nicht verkauft, sondern nur im Erbbaurecht vergeben wird. Das heißt, daß das jemand für 75 bis 99 Jahre erhalten kann, um darauf zu bauen, aber der Grund und Boden bleibt bei der Stadt, so daß die Spekulation entfällt. Jetzt ist es zwar schon etwas fortschrittlicher als unter der schwarz-grünen Regierung, weil die Stadt ein Grundstück nur verkauft, wenn der Käufer ein gutes Konzept hat. Er kann dann Sozialwohnungen bauen, die für 15 Jahre gebunden sind. Das heißt jedoch, daß er nach 15 Jahren langsam die Mieten erhöhen kann und sein Grund und Boden damit wertvoller wird.
Ich bin nicht richtig optimistisch, daß die SPD da umschwenkt. Bei der CDU und FDP ist völlig klar, daß sie gegen Preisregulierungen oder ein Verkaufsstopp sind. Die Grünen tendieren eher in Richtung der Linkspartei. Aber es ist ein langer Weg, die Bedeutung städtischen Eigentums bewußt zu machen. Warum soll es sehenden Auges zu dem Zweck verkauft werden, daß in 20 Jahren damit ein dicker Reibach gemacht wird? Man könnte doch preisdämpfend wirken.
SB: Warum wird im Bereich des sozialen Wohnungsbaus nicht mehr gemacht, wenn doch bis zu sechs Millionen Bundesbürger anspruchsberechtigt sind, es aber nur 1,5 Millionen Sozialwohnungen gibt?
HS: Das frage ich mich auch. In Hamburg haben 42 Prozent aller Haushalte einen Anspruch auf eine Sozialwohnung. Das sind etwa 400.000 Haushalte. Wir haben aber nur knapp 100.000 Sozialwohnungen. Deshalb müßten von den 6000 Wohnungen, die jährlich gebaut werden, mindestens 4000 bis 5000 Sozialwohnungen sein. Der Senat gesteht jedoch nur 2000 zu, genaugenommen sind es eigentlich nur 1200, die wirklich kostengünstig sind. Da muß viel mehr passieren. Die Politik glaubt wohl, daß es sich irgendwie zurechtrütteln wird. Es gibt ja noch günstige Wohnungen bei der SAGA oder teilweise bei den Genossenschaften, aber die werden auch immer teurer.
SB: Versuchen die Menschen ansonsten ins Umland zu ziehen, um billiger zu wohnen?
HS: Wer kann denn wegziehen? Ein Umzug ist teuer. Also werden die Menschen in immer kleinere Wohnungen und immer schlechtere Wohnverhältnisse gedrängt. Wegziehen können diejenigen, die viel Geld haben. Wer wenig Geld hat und ins Umland ziehen muß, steht vor dem Problem, wie er noch an die städtischen Angebote kommt, wenn er kein Auto hat. Das ist eine irre Politik.
SB: Frau Sudmann, vielen Dank für die Stellungnahme.
Geldscheine wechseln den Besitzer - Foto: © 2013 by Schattenblick

Zu Konkurrenten gemacht und daher handelseinig
Foto: © 2013 by Schattenblick

Nach einer knappen Stunde bricht man zum eigentlichen Zweck der Aktion, der Übergabe der gesammelten Unterschriften, zum Rathaus auf. Dies erfolgt allerdings ohne die Anwesenheit der Aktivistinnen und Aktivisten, die mit ihren Schildern und Sprechchören den Eindruck erweckten, es handle sich bei der Aktion um eine regelrechte Demonstration. Die Erklärung der Veranstalterin, die Übergabe könne aufgrund der parlamentarischen Bannmeile nur mit einer kleinen Delegation erfolgen, hält die meisten davon ab, als ganz normale Bürgerinnen und Bürger das Foyer des Rathauses zu betreten. Dies wäre in Anbetracht der dort tagsüber präsenten Menschenmenge unter Verzicht auf die Transparente ohne weiteres möglich gewesen, wenn die wenigen an der Aktion Beteiligten sich in kleinen Grüppchen aufgemacht hätten, um diesem Repräsentationsakt bürgernaher Politik beizuwohnen.

