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BERICHT/017: Megacities - Marktaufbruch der Sieger und Verlierer (SB)


Chinas prekärer Aufstieg - Wachstumsrekorde und Sozialkämpfe


Wanderarbeiter mit Fahrrad neben Auto - Foto: © von Carsten Ullrich, Shanghai

Lesender Wanderarbeiter in Shanghai 2007
Foto: © von Carsten Ullrich, Shanghai, China
[CC-BY-SA-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons

Der erste Besuch des neuen chinesischen Präsidenten Xi Jinping außerhalb Beijings galt der Sonderwirtschaftszone Shenzhen. Er bestätigte damit die besondere Rolle, die die produktiven Zentren der chinesischen Wirtschaft an der Ostküste des Landes für ganz China einnehmen. Mit der Einrichtung der Sonderwirtschaftszonen in den südchinesischen Küstenprovinzen Guangdong, Fujian und Hainan im Jahr 1980 begann der Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zu einer kapitalistischen, nur noch bedingt staatlich gelenkten Marktwirtschaft, mit der die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) dennoch das Fernziel einer sozialistischen Gesellschaft von allerdings chinesischer Prägung aufrechterhalten will. Diese seit über 30 Jahren vollzogene Transformation hat die Volksrepublik vom Niveau eines agrarisch geprägten Entwicklungslandes auf das eines der weltweit führenden Industriestaaten gehoben, allerdings zum Preis extremer sozialer Ungleichheit.

So ist der erfolgreiche Versuch, die Sonderwirtschaftszonen zum Ausgangspunkt einer rasant verlaufenden nachholenden Industrialisierung des Landes zu machen, von massiven sozialen Konflikten gezeichnet. Zwar reagiert die KPCh auf die große Zahl von Protesten, die sich gegen die frühkapitalistischen Ausbeutungsbedingungen richten, unter denen die Arbeiterinnen und Arbeiter in den gigantischen Fabrikkomplexen der Industrieareale zu leiden haben, gegen die Landenteignungen, mit denen Platz für neue Industrieansiedlungen zu Lasten der auf dem Gelände lebenden Menschen gemacht wird, gegen Umweltzerstörung und Korruption mit verschiedenen sozialen Zugeständnissen. Ohne die Einführung sozialer Sicherungssysteme, die Stärkung von Arbeitsrechten und die Gewährleistung von Lohnsteigerungen, die mit den anwachsenden Lebenshaltungskosten Schritt halten können, ließe sich der Widerstand gegen Armut und Ausbeutung nicht im Zaum halten. Zudem münzt die chinesische Führung den nationalökonomischen Erfolg in ein nationalistisches Identifikationsangebot um, das an die Modernisierungsdoktrin des Republikgründers Sun Yat-sen anknüpft und die Demütigungen, die China durch den europäischen Kolonialismus und den japanischen Imperialismus erfahren hat, zur Ausblendung sozialer Widersprüche instrumentalisiert.

Das Versprechen, am wirtschaftlichen Aufstieg Chinas teilzuhaben, bleibt für Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die aus den ländlichen Gebieten Zentral- und Westchinas an die Ostküste wandern, dennoch weitgehend unerfüllt. Solange das chinesische Wachstumsmodell hauptsächlich auf einer arbeitsintensiven Produktion basiert, die mit anderen Anbietern von Niedriglohnarbeit in Ost- und Südasien konkurriert, sind die Aufstiegschancen für die Masse der Bevölkerung bescheiden. Zwar verbessern sich ihre Konsummöglichkeiten, doch wird dies erkauft durch ein bisweilen drakonisches, mit einem Drill, der an militärische Disziplinarpraktiken erinnert, durchgesetztes Arbeitsregime. Zahlreiche Berichte über die demütigende und schikanöse Behandlung, die insbesondere Arbeiterinnen durch ihre Vorgesetzten zu erleiden haben, über die hohe Zahl arbeitsbedingter Verletzungen und Todesfälle, über die Kasernierung in lagerartigen Anlagen, die den Betroffenen so gut wie keine Privatsphäre lassen, über die systematische Trennung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die aus einem Dorf oder einer Region stammen, über das Verbot, bei der Arbeit miteinander zu sprechen oder über die regelmäßige Überschreitung des gesetzlichen Achtstundentages dokumentieren die dunkle Seite einer Erfolgsgeschichte, die hinter den makroökonomischen Indices und Unternehmensbilanzen, anhand derer sie geschildert wird, unsichtbar bleibt.

Die Wanderarbeiterinnen und -arbeiter haben zudem mit dem Problem zu kämpfen, daß der Versuch, sich in den neuen Wirtschaftzentren an der Ostküste dauerhaft niederzulassen, durch das wenn auch gelockerte, so doch immer noch aufrechterhaltene Haushaltsregistrierungssystem (hukou) behindert wird. Was seinen Ursprung in den unterschiedlichen Formen der Lebenssicherung von Land- und Stadtbevölkerung hatte - Bauern hatten im Rahmen des kollektivierten Landbesitzes Anspruch auf die Bewirtschaftung eines Teils des allgemeinen Bodens, Städtern wurden ein Arbeitsplatz sowie andere Versorgungsansprüche garantiert -, reduzierte sich mit der Einführung der Marktwirtschaft auf ein sozialtechnokratisches Regulativ. Mit dessen Hilfe können die Behörden die Zuwanderung in die Städte steuern, um die Ausbildung urbaner Slums zu verhindern, das Angebot an Arbeitskräften dem jeweiligen Bedarf anzupassen, die Identität der Migrantinnen und Migranten zu erfassen und politische Oppositionelle zu überwachen. Daß die Wanderungsbewegung vom Land in die Stadt nach der Niederschlagung der Arbeiter- und Studentenproteste 1989 in Beijing auf Anordnung der Regierung für mehrere Jahre praktisch zum Erliegen kam, belegt den sozial repressiven Charakter einer Maßnahme, die die Bevölkerungen der chinesischen Städte bis heute administrativ in zwei Klassen einteilt.

