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BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)


"Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change"

Kolloquium im Wissenschaftszentrum Bonn vom 14. bis 16. April 2013


Plakat mit Wortwolke zum Thema Megacities - Foto: 2013 by Schattenblick

Foto: 2013 by Schattenblick

Die Konzentration der rasant wachsenden Weltbevölkerung in gigantischen urbanen Ballungsräumen zählt zweifellos zu den zentralen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Getrieben vom Klimawandel, der traditionelle Anbauflächen riesigen Ausmaßes unumkehrbar vernichtet und weltweit die Ernten bedroht, nicht zuletzt aber der von den führenden Industriestaaten forcierten Okkupation der Produktion von Nahrungsmitteln, eskaliert eine Wanderbewegung vom Land in die Städte. Hochtechnisierte und hochsubventionierte Agrarwirtschaft zerstört im Verbund mit einem Handelsregime, das Schutzzölle und andere Abwehrmaßnahmen unterlegener Volkswirtschaften pulverisiert, millionenfach kleinbäuerliche Existenzen in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Hinzu kommen kreditgebundene Auflagen, Agrarerzeugnisse für den Export zu produzieren, Landraub größten Ausmaßes und eine Industrialisierung der Landwirtschaft in den betroffenen Staaten selbst.

Zahllose Menschen, die über nichts verfügen als ihre Arbeitskraft, sehen sich immer weniger in der Lage, auf einer kleinen Parzelle ihr Überleben notdürftig zu sichern. Um nicht zu verhungern, fliehen sie in die entufernden Elendsquartiere großer Städte, die zwar bessere Überlebenschancen verheißen, welche jedoch nur diejenigen erfolgreich nutzen können, die sich in dem dort forcierten Konkurrenzkampf behaupten können. Zumeist ohne jede Versorgung und unter rudimentärsten Bedingungen vermehren sie die gewaltige Reservearmee ausbeutbarer Arbeitskraft, die im Zuge global expandierender Kapitalverwertung die Produktion per Niedrigstlohn bis hin zu sklavenähnlichen Bedingungen befeuert. So gleichen die unerhört dicht bevölkerten, in erheblichen Teilen sich selbst überlassenen und zumeist unkontrolliert wuchernden urbanen Konglomerate riesigen Schmelztiegeln, in denen die Besitzlosen und Unterworfenen ausgepreßt und restverwertet werden, zugleich Laboren der Steuerung und Verfügung im Dienst herrschaftssichernder Interessen.

Um das menschheitsgeschichtlich zu einer der extremsten Verlaufsformen des Zusammenlebens avancierende Phänomen der Megacities zu analysieren und zu bewerten, bedarf es mithin einer positionierten Entschlüsselung nach grundlegenden Parametern. Besitzverhältnisse, Ausbeutungsinteressen, Verelendungsstrategien, Arbeitsregime und Unterdrückungsmechanismen sollten ebenso zur Sprache kommen wie deren spezifische Ausprägung im jeweiligen nationalen Kontext und im internationalen Zusammenhang konkurrierender Mächte oder Gesellschaftsentwürfe.

Heute lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Wie ein kurzer Blick in die Geschichte der Urbanisierung zeigt, hat sich diese erst in der jüngeren Vergangenheit als ein vorherrschender Trend durchgesetzt, der allerdings seit wenigen Jahren geradezu explosionsartig um sich greift. Um 1800 lebten nur 3 Prozent der Menschheit in Städten, und noch 1950 gab es weltweit zwar 83 Millionenstädte, doch wies lediglich New York eine Einwohnerschaft von mehr als 10 Millionen auf. Im Jahr 2007 zählte man bereits 468 Millionenstädte, und für 2015 wird die Zahl der Megastädte mit über 5 Millionen Einwohnern auf 60 prognostiziert. Hochrechnungen der UNO zufolge wird die urbane Bevölkerung von derzeit 3,2 Milliarden bis 2030 auf fast 5 Milliarden steigen, so daß dann drei von fünf Menschen in Städten leben dürften.