So erfolgte die Übergabe exklusiv in Anwesenheit der Medien, des eigens aus Berlin angereisten Direktors des Deutschen Mieterbundes (DMB), Lukas Siebenkotten, der Campact-Campaignerin Annette Sawatzki und eines weiteren Campact-Aktivisten. Wie nicht anders zu erwarten, nutzte der Bürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz, die Gelegenheit, um sich von seiner besten, also adäquat mieterfreundlichen Seite zu zeigen. Sein Dank für die Unterschriften und das dahinterstehende Engagement mündete zwar in die prinzipielle Erklärung, wie wichtig es wäre, den Mietpreisanstieg zu begrenzen. Das Hauptgewicht seiner Worte lag jedoch darauf, daß unbedingt mehr neue Wohnungen gebaut werden müßten, und zwar auf lange Sicht hin. So appellierte Scholz an die Länder und die politischen Kräfte im Deutschen Bundestag, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, die Kostensteigerungen normalisiere, also von der bloßen Knappheit des Angebots löse, um sich gleichzeitig darauf zu konzentrieren, möglichst viele neue Wohnungen zu errichten.

Dazu sei dafür zu sorgen, daß bei größeren Wohnungsbauvorhaben stets ein Teil für den geförderten Wohnungsbau vorgesehen ist, was unter anderem bedeute, beim Verkauf städtischer Grundstücke nicht den Maximalgewinn erzielen zu wollen. Dies werde um so besser funktionieren, wenn überall neue Bebaungspläne entstehen, damit Baugenehmigungen auf neuen Flächen erteilt werden können. Mietpreisobergrenzen bei Neuvermietungen wie bei Bestandsmieten seien für ihn kein Tabu, sondern man müsse den Wohnraummangel insbesondere in den großen Städten dadurch bewältigen, daß die Mietsteigerungen gesetzlich begrenzt würden.

70.000 Bürgerstimmen symbolisch verwertet - Foto: © 2013 by Schattenblick

Campact-Aktivisten, Lukas Siebenkotten, Olaf Scholz
Foto: © 2013 by Schattenblick

Über die bei SPD wie Grünen und Linken vorhandenen Bestrebungen, die Mietpreisentwicklung insgesamt zu dämpfen, hinaus war auch von diesem SPD-Politiker nichts Gehaltvolles zur sozialen Problematik zu erfahren, die am Beispiel der Wohnungsnot exemplarisch deutlich wird. Das große Gewicht, das Scholz auf den Neubau von Wohnungen richtet, kann auch als Angebot an die Bauwirtschaft verstanden werden, muß also nicht von einem sozialen Ansinnen motiviert sein. Wenn dies das Ergebnis einer außerparlamentarischen Bewegung ist, die sich rühmt, durch die netzgestützte Mobilisierung besonders wirksam in den demokratischen Prozeß einzugreifen, dann wirft das die Frage auf, inwiefern ein weitgehend virtueller Protest es seinen Adressaten nicht allzu leicht macht, ihn zu ignorieren oder sich gar mit ihm zu schmücken.

Wären die Forderungen des Appells weniger konziliant gewesen, dann wäre es auch dem Hamburger Bürgermeister schwerer gefallen, die Übergabe der Unterschriften nicht als bloßen Fototermin zu seinen Gunsten zu nutzen. Während direkte Aktionen wie die Besetzung seit langem leerstehender Häuser mit repressiver Staatsgewalt unterdrückt und große antikapitalistische Demonstrationen zum Teil sogar verboten werden, wird in relativer Nähe zum politischen Mainstream eher handzahm agiert. Der Ansicht ist zumindest Günter Rausch, Professor an der Evangelischen Hochschule Freiburg und 2010 Kandidat für das Bürgermeisteramt der Stadt. In einem Interview mit Radio Dreyeckland am 14. Dezember 2012 [3] kritisiert er die Campact-Aktion als im Kern sozialdemokratische Einbindungsstrategie. Man mache ein Gesprächsangebot, das darauf hinausläuft, etwas weniger grausam mit den Armen der Gesellschaft zu sein und ihnen etwas mehr übrigzulassen, anstatt, wie es die Bürgerinitiative "Wohnen ist Menschenrecht" schon vor fünf Jahren gefordert habe, einen generellen Mietstopp durchzusetzen und in Richtung Mietsenkungen umzusteuern.