Bahnhof und Shangri-La-Hotel in Shenzhen - Foto: © by Rüdiger Meier

Shenzhen im Aufbau, China 2004
Foto: © by Rüdiger Meier (Own work)
[CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Megacities sind das Ergebnis von Agglomerationsprozessen, die, was am Beispiel Chinas besonders deutlich zum Ausdruck kommt, gezielt eingeleitet werden können. So wurden die Sonderwirtschaftszonen mit der Absicht an der chinesischen Ostküste eingerichtet, kurze Wege für die Exportwirtschaft zu gewährleisten und ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Shenzhen wurde vor allem deshalb zu einem Vorreiter der industriellen Modernisierung Chinas auserkoren, weil es in unmittelbarer Nähe der Finanz- und Wirtschaftsmetropole Hongkong liegt. So entwickelte sich die Stadt, die 1979 über 30.000 Einwohner beherbergte, in nur 20 Jahren zu einer Metropole mit einer 7 Millionen Menschen starken Bevölkerung. Heute verfügt Shenzhen über mehr als 10 Millionen Einwohner und bildet zusammen mit der Sonderverwaltungszone Hongkong eine Metropolregion von 19 Millionen Einwohnern. Die rund 9000 in der Stadt angesiedelten Unternehmen werden zum größten Teil mit Investitionen aus Hongkong betrieben, dessen besonderer Verwaltungsstatus sich für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft allemal ausgezahlt hat.

Dies gilt insgesamt für die Provinz Guangdong, in der mit Shenzhen, Zhuhai und Shantou drei der vier 1980 eingeführten Sonderwirtschaftszonen liegen. Guangdong bildet zusammen mit den Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao den Großraum des Perflußdeltas, eines Flußsystems, das vor allem mit der hochgradigen Belastung des Wassers durch Umweltgifte Schlagzeilen macht. Die in seinem Umfeld dicht gelagerten Städte bilden zusammen eine Megacity mit rund 120 Millionen Einwohnern. Zwischen den einzelnen Städten, die wie Guangzhou mit fast 13, Dongguan mit 8 und Foshan mit 7 Millionen Menschen allein größer sind als die meisten europäischen Metropolen, gibt es immer noch sowohl ländliche Gebiete als auch Dorfstrukturen, die zum Teil als Urban Villages in die Städte integriert sind. Die rasante Urbanisierung hat Guangdong, in das gut ein Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen Chinas fließen, zur bevölkerungsreichsten Region des Landes gemacht, obwohl sie, wenn man das größere Perlflußdelta, also die Provinz Guangdong plus Hongkong und Macau, zugrundelegt, lediglich zwei Prozent der Fläche der Volksrepublik umfaßt. Die Urbanisierung des Perlflußdeltas betrug 1978, dem Beginn der ökonomischen Reformpolitik, 16 Prozent und erreichte 2006 fast 80 Prozent. 2010 wurden dort 9 Prozent des Bruttoinlandprodukts Chinas erzeugt und fast 30 Prozent seiner Exportgüter produziert.

Allein diese Zahlen belegen, wie das wirtschaftliche Wachstum Konzentrations- und Segregationsprozesse begünstigt und multiskalare Entwicklungsunterschiede erzeugt - innerhalb Chinas zwischen West und Ost und zwischen Stadt und Land, zwischen den administrativen Regionen wie zwischen Han-Chinesen und den Angehörigen diverser ethnischer Minderheiten, innerhalb der Sonderwirtschaftszone zwischen einzelnen Kommunen und Stadtbezirken, zwischen armer und reicher Stadtbevölkerung, zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Binnenmigration und dem bereits in den Städten lebenden Proletariat. Diese sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten vollziehenden Entwicklungen sind zum Teil gewollt, wie im Fall der angewachsenen Eigenständigkeit der Stadt- und Provinzregierungen bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen, sie bedingen aus Sicht der Zentralregierung aber auch unerwünschte Zentrifugaltendenzen, die die territoriale Integrität der Volksrepublik als Ganzes in Frage stellen. So vollzieht sich in China mit zum Teil atemberaubender Dynamik, was den neoliberalen Wettbewerbsstaat überall auf der Welt auszeichnet - ökonomische und soziale Disparitäten werden produziert, um Menschen und Orte in einen verbrauchsintensiven Wettbewerb um abstrakte Verwertungspotentiale treten zu lassen, anstatt sich an objektiven materiellen Erfordernissen zu orientieren und deren Bewältigung orts- und sachbezogen, also menschenfreundlich und ressourcenschonend, zu organisieren.