Noch bedeutsamer als dieser exponentielle Zuwachs der Urbanität ist jedoch der Umstand, daß in den nächsten 25 Jahren fast alle neuen Megastädte in Entwicklungsländern entstehen werden. Von den weltweit 30 größten Megastädten liegen schon heute allein 20 im asiatischen Raum und in Lateinamerika, auch in Afrika wachsen Riesenstädte an. Etwa jeder siebte Mensch lebt derzeit in einem Slum, und für 2030 rechnet man mit über 2 Milliarden weltweit, die in derart prekären Verhältnissen zu existieren gezwungen sind. Während in der Vergangenheit der vergleichsweise hohe Urbanisierungsgrad Westeuropas und der USA ein Ausdruck der entwickelten Produktivkräfte führender Industriestaaten war, zeugt der aktuelle Trend zur Ausbildung von Megastädten demgegenüber vor allem von Armutsfolgen katastrophalen Ausmaßes, deren Bewältigung im Rahmen der herrschenden Verhältnisse nachgerade unmöglich sein dürfte.

Die Zusammenballung von Millionen armer Menschen auf engstem Raum bringt zwangsläufig gravierende Probleme der Überlebenssicherung mit sich. Mangelndes Trinkwasser, fehlende Abwasserbeseitigung, Unterernährung, Krankheiten, provisorische Unterkünfte und kaum vorhandene Erwerbsmöglichkeiten sind die gravierendsten Hürden für eine halbwegs menschenwürdige Existenz. Fehlender Zugang zum Gesundheitssystem, zum Bildungswesen und zur städtischen Ökonomie stehen einer Verbesserung der Lebensverhältnisse im Wege. Megastädte weisen zudem eine hohe Rate Obdachloser auf, wovon Familien und Kinder in besonderem Maße betroffen sind. Die Luftverschmutzung durch Industrie, Verkehr, Kohleverstromung und Feuerstätten nimmt oftmals dramatische Ausmaße an. Soweit man von einer Verkehrsinfrastruktur sprechen kann, ist diese zumeist heillos überlastet, wobei die entufernde Ausdehnung in die Fläche ihrerseits spezifische Widrigkeiten mit sich bringt.

Natürlich findet man in der Kategorie "Megastädte" nicht nur Ansammlungen von Elendsquartieren. Metropolen wie Tokio, New York oder Seoul sind mit einem hohen Entwicklungsstand und Wohlstandsniveau assoziiert, was allerdings nicht den Blick darauf verstellen sollte, daß auch diese als wohlhabend geltenden Städte eine ausgeprägte Widerspruchslage von Reichtum und Armut in sich bergen. Spricht man von Mexiko-Stadt, Mumbai, Sao Paulo, Manila, Delhi, Shanghai, Lagos oder Dhaka, verschiebt sich das Binnenverhältnis in Richtung einer extremeren Polarisierung in kleine Eliten und massenhaftes Elend. Im Innen- und Außenverhältnis verkörpern urbane Zentren Knotenpunkte jener Raubstrukturen, die auf den Schultern der einheimischen Bevölkerung lasten, wie auch im Zuge imperialistischen Übergriffs weltweit zum Tragen kommen.

Folie mit Veranstaltungsankündigung - Foto: 2013 by Schattenblick

Foto: 2013 by Schattenblick

Stadtforschung interdisziplinär und international

Vom 14. bis 16. April 2013 fand im Wissenschaftszentrum Bonn das DFG Priority Program "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" mit mehr als 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Deutschland, China und Bangladesch als abschließendes Kolloquium eines umfassenden Forschungsvorhabens statt. Das Schwerpunktprogramm war von der Problemstellung ausgegangen, daß Megastädte einem bisher nicht gekannten Verlust von Regier- und Steuerbarkeit unterliegen. Dies hat zur Folge, daß immer mehr Prozesse ungeregelt, informell oder illegal ablaufen und in Formen, Funktionen und Interaktionen kaum untersucht sind. Zielsetzung war daher, den an Bedeutung gewinnenden Zusammenhang zwischen hochkomplexen, informell ablaufenden megaurbanen Prozessen und den Formen und Auswirkungen globalen Wandels auf Entwicklung und Reorganisation räumlicher, sozialer und institutioneller Beziehungen in den Megastädten zu untersuchen.