Wohnen sei kein beliebiges Gut und keine Ware, sondern ein Grundbedürfnis und ein Menschenrecht. Es müsse dem Markt entzogen werden, denn es sei eine öffentliche Aufgabe, jedem Menschen angemessenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Ursprünglich wäre der soziale Wohnungsbau nicht für Randgruppen gedacht gewesen, sondern, wie es im damaligen Gesetz hieß, für breite Schichten der Bevölkerung. Der Sozialarbeitswissenschaftler verlangt einen neuen gesellschaftlichen Diskurs. Dieser könne etwa darauf hinauslaufen, zu dem von Kirchen, Gewerkschaften und Versicherungen betriebenen sozialen Wohnungsbau zurückzukehren. Da es dabei um die Bildung von Rücklagen ging, konnte nur ein beschränkter Zins realisiert werden. Letztlich jedoch lasse sich die Wohnungsfrage im Kapitalismus dauerhaft nicht vernünftig lösen, daher brauchten wir eine gerechte Gesellschaft, denn nur in einer solchen könne es auch gerechte Mieten geben.

Zelte unter Brücke zwischen Binnen- und Außenalster - Foto: © 2013 by Schattenblick

Unter Hamburger Brücken
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch über diese Vorschläge ließe sich gut streiten, allerdings in einem produktiveren Sinne, als wenn eine sich als Teil der sozialen Bewegung verstehende Organisation Forderungen erhebt, die nur unwesentlich über die unter den etablierten Parteien verhandelten Positionen hinaus- und damit über den Grundwiderspruch zwischen Eigentümer- und Besitzlosenklasse hinweggehen. Bei allen machbaren Schritten ist nicht zu vergessen, daß der Preis des Verzichts auf radikaleren Widerstand in einer Immunisierung des aus den schwerwiegenden sozialen Widersprüchen dieser Gesellschaft entstehenden Mobilisierungs- und Aktionspotentials bestehen kann. Die Professionalisierung der sozialen Frage im Abtausch zwischen einem PR-affinen, als NGO organisierten Aktivismus und großen Medien, die vorrangig an schnell konsumierbar aufbereiteten Themenstellungen interessiert sind, kann durchaus Einfluß auf die Inhalte selbst nehmen. So hat das US-amerikanische Campact-Vorbild MoveOn.org in seinem positiven Verhältnis zu Präsidenten der Demokratischen Partei mehr als einmal bewiesen, daß etwa in Fragen von Krieg und Frieden nicht mit gleicher Elle gemessen wird. Die in den Vereinigten Staaten massenwirksam operierende NonProfit-Industrie [4] ist ein so anschauliches wie warnendes Beispiel für die Korrumpierbarkeit eines sich von materieller Förderung wie politischer Anerkennung abhängig machenden politischen Aktivismus, daß sie auch hierzulande mehr Beachtung finden sollte.

(wird fortgesetzt)

Fußnoten

[1] http://www.uni-leipzig.de/fernstud/Zeitzeugen/zz157.htm

[2] https://www.campact.de/mieten/appell/teilnehmen/

[3] https://www.rdl.de/index.php?option=com_content&view=article&id=18836:diewohnungsfragelaesstsichimkapitalismusdauerhaftnichtvernuenftigloesenkritikancampactaktion&catid=236&Itemid=201

[4]http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0009.html

25. Januar 2013