So stehen dem überdurchschnittlichen Wachstum und Bruttoinlandsprodukt im Perlflußdelta und anderen Wirtschaftsmetropolen an der chinesischen Ostküste wie Schanghai, der mit 23 Millionen Einwohnern größten Wirtschaftsmetropole Chinas, vergleichsweise arme Regionen in Zentral- und Westchina gegenüber. Von den 17 Prozent der chinesischen Bevölkerung, die über ein Einkommen von weniger als einem US-Dollar pro Tag verfügt, und den 47 Prozent, die ihre Existenz mit weniger als zwei Dollar am Tag fristen, lebt das Gros in den von der stürmischen industriellen Entwicklung abgehängten ländlichen Regionen. Im aktuellen Fünfjahresplan zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes wird zwar gefordert, die geographische Bewegungsrichtung der Modernisierung und Industrialisierung des Landes nun von der Ostküste wieder westwärts in die immer stärker vom Wirtschaftsboom abgehängten Regionen umzukehren. Doch die dafür freigesetzten Mittel fließen ihrerseits in neue Megacities wie etwa Chongqing, das 2400 Kilometer den Jangtsekiang flußaufwärts von Shanghai entfernt im Landesinnern liegt, oder sich rasant entwickelnde Provinzhauptstädte wie Changchun, Yinchuan and Hefei, deren jährliches Wirtschaftswachstum von über 18 Prozent mehr als doppelt so hoch liegt wie der chinesische Durchschnitt und auch die Industrieregionen an der Ostküste übertrifft.

Panorama mit Hochhäusern und Flußlandschaft - Foto: © by Oliver Ren

Megacity im Landesinnern - Skyline von Chongqing 2010
Foto: © by Oliver Ren (Own work)
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Chinas schneller Aufstieg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt nach den USA ist Ergebnis der massenhaften Proletarisierung einer Landbevölkerung, die zwar immer noch Anspruch auf ein Stück Ackerland hat, das unter kapitalistischen Bedingungen allerdings weniger denn je die Basis eines halbwegs angemessenen Überlebens bilden kann. Zudem steht die Regierung vor dem Problem, daß die forcierte Mechanisierung der Landwirtschaft Millionen Bauern in die Arbeitslosigkeit entließe, denn auch die Kapazitäten der industriellen Wachstumsbranchen sind beschränkt und können nicht ohne weiteres mehr als die über 200 Millionen Migrantinnen und Migranten aufnehmen, die zusammen mit dem urbanen Proletariat die chinesische Arbeiterklasse bilden. So haben die Binnenmigrantinnen und -migranten den Prozeß der Industrialisierung und Urbanisierung Chinas maßgeblich vorangetrieben, und das im ganz praktischen Sinne, rekrutiert die Bauwirtschaft ihr Personal doch zu 90 Prozent aus diesem besonders schlecht entlohnten und entrechteten Teil der chinesischen Arbeiterklasse.

So machen sich in einer parteiideologisch immer noch sozialistisch verfaßten Gesellschaft Klassengegensätze von großer Explosivkraft breit. Während die einen armutsbedingt die Reise an die Ostküste oder in die neuen Wachstumsinseln im Inland antreten und dabei alles zurücklassen, was ihre familiäre und regionale Herkunft ausmacht, befinden sich die anderen bereits am Ort des Geschehens und können, etwa durch das Vermieten von Wohnungen und Schlafstätten an Migrantinnen und Migranten, auch noch am untergeordneten Rechtsstatus der Landbevölkerung verdienen. Wie groß das Ausmaß der Aufspaltung in eine Stadtbevölkerung, die über die Ausbildung einer neuen Mittelschicht aus gutverdienenden Angestellten und kleinen Unternehmern sowie der schnell wachsenden Gruppe extrem reicher Kapitaleigner die neue Bourgeoisie Chinas bildet, und einer Landbevölkerung ist, die erst am Beginn des Weges in die Proletarisierung steht und dabei hohe administrative Hürden zu überwinden hat, zeigt das Beispiel Shenzhen.

Lediglich ein Drittel seiner Einwohnerinnen und Einwohner ist dort als Wohnbevölkerung registriert, während zwei Drittel der Wanderarbeiterinnen und -arbeiter einen befristeten Status haben. Die Migrantinnen und Migranten verfügen meist über keine Sozialversicherung und leben oft unter kasernierten Bedingungen nahe bei der Fabrik, in der sie arbeiten. Außerhalb der Lager und Großunterkünfte eine eigene Wohnung zu beziehen, ist insbesondere für die sogenannte zweite, nach 1980 geborenen Generation der Wanderarbeiterinnen und -arbeiter ein vordringliches Ziel. Ihr geht es häufig nicht mehr nur darum, befristet in der Stadt zu bleiben, um mit dem dort verdienten Geld in ihr Dorf zurückzukehren und sich eine wirtschaftlich unabhängigere Existenz aufzubauen, sondern dauerhaft in der Stadt zu leben, um an der Verheißung teilzuhaben, ein selbstbestimmtes Leben auch im Sinne der beruflichen Karriere und des gehobenen Konsums zu führen.