Um Antworten auf die Frage zu finden, ob Megastädte pulsierende Weltmetropolen oder lebensunwürdige Slums seien, oder vielmehr Elemente von beidem gleichzeitig nebeneinander stünden, hatte das federführende Forscherteam vom Geographischen Institut der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen weiterer deutscher und ausländischer Universitäten die beiden Megacities Dhaka in Bangladesch und Pearl River Delta in China untersucht. Sie beobachteten, kartierten, analysierten und führten Interviews mit den Menschen auf den Straßen und besuchten sie in ihren Häusern und Hütten, um die rasante Entwicklung der Millionenstädte, deren Akteure und Regelhaftigkeiten zu verstehen.

Bei ihrer Suche nach Antworten machten die Wissenschaftler eigenen Angaben zufolge interessante Entdeckungen. Der Staat und die Verwaltung als ordnende und regierende Kräfte in Megastädten treten angesichts der ungeheuren Geschwindigkeit der Veränderungen immer mehr in den Hintergrund. Es gebe keine Melderegister und Stadtpläne, wie wir sie kennen, in diesen rasend schnell wachsenden Städten. Es entstünden informelle Strukturen, in denen sich die Menschen selbst organisieren und dadurch schnell und flexibel auf Entwicklungen reagieren können. Es gelte, die beteiligten Gruppen und Machtverhältnisse, die das Leben auf neue Weise ordnen, zu erkennen, denn eine Steuerung der Stadtentwicklung sei nur durch das Zusammenspiel dieser Gruppen möglich. [1]

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Harald Sterly, Frauke Kraas
Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Frauke Kraas formulierte in ihrem einleitenden Vortrag den Anspruch des Forums in Bonn, die Ergebnisse aus zehn Jahren Projektentwicklung und Forschung in China und Bangladesch nicht nur in der wissenschaftlichen Gemeinde zu diskutieren, sondern auch in den gesellschaftlichen Diskurs einfließen zu lassen. Angesichts der dritten "urbanen Revolution" mit ihren gewaltigen Problemen wie unkontrolliertem Wachstum, explodierenden Kosten, sozialer Entwurzelung, Verstopfung der Verkehrswege und massiven Ungleichheiten stoße man doch auch auf Ansätze, die Zivilgesellschaft zu stärken. Es reiche nicht aus, den Städten die entufernden Probleme anzulasten, vielmehr sollten auch positive Entwicklungen wie Innovation, Kreativität, Diversität und Austausch gewürdigt werden. Zu untersuchen seien die Akteure in diesen Städten mit ihren unterschiedlichen Motivationen, Erfahrungen und Einflußmöglichkeiten, um eine Auseinandersetzung mit den treibenden Kräften herbeizuführen und Einblick in die Zusammenhänge und Interaktionsprozesse zu gewinnen. In einem vier Jahre währenden Prozeß habe mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des National Comittee for Global Change Research (NKGCF) das Vorhaben Gestalt angenommen. Im Anschluß habe man eine Ausschreibung formuliert, Projekte vorgeschlagen und Arbeitsgruppen gebildet, woraus schließlich im Rahmen des Scientific Priority Programs (SPP) elf Projekte ausgewählt wurden. Dabei seien interdisziplinäre, zwischenstaatliche und interkulturelle Wege beschritten worden.

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Johannes Karte
Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Johannes Karte (DFG) wies die Förderung exzellenter Forschungsvorhaben und junger Wissenschaftler in einem interdisziplinären und internationalen Kontext als strategische Ziele aus. Forschung zu Megacities könne nur unter Beteiligung verschiedener Disziplinen durchgeführt werden, und so waren denn auch nicht weniger als 16 verschiedene Disziplinen beteiligt. Hervorzuheben sei auch die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus Deutschland, China und Bangladesch auf institutioneller wie persönlicher Ebene. Diese Zusammenarbeit habe Türen geöffnet wie auch das gegenseitige Verstehen und Vertrauen gefördert, mithin die Qualität der Forschungsergebnisse maßgeblich verbessert.