Auf 900.000 Quadratmeter die größte Shopping Mall der Welt, Platz in der South China Mall in Dongguan - Foto: © By David290

1000 leere Läden für nichtvorhandene Käufer in der South China Mall in Dongguan
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Die dafür in Kauf zu nehmende Ausbeutung der eigenen Arbeit durch transnationale wie chinesische Unternehmen hat unter den Migrantinnen und Migranten aber auch die Bereitschaft erhöht, sich gegen die Zumutungen des Lohnarbeitregimes zu wehren. Über 100.000 Streiks und andere Aktionen des kollektiven Arbeiterwiderstands werden jedes Jahr in China gezählt, und in vielen Fällen haben die Belegschaften Erfolg mit ihren Forderungen, wie etwa bei der großen Streikwelle in der Autoindustrie 2010. Die staatlichen Behörden halten sich mit repressiven Maßnahmen tendentiell zurück, ist die KPCh doch nach wie vor rechenschaftspflichtig gegenüber einer Bevölkerung, die deutlich vor Augen hat, wie gering der Ertrag ihrer unter härtesten Bedingungen verrichteten Arbeit im Vergleich zu den Kapitaleinkommen der neuen Reichen ist. Dem sich dabei aufbauenden Ungerechtigkeitsempfinden ist die chinesische Regierung mit einer Erhöhung der regionalen Mindestlöhne zwischen 2006 und 2011 um durchschnittlich 12,5 Prozent im Jahr entgegengetreten. Das hat ihr jüngst die Forderung des Internationalen Währungsfonds eingebracht, die Kostensteigerung des Faktors Arbeit zu reduzieren, um als Ziel der globalen Investitionsströme weiterhin attraktiv zu bleiben.

Dabei kann die Regierungspartei KPCh keineswegs als monolithischer Block betrachtet werden. So gibt es immer noch starke Kräfte in ihren Reihen, die sich gegen die weitere Senkung der Staatsquote durch die Privatisierung staatlich kontrollierter Wirtschaftsunternehmen wehren. Präsident Xi Jinping und Ministerpräsident Li Keqiang wollen die Rolle des Staates in der Wirtschaft verringern und die Produktivität nicht zuletzt zu Lasten der lohnarbeitenden Klasse steigern. Dies reflektiert das Interesse des transnationalen Kapitals an einer stetigen Verbesserung seiner Verwertungsbedingungen in China, also an einer Liberalisierung des Arbeitsmarkts, die die Ausbeutung billiger Lohnarbeit begünstigt. Was dies in der Konsequenz für die davon betroffene Arbeiterklasse bedeutet, belegt das Beispiel der Textilindustrie Bangladeschs. Sie hat die chinesische Konkurrenz zwar erfolgreich unterboten und ihr viele Aufträge abgejagt. Für die Menschen, die damit ihr Leben sichern, hat sich dadurch jedoch nichts verbessert. Sie sind einem Wettkampf um die billigsten Löhne ausgeliefert, der die Reproduktion ihrer Arbeitskraft immer mehr untergräbt, was letztlich bedeutet, ein Leben unter noch ungesunderen Bedingungen mit entsprechend frühem Tod zu führen.

Die chinesische Führung hat das Problem, die von ihr entfesselten Kräfte des Kapitals immer wieder einholen zu müssen, ohne sie dabei so zu dämpfen, daß sie nicht mehr in der Lage ist, die antagonistische Bewegung gegen die Ausbeutung billiger Lohnarbeit mit Hilfe finanzieller und sozialpolitischer Zugeständnisse unter Kontrolle zu halten. Der bislang erfolgreich verlaufene Versuch, nicht den Weg der Sowjetunion zu gehen, die sich der Systemkonkurrenz mit dem Ergebnis staatlichen Zerfalls geschlagen geben mußte, basiert unter anderem darauf, daß China sich nicht einer von außen diktierten Liberalisierung der Wirtschaft geöffnet, sondern einen Mittelweg zwischen staatlicher Regulation und kapitalistischer Akkumulation beschritten hat. Indem die chinesische Wirtschaft sich in globale Defizitkreisläufe insbesondere des als "Chimerica" bekannten Verhältnisses zu den USA integriert hat, wo der Mehrwert chinesischer Billiglohnarbeit im Warenverkauf realisiert wird, nur um in Form von US-Staatsanleihen nach China zurückzufließen, was dort wieder neue Anlage- und Stabilitätsprobleme erzeugt, hat sich das Land in erhebliche Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung anderer Teile der Welt begeben.

600 Meter hoher Fernseh- und Aussichtsturm

Symbol himmelsstürmenden Wachstums - Guangzhou Tower
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So wurden die negativen Folgen der Krise, in der sich das kapitalistische Weltsystem seit 2007/2008 befindet, auf die chinesische Exportwirtschaft durch großdimensionierte Konjunkturprogramme kompensiert, die ihrerseits eine spekulative Blase im Immobiliensektor und Überproduktionen in staatlich subventionierten Sektoren der Industrie erzeugt haben. Dies wirkt sich nicht nur negativ auf die Wachstumsentwicklung aus, die laut der chinesischen Regierung mindestens 8 Prozent betragen muß, um keinen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu erzeugen, sondern hat auch zu einer starken Zunahme der Kreditvergabe an kommunale und andere administrative Akteure geführt. Viele Gemeinden und Bezirke Chinas gelten als stark überschuldet, was einige Analysten zur Warnung veranlaßt, hier könnte sich eine Schuldenblase entwickeln, deren Implosion den Verfall des US-amerikanischen Immobiliensektors zu Beginn der Krise in den Schatten stellte.