Wie Prof. Dr. Frauke Kraas im einzelnen ausführte, wurde im Jahr 2002 ein Team damit beauftragt, im Kontext der weltweiten Forschung zu Megacities einen Rahmen für das Forschungsvorhaben zu konzipieren. Zwischen 2002 und 2004 wurden dazu unter anderem drei runde Tische durchgeführt, an denen jeweils mehr als 30 Wissenschaftler teilnahmen. Dabei kristallisierte sich zunehmend der Themenkomplex "Informality" heraus, den man für geeignet erachtete, verschiedene Forschungsansätze zusammenzuführen. 2005 wurde ein Antrag bei der DFG gestellt, der Zustimmung fand. Zwischen 2006 und 2013 wurden zunächst elf und später dreizehn interdisziplinäre und internationale Projekte durchgeführt. Wie umfassend das Vorhaben angelegt war, läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß 17 Partneruniversitäten in Deutschland sowie elf weitere in China und Bangladesch mit insgesamt mehr als 120 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beteiligt waren, die Feldforschung betrieben und deren Ergebnisse publizierten wie auch mit weiteren Netzwerken verbunden waren. In über 50 Workshops und Seminaren fanden kleinere und größere Konferenzen statt.

Harald Sterly, der mit Prof. Dr. Frauke Kraas und Dr. Tabea Bork-Hüffer im Leitungsausschuß des Schwerpunktprogramms zusammenarbeitet, kam auf die intensiven Debatten um die Verwendung und Präzisierung des Konzepts Informality zu sprechen. Im Zuge vielfältiger Diskussionen seien zahlreiche theoretische Ansätze eingebracht und politische Implikationen von Staatlichkeit, Regierung, Institutionen und Strukturen erörtert worden. Dabei verhehlte Sterly nicht, daß auf die anfängliche Begeisterung eine strapaziöse Phase notwendiger Problembewältigung bei der Anwendung des Konzepts auf konkrete Forschungsvorhaben gefolgt sei. Demgegenüber sei die Debatte um die Begrifflichkeit "Global Change" zunächst weniger ausgeprägt gewesen, zumal diese Thematik zahlreiche Dimensionen ökonomischer, politischer, sozialer, kultureller und ökologischer Art umfasse.

Aus der Vielzahl durchgeführter Projekte nannte der Referent als Beispiele Forschungsansätze zu städtischen Ökonomien, Bodenpreisen, urbanen Räumen und zur Ausbildung moderner Einzelhandelsstrukturen. Untersucht wurden auch die Folgen des weltweiten Klimawandels für das urbane Klima, die Überflutungsgefahr durch Hochwasser, Sturmfluten und Anstieg des Meeresspiegels, Temperaturveränderungen und deren Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Auch Projekte im Kontext soziokultureller Veränderungen, der Konkurrenz von Städten, des urbanen Umgangs mit Straßenhändlern, Infrastrukturprojekte und Megaevents fanden Berücksichtigung. Das Gesundheitswesen sei mit 20 Forschern ein zentrales Thema gewesen, Resilience wurde ebenfalls ein wichtiges Forschungsfeld, Migration und Translokation seien zuletzt hinzugekommen.

Prof. Dr. Frauke Kraas zufolge war der wissenschaftliche Ertrag bemerkenswert: 18 Kandidaten haben ihren PhD abgeschlossen, weitere 19 aus dem Programm und zehn andere arbeiten derzeit an ihrem Abschluß. Bislang sind mehr als 160 Publikationen aus der Projektarbeit hervorgegangen, hinzu kommen weitere in China und Bangladesch, die mit den Projekten in Zusammenhang stehen. Hervorzuheben sei die Zusammenarbeit von Natur- und Sozialwissenschaften, wobei eine Plattform für weiterführende interdisziplinäre und internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit geschaffen wurde. Im Pearl River Delta (PRD) und in Dhaka sei eine umfangreiche empirische Datenbasis generiert worden, wie man auch über die Projekte hinaus Grundlagen für eine weitere Forschung und Förderung gelegt habe. Es sei indessen nicht in allen Fällen im Sinne des Rahmenprojekts gelungen, sämtliche 16 Disziplinen unter einem Dach zusammenzuführen. Auch habe es geraume Zeit gedauert, bis die Wissenschaftler in China und Bangladesch dazu bereit waren, sich mit der jeweils anderen Region zu befassen und darüber Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Volker Kreibich
Foto: © 2013 by Schattenblick

Informality, Governance and Migration

Prof. Dr. Volker Kreibich befaßte sich im Rahmen der Session "Informality, Governance and Migration" mit dem Konzept des Informellen, dessen Unschärfe der Beliebigkeit Vorschub zu leisten drohe. Wenngleich Urban Informality inzwischen als ein recht gut etabliertes Paradigma erachtet werde, sei es doch umstritten und mitnichten eine allgemein anerkannte und konsolidierte Begrifflichkeit. Metaphorisch ins Bild gesetzt, erinnere das Konzept an den Januskopf und verweise auf die ungelösten Widersprüche in diesem Paradigma.

Schon die theoretischen Vorläufer bei der Bildung des Konzepts Informality lieferten kein geschlossenes Bild. So sprechen Skeptiker im negativen Sinn von einem informellen Survival, während in positiven Einschätzungen von sozialen Potentialen für neue Entwicklungen die Rede ist. Je nach Sichtweise werde das Informelle als Faktor ökonomischen Wachstums oder Ausdruck der Verzweiflung, als soziale Verwerfung oder Potential zur Bildung neuer Allianzen eingeschätzt. Für ihn stehe außer Frage, daß das Schwerpunktprogramm zur Klärung dieses Problems beigetragen habe. Er schlage indessen als derzeit gültige These vor, daß der Zusammenhang zwischen hochkomplexen informell organisierten Prozessen in Megacities und den Auswirkungen des Global Change auf soziale und institutionelle Beziehungen in Megastädten noch nicht systematisch analysiert worden sei.

Podium im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Volker Kreibich, Sonia Schoon, Harald Sterly, Tabea Bork-Hüffer
Foto: © 2013 by Schattenblick

Grundlegendes Ziel des Programms sei ein Verständnis der informellen Dynamiken in Megacities und deren Nexus mit globalen Veränderungen. Wie eine Auswahl aus den erbrachten Forschungsergebnissen zeige, könne man in vielerlei Hinsicht von einem Erkenntnisgewinn sprechen. Das Informelle stehe für einen generalisierten Modus organisierender Praxis alltäglicher Art und werde nicht nur von armen Leuten praktiziert, sondern auch von diversen anderen Akteuren. Es sei ein allgemeines strategisches Moment von Urbanität in den Ländern des Südens und dort in fast allen Sektoren präsent, so daß es das volle Spektrum urbanen Lebens in den großen Städten umfasse. Zugleich existierten jedoch ungleiche Einflußmöglichkeiten in Abhängigkeit von Geschlecht, Status, Hausbesitz, Parteimitgliedschaft und Zugang zum öffentlichen Raum. Diese Ungleichheit sei in mehreren Projekten untersucht worden, die sich beispielsweise mit der Wasserversorgung befaßten. So werde ein bestimmter Stadtteil in Dhaka von 50 verschiedenen Akteuren mit Wasser beliefert, wobei die Kosten der Transaktionen niedrig für Insider, jedoch hoch für Außenstehende seien.

Zusammenfassend könne man sagen, daß in den Forschungsprojekten diverse Aspekte von Informality vertieft worden seien, ohne daß man bislang von einer Synthese sprechen könne. Welche gesellschaftlichen Gruppen im einzelnen von einer Abwesenheit der Gouvernementalität profitierten, stelle sich widersprüchlich dar. Einerseits bildeten sich funktionsfähige Versorgungsstrukturen und geschäftliche Beziehungen heraus, andererseits herrsche in einer schwachen Zivilgesellschaft politischer Einfluß auf Erwerbsmöglichkeiten vor. Da der Staat auf lange Sicht akzeptieren müsse, daß er nicht in der Lage ist, das rasante Anwachsen der Städte zu regulieren, komme Regierungshandeln nicht umhin, auf das Informelle als die vorherrschende Art und Weise gesellschaftlicher Verläufe zu reagieren.