So beruhen die Herausforderungen der chinesischen Megacities letztlich auf den Problemen, die jede massenhafte Proletarisierung und großdimensionierte Industrialisierung mit sich bringt. Soziales Elend, ökologische Zerstörung, sozialräumliche Fragmentierung und die repressive Unterdrückung der aus diesen widrigen Bedingungen resultierenden Gegenbewegungen sind kein Spezifikum chinesischer Megastädte. Was diese unterscheidet von anderen urbanen Agglomerationen in den Ländern des Südens ist vor allem der unterschiedliche Organisationsgrad des politischen Systems, in das sie eingebettet sind. So autoritär und undemokratisch die Herrschaft der KPCh ist, so sehr garantiert sie damit relative soziale und ökonomische Sicherheit. Daß dieser Entwicklungsweg dennoch von massiven sozialen Widersprüchen gezeichnet ist, könnte bedeuten, daß Chinas Position im kapitalistischen Weltsystem als dessen Werkbank und Fabrik industrieller Wertschöpfung, deren Auslagerung die sich auf finanzkapitalistische Akkumulation und Dienstleistungsgewerbe stützenden postindustriellen Gesellschaften immer teurer zu stehen kommt, zum Ausgangspunkt einer neuen Arbeiterbewegung wird, die sich mit Ausbeutung, Erniedrigung und Unterdrückung nicht mehr abfinden will.

Fluß mit Hochhaus-Skyline - Foto: © by User:Vmenkov (Own work)

Am Perlfluß mit Blick auf den Hafen von Jiuzhou
Foto: © by User:Vmenkov (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC-BY-SA-2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0)], via Wikimedia Commons

"Migrants' Agency and Urban Spaces" - Vorträge am 16. April 2013

Den sozialen Problemen im Perflußdelta wurden auf der Bonner Konferenz "Megacities - Megachallenge: Informal Dynamics of Global Change" unter anderem dadurch Rechnung getragen, daß die Handlungsfähigkeit der Arbeitsmigrantinnen und -migranten im urbanen Raum untersucht wurde. Die auf eng umrissene Fragestellungen bezogenen Ergebnisse der sozalwissenschaftlichen Feldforschung schärfen den Blick für spezifische Aspekte des Lebens und Arbeitens der Migrantinnen und Migranten in den vor allem wirtschaftlich, aber auch lebensräumlich und kulturell bestimmten Stadtlandschaften. Die Vielzahl sozialwissenschaftlicher und humangeographischer Problemstellungen, die die historisch bedeutsame Wanderungsbewegung in China mit sich bringt, haben ein breites Forschungsfeld eröffnet, dessen hochgradige wissenschaftliche Differenziertheit in diesem publizistischen Rahmen allerdings nicht abgebildet werden kann.

Folie zum Vortrag von Kimiko Suda - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein Zuhause in der Megacity finden ...
Foto: © 2013 by Schattenblick

So untersuchte die Berliner Sozialwissenschaftlerin Kimiko Suda, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ostasiatischen Seminar der Freien Universität, wie Arbeitsmigrantinnen und -migranten versuchen, sich eine Existenz als Studentinnen und Studenten an der Universität Guangzhou aufzubauen, während sie gleichzeitig weiterhin in der Fabrik oder auf der Baustelle Lohnarbeit verrichten. Dabei geht ihr Wunsch, auch über das Beziehen einer entsprechenden Wohnung in die neue Mittelklasse aufzusteigen, selten so auf, wie sie es sich erträumen. Gegenüber bereits in der Stadt lebenden Menschen, die mit einem entsprechenden Familienhintergrund leichter zu Eigentümern einer Wohnung werden und damit einen festen Platz in der chinesischen Mittelschicht erobern, sind die Migrantinnen und Migranten deutlich benachteiligt. Zwar bietet das Leben auf dem Campus der Universitäten die Grundlage dafür, sich im städtischen Umfeld zu orientieren und einzufinden, gleichzeitig jedoch sind die migrantischen Studentinnen und Studenten aus ökonomischen Gründen davon bedroht, ihren Studienplatz wieder zu verlieren. Anhand eines Falles schilderte Kimiko Suda das Problem, daß ihr sozial unterprivilegierter Status auch ihren sozialen Möglichkeiten enge Grenzen setzt, stehen sie doch bei dem Wunsch, sich zu verheiraten, vor schwer zu überwindenden Klassenschranken.

Laut der Referentin bieten die vielen Hochschulen in Guangzhou die Möglichkeit, über die Arbeit im kulturellen Bereich Anschluß an transnationale Artspaces zu finden. Auf diese Weise können Graduierte Kontakt zu Netzwerken der transnationalen Unternehmen und Kunststiftungen aus Europa, USA und Japan erhalten. Über die Beschäftigung mit Fragen der Ästhetik, der Kunst und des Stils fördern sie ihrerseits den kosmopolitischen Charakter und die kulturelle Identität Guangzhous im internationalen Feld. Dabei mobilisieren sie auch das soziale und kulturelle Kapital, das aus ihrem Leben im Urban Village, dem hauptsächlichen Wohnort der Migrantinnen und Migranten, hervorgeht, was wiederum den Anschluß dieser Orte an das urbane Milieu verbessert. Insgesamt präge die an Hochschulen eingeschriebene Generation junger Chinesinnen und Chinesen einen neuen Lebensstil, der sogar Einzug in TV-Serien gefunden habe.

Für den Versuch, sich dauerhaft in der Stadt niederzulassen, sei die Arbeit in kulturellen Zusammenhängen sehr förderlich, wenn sie nur mehr Anerkennung hinsichtlich ihres Nutzens für Guangzhou fände. Auf jeden Fall könnten Arbeitsmigrantinnen und -migranten über ein Studium einen urbanen Habitus und eine urbane Identität entwickeln, so daß es ihnen am Ende leichter fiele, ihren Traum zu erfüllen und sich in der Stadt dauerhaft einzurichten.

Vortragsfolie von Bettina Gransow und Zhu Jiangang - Foto: © 2013 by Schattenblick

NGO-Aktivistinnen beim Krankenbesuch
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Die Berliner Sinologin Prof. Dr. Bettina Gransow, die am Ostasiatischen Seminar der Freien Universität lehrt, forschte zusammen mit dem chinesischen Anthropologen Zhu Jiangang, Direktor am Institut für Zivilgesellschaft und Lehrbeauftragter an der Schule für Soziologie und Anthropologie an der Sun Yat-sen Universität in Guangzhou, zu den Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen, die sich im Perlflußdelta für die gesundheitlichen und rechtlichen Belange von Arbeitsmigrantinnen und -migranten einsetzen. Diese NGOs sind vor allem mit den Verletzungen befaßt, die die zahlreichen Arbeitsunfälle in den Fabriken und auf den Baustellen zur Folge haben. Die davon Betroffenen haben häufig das Problem, mit ihren Arbeitgebern über Behandlungskosten und Schadensersatz streiten zu müssen. Dabei können sie die Hilfe von NGOs in Anspruch nehmen, die zumeist von den Arbeitsmigrantinnen und -migranten selbst organisiert sind, während einige von Arbeitsrechtlern aus Hongkong oder ehemaligen Gewerkschaftern betrieben werden.

Die NGOs stehen vor dem Problem, sich beim Ministerium für Zivile Angelegenheiten registrieren lassen zu müssen, dort jedoch auf bürokratische Hindernisse zu stoßen, die so groß sind, daß sie sich statt dessen als Unternehmen eintragen lassen. Dies schließt jedoch die Anerkennung des Non-Profit-Status aus, so daß die NGOs bei ihrer finanziellen Bemittelung meist auf internationale Stiftungen zurückgreifen. In ihrer aktiven Arbeit leisten sie Rechtsberatung, besuchen Unfallopfer im Krankenhaus, halten in Fabriken Lehrveranstaltungen zum Arbeitsschutz ab oder organisieren kulturelle Aktivitäten für Arbeitsmigrantinnen und -migranten.

Dabei sind NGOs durchaus mit Repression durch die Behörden konfrontiert, indem diese etwa versuchen, ihre Vermieter dazu zu bringen, die Mietverträge nicht zu verlängern. Um dies zu verhindern, entwickeln ihre Aktivistinnen und Aktivisten spezifische Überlebensstrategien, die etwa den Verzicht auf das Beziehen mißliebiger politischer Positionen oder das Beibehalten einer geringen Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit umfassen können. Auch ihr Einsatz im Rahmen von Programmen zur Corporate Social Responsibilty (CSR) dürfte zu diesen Strategien gehören, verschaffen sie damit doch Unternehmen ein arbeiterfreundliches Ansehen. Dennoch seien die migrantischen NGOs daran beteiligt, transformative urbane Räume zu schaffen, die in ihrer transitiven Dynamik wiederum die übergeordneten Veränderungsprozesse im megaurbanen Raum des Perlflußdeltas beeinflussen. Obwohl die migrantischen NGOs soziale Verantwortung übernähmen, könnten sie kein Ersatz für Gewerkschaften sein, nur weil diese im Sinne ihres urtümlichen Anspruches nicht funktionierten, gab die Referentin abschließend zu bedenken. Zwar wollten einige wenige NGOs eher Gewerkschaftenaufgaben erfüllen, doch kümmerten sie sich in der Regel vor allem um individuelle Fälle, um den Betroffenen mit Rechtsberatung und medizinischer Hilfe zur Seite zu stehen.

In der späteren Diskussion verwies Gransow darauf, daß es bei der NGO-Forschung zwar meist um Konflikte dieser Organisationen mit dem Staat ginge, die Thematik der Arbeitsmigration aber ungenügend aufgearbeitet werde, wenn man sie nur im staatlichen Kontext untersuche. So sei es wichtig, die Bedeutung der Privatunternehmen für die urbane Existenz der Migrantinnen und Migranten nicht zu vernachlässigen.

Vortragsfolie von Werner Breitung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wanderarbeiterinnen und -arbeiter im Fokus
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Geograph und Stadtforscher Dr. Werner Breitung referierte zu sozialen Netzwerken in Guangzhou. In seiner Untersuchung ging es ihm darum, anhand von Befragungen die Nachbarschaftsverhältnisse in der größten Metropole des Perlflußdeltas zu verstehen. In diesem Zusammenhang ging er auch auf die Einteilung der Wanderarbeiterinnen und -arbeiter in eine erste und eine zweite Generation ein. Wiewohl es sich seiner Ansicht nach um eine unscharfe Trennung handelt, trage diese Kategorisierung der Tatsache Rechnung, daß die vor den 1980er Jahren geborene Generation anders sozialisiert sei als die zweite, heute das Gros der migrantischen Arbeiterschaft stellende Generation. So habe sich die erste Generation stark auf die sozialen Netzwerke in ihren Heimatdörfern verlassen, während der traditionell in China sehr starke Familienbezug bei der zweiten Generation nicht mehr so wichtig sei. Sie sei eher in neue Netzwerke von Freunden und Kontakten integriert und wäre zudem in der Regel besser ausgebildet.

Um sich dauerhaft in der Stadt einzurichten, sei die Frage der erfolgreichen Integration in soziale Netzwerke von zentraler Bedeutung. Zwar hätten sich die institutionellen Barrieren, die insbesondere das Haushaltsregistrierungssystem (hukou) betreffen, nicht grundlegend verändert, wohl aber der Umgang der jüngeren Generation mit ihnen. Insgesamt handle es sich dabei um eine sehr diverse Gruppe, bei der die Frage der erfolgreichen Integration in die Stadt Guangzhou vor allem von der jeweiligen Zusammensetzung ihrer sozialen Netzwerke, ihrer Verteilung im Raum und vom Ausgangspunkt ihrer Migration abhängig sei. Breitung verwahrte sich insbesondere dagegen, die Migrantinnen und Migranten als "Wanderbevölkerung" oder "floating population" zu bezeichnen. Dies werde der Vielfalt ihrer Zusammensetzung und ihrer Interaktion mit urbanen Räumen nicht gerecht.

Folie zum Vortrag von Tabea Bork-Hüffer - Foto: © 2013 by Schattenblick

Komplexität sozialer Netzwerke anschaulich gemacht
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Geographin und Sozialwissenschaftlerin Dr. Tabea Bork-Hüffer warf in ihrem Forschungsprojekt die Frage auf, wie Machtbeziehungen im städtischen Gesundheitswesen die Möglichkeiten der Migrantinnen und Migranten beeinflussen, sich in den Städten gesundheitlich versorgen zu lassen. Dazu führte sie Befragungen unter den fünf Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die in Guangzhou leben und dort vor allem in den Urban Villages Unterkunft gefunden haben, durch. Im Ergebnis präsentierte die Referentin eine komplexe Struktur von Faktoren und Bedingungen, die die Gesundheitsversorgung der jeweiligen Personen bestimmen. Auf jeden Fall scheinen Erkrankungen aufgrund der sozialen Netzwerke, in die die Arbeitsmigrantinnen und -migranten eingebunden sind, niemals nur ihr individuelles Problem zu sein. So könnten kleinen Unternehmen erhebliche Nachteile aus Krankheitsfällen unter ihrer Belegschaft entstehen.

Zahlreiche Faktoren wie der individuelle Umgang mit Krankheiten, der etwa die familiäre Prägung oder das Wissen um traditionelle Methoden der chinesischen Medizin betreffen kann, die jeweilige finanzielle Situation oder das Fehlen einer Krankenversicherung würden in existierenden Ansätzen, die medizinische Versorgung dieses Teils der Bevölkerung zu sichern, nicht berücksichtigt. Dies gelte nicht nur für die individuelle Situation, sondern auch für die Machtverhältnisse, die die Verfügbarkeit medizinischer Mittel und Leistungen für Migrantinnen und Migranten massiv beeinflußten. Private Anbieter wären zwar weniger reguliert, doch herrsche in diesem Bereich aufgrund des Mangels an institutioneller Kontrolle mehr Korruption vor. Letztendlich seien die Arbeitsmigrantinnen und -migranten im medizinischen Ernstfall auf ihre individuellen Möglichkeiten zurückgeworfen,

In der anschließenden Diskussion berichtete Bork-Hüffer von dem Problem neuer informeller Gesundheitsanbieter, die Qualität der Versorgung nicht sichern zu können. So stammten viele informelle Ärzte selbst aus dem migrantischen Umfeld und böten westliche Medizin an, ohne eine qualifizierte Ausbildung dafür zu haben. In den Urban Villages bestehe zwar eine Form medizinischer Selbstorganisation, die jedoch nicht für die Migrantinnen und Migranten zuständig sei, so daß sich dort Parallelsysteme entwickelten. So sei eine erhebliche Differenz zwischen der Planung und der Umsetzung des staatlich organisierten Gesundheitswesens festzustellen.

Städische Landwirtschaft in Dongguan - Foto: © by Stephen Woolverton (Own work)

Bauern am Fluß Fenggang in Dongguan 2013
Foto: © by Stephen Woolverton (Own work)
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Chinas Zukunft liegt in den Händen seiner Arbeiterinnen und Arbeiter

Ganz offensichtlich bringt die Arbeitsmigration ins Perlflußdelta, das allein 25 Prozent der in China migrierenden Arbeiterinnen und Arbeitern aufnimmt, erhebliche soziale Probleme mit sich, die staatlicherseits nur ungenügend adressiert und behandelt werden. Auch aus diesem Grund haben die Aktivitäten von NGOs auf diesem Feld stark zugenommen, wie es allgemein zu einer jährlichen Zunahme zivilgesellschaftlicher Organisationen - NGOs, Stiftungen, andere Non-Profit-Organisationen - um 12 Prozent seit 2000 gekommen sein soll. Die offiziellen Zahlen sollen diese Entwicklung nur unzureichend abbilden, da die behördliche Registrierung als zivilgesellschaftliche Körperschaft nicht unproblematisch ist, was viele Gruppen und Organisationen dazu veranlaßt, auf informelle Weise in einer Grauzone zu operieren.

Zum einen ist die chinesische Regierung durchaus darauf angewiesen, die von ihr zu verantwortenden Defizite in der sozialen Versorgung durch die Arbeit zivilgesellschaftlicher Akteure zu kompensieren. Zum anderen gilt deren Anwesenheit als potentielles Einfallstor für Oppositionsbewegungen, die von Regierungen anderer Staaten instrumentalisiert werden können. So haben international aktive NGOs und Stiftungen, die zum Teil in enger Verbindung zu Regierungen der NATO-Staaten und transnationalen Konzernen stehen, maßgeblich zu sogenannten bunten Revolutionen in osteuropäischen Ländern beigetragen. Auch hier zeigt sich das grundlegende Problem der KPCh, die Divergenz zwischen kapitalistischem Wachstum und sozialen Notständen nur unzureichend im Griff zu haben, nicht jedoch auf eine imperative Machtstellung verzichten zu wollen, die ihr auch die Verantwortung für diese Diskrepanz und die daraus resultierenden Sozialkämpfe aufbürdet.

Ein Konzept wie das des "Sozialen Managements", das der ehemalige Präsident Hu Jintao im Februar 2011 an der Parteihochschule der KPCh vorstellte, birgt nur mehr die schwache Erinnerung an das sozialistische Fernziel der klassenlosen Gesellschaft. Statt dessen wird nach Maßgabe der vier Prinzipien "Führungsrolle der Partei, Verantwortlichkeit der Regierung, soziale Koordination und öffentliche Partizipation" versucht, soziale Widersprüche in Anlehnung an das Konzept der Corporate Governance durch sozialtechnokratische Führung und Organisation zu befrieden. Als Voraussetzung für eine weitere wirtschaftliche Öffnung Chinas, die sich unter anderem in der geplanten freien Konvertibilität des Yuan, der Öffnung staatsmonopolistischer Unternehmen im Bereich Finanzen, Energie und Telekommunikation für Privatinvestitionen, der Einrichtung einer Freihandelszone in Shanghai und verstärkter Kapitalexporte insbesondere in die USA ankündigt, wird das bloße Management tiefgreifender Widerspruchslagen sicherlich nicht ausreichen.

Zum einen ist die chinesische Führung unter Präsident Xi Jinping und Ministerpräsident Li Keqiang getrieben von einer expansiven Kreditvergabe insbesondere auf kommunaler Ebene, die mit einem Konjunkturprogramm, das den Rückgang der Exporte nach der Krise 2008 kompensieren sollte, begann, aber ein erhebliches Schuldenrisiko birgt. Zum anderen ist sie dem sozialen Wohlergehen einer Bevölkerung verpflichtet, die im Falle der lohnarbeitenden Klasse schon jetzt erhebliche Lasten an physischer wie psychischer Verausgabung zu tragen hat. Der Versuch, eine kapitalgetriebene Steigerung der Produktivität durch weitere Schritte der Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung anzuschieben, geht zu Lasten dieser Klasse und wird von ihr nicht unbeantwortet bleiben.

Wenn man die Fähigkeit chinesischer Arbeiterinnen und Arbeiter zur Selbstorganisation und zu kollektivem Handeln bedenkt, ohne die angesichts des Organisationsverbotes für unabhängige Gewerkschaften in China kaum eine Zahl von Arbeitskämpfen über 100.000 im Jahr, gezählt ab 300 Personen, zu erklären wäre, dann machen die Vorstandsvorsitzenden, Regierungschefs und Banker westlicher Staaten die Rechnung ohne den Wirt, wenn sie auf eine immer größere Staatsferne und Liberalisierung des chinesische Entwicklungsweges drängen. Nicht auszuschließen ist eine Strategie der inneren Delegitimation der KPCh, doch wer könnte in der Lage sein, eine zum großen Teil noch arme Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen unter den Bedingungen der neoliberalen Marktwirtschaft zu befrieden, wenn dies dem bei aller Aufwertung der Provinzen und Städte nach wie vor zentralistischen Regierungssystem Chinas nur unter großen Anstrengungen gelingt? Der Blick auf die Nöte und Probleme der lohnarbeitenden Klasse des Landes ist keinem entlegenen wissenschaftlichen Interesse geschuldet, er ist essentiell für die Beurteilung der Zukunft einer gesellschaftlichen Entwicklung, deren aufrechterhaltener Anspruch auf soziale Gleichheit vielleicht noch für Überraschungen gut sein wird.


Fußnoten:

Zur internationalen Politik gegenüber China siehe auch

HEGEMONIE/1762: Blinder Fleck China - Menschenrechtsdiskurs und