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Sonia Schoon
Foto: © 2013 by Schattenblick

Nachdem Prof. Dr. Volker Kreibich das Konzept Informality durchaus skeptisch erörtert hatte, ohne es als zielführend in Abrede zu stellen, gingen Dr. Sonia Schoon und Harald Sterly auf spezifische Unterschiede zwischen dem Pearl River Delta und Dhaka ein. Unter besonderer Berücksichtigung der politischen Kultur und der Stabilität der politischen Systeme könne man von starker Staatlichkeit in China und schwacher in Bangladesch sprechen. Wie ein Vergleich der jeweiligen Landnutzungspläne, städtischen Ausgaben und urbanen Restrukturierung zeige, krankten in Dhaka die Planungen der Ministerien an einer geringen Beteiligung von Experten und Zivilgesellschaft. Erst wachsender Druck von unten habe dazu geführt, daß Wissenschaftler in gewissem Umfang einbezogen wurden. Auf Weisung von oben würden frühere Projekte legalisiert oder für unrechtmäßig erklärt, wobei die jeweilige politische Vernetzung eine maßgebliche Rolle spielte. Selektive persönliche Interessen seien weit verbreitet, während das öffentliche Interesse und soziale Belange weithin vernachlässigt würden. Dies führe beispielsweise dazu, daß tiefliegende Flutzonen, die der Masterplan als Schutzgebiete ausweist, zur Bebauung freigegeben werden. Rajuk, so etwas wie eine Planungsbehörde, überwacht die gesamte Flächennutzung, setzt aber zugleich beschlossene Projekte um. Dieser Rollenkonflikt führt dazu, daß es sich nicht so sehr um von der Regierung ausgewiesene Planungen, als vielmehr um von Profitinteressen gesteuerte Vorhaben handelt.

Im Pearl River Delta zeige sich ein ganz anderes Bild, da dort eine geschlossene urbane Entwicklung befördert und nicht zuletzt die frühere Planung verbessert werde. Die Regierung strebe eine stärkere Regulierung an und beziehe nicht nur ein kontrolliertes Wirtschaftswachstum, sondern inzwischen auch ökologische Gesichtspunkte ein. Wenngleich die Entscheidungsträger hochrangige Beamte seien und man von einem relativ autoritären Regierungshandeln sprechen könne, herrsche doch die Bereitschaft vor, Expertise einzubeziehen und zu lernen. Wo es bei der Restrukturierung alter Industrien, Dörfer und Städte zu Streitfällen hinsichtlich der Besitzrechte komme, setze die Regierung auf Konsens und versuche, Konflikte zu vermeiden. Um möglichen Unruhen und Aufständen den Boden zu entziehen, strebe sie eine Art Balance zwischen Wachstum und Regulierung auf der einen und akzeptablen Lösungen für die Bevölkerung auf der anderen Seite an.

Zusammenfassend könne man sagen, daß China und Bangladesch mit Blick auf die Vorhersehbarkeit politischer Entscheidungen, die Verantwortung des Staates für öffentliche Belange und die Berücksichtigung einer sozialen Entwicklung sehr unterschiedlich seien. Während man in Bangladesch konfrontativ nach dem Prinzip "The Winner takes it all" verfahre, lasse sich China als lernfähig autoritär beschreiben.

Im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Tabea Bork-Hüffer
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wie Dr. Tabea Bork-Hüffer zum Thema Migration referierte, habe Asien in den zurückliegenden Jahrzehnten eine ausgeprägte Wanderbewegung in die Städte erfahren. Der Rahmen Migration fasse allerdings durchaus unterschiedliche Bewegungen zusammen, die sich etwa nach Hintergrund, Interessenlage, Dauer und Qualifizierungsniveau erheblich unterschieden. Sowohl das PRD als auch die Region Dhaka wiesen landesinnere Migration wie auch internationale Wanderbewegungen auf, wobei in China auch in dieser Hinsicht eine wesentlich stärkere Regulierung erfolge.

Die Referentin ging in diesem Zusammenhang auf theoretische Ansätze von Raum ein, der sich in der alltäglichen Praxis der Menschen und ihren Diskursen konstituiere. Es komme zu Interaktionen von Akteuren und Strukturen, die ständige Veränderungen herbeiführten. Soziale Akteure handelten im Raum, der einen Rahmen vorgebe, nähmen aber andererseits auch auf dessen Gestaltung Einfluß. Im Sinne politischer Räume treffe man auf Machtverhältnisse wie Inklusion und Exklusion. Städtische Räume physischer wie sozialpolitischer Art befänden sich in einer Art liquiden Phase mit offenem Ausgang dieser Prozesse.

Als Beispiel aus der Projektarbeit führte die Referentin die Immigration von Afrikanerinnen und Afrikanern in den 1990er Jahren in das PRD an, die dort die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung veränderte und spezifische Erwerbs- und Geschäftszweige etablierte. Mit Blick auf Bangladesch seien die Erfahrungen von Frauen zu nennen, die ins Ausland gingen, dort erheblich größere Freiheiten erführen und diesbezüglich einen Transfer in ihre Heimat in Gang setzten. Vor allem in der ersten Generation gebe es noch enge Verbindungen zum Herkunftsland wie Reisen und Transfers. Migrantinnen und Migranten, so das Fazit, seien wichtige Akteure in den Megastädten, und dieses Phänomen werde künftig noch an Bedeutung gewinnen, da schon heute in China 50 Prozent und in Bangladesch 28 Prozent der Bevölkerung in Städten leben.

Vortragsfolie - Foto: 2013 by Schattenblick

Raumgreifendes Wachstum
Foto: 2013 by Schattenblick

Zukunftsfragen nicht nur für Experten

Die beschleunigte Entwicklung, enorme Bevölkerungzahl und komplexen Interaktionen weisen die globalen Megacities als Katalysatoren ökonomischer, sozialer, politischer und ökologischer Veränderungsprozesse aus. So sehr sie Krisenzonen wachsender Armut, gesellschaftlicher Polarisierung und aufbrechender Konflikte sind, werden die ihnen im Rahmen des kapitalistischen Weltsystems inhärenten Entwicklungsmöglichkeiten als Chance für Innovation und Wachstum begriffen. Ob die zu einem Gutteil aus materieller Not und autonom verlaufender Verwertungsdynamik entspringenden Prozesse urbaner Agglomeration und Konzentration tatsächliche Zugänge zu besseren Lebensverhältnissen für nennenswerte Teile der Bevölkerungen des globalen Südens eröffnen können, ist zumindest fragwürdig.

Das ändert nichts an der großen Bedeutung dieser Entwicklung für gouvernementale und wirtschaftsadministrative Planungs- und Entscheidungsprozesse. So wurden in Deutschland in den zurückliegenden Jahren vier umfassende Forschungsprogramme zum Thema "Megacities" auf den Weg gebracht. Neben dem DFG-Programm "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" sind dies "Research for the Sustainable Development of the Megacities of Tommorrow" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die koordinierten Projekte "Risk Habitat Megacity" und "ClimateAdaptationSantiago" der Helmholtz-Gemeinschaft sowie Anstöße des Nationalen Komitees für Global Change Forschung, die Untersuchungen verschiedener Forschungsgruppen zusammenzuführen. Die Auseinandersetzung mit diesem Feld politischer und ökonomischer Gestaltung ist daher für jeden von Interesse, dem die gesellschaftliche und sozialökologische Zukunft der Menschheit am Herzen liegt.

Außenansicht des Gebäudes in Bonn-Bad Godesberg - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wissenschaftszentrum Bonn
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnote:

[1] http://www.geographie.uni-koeln.de/megacities-spp/index.htm

7. Mai 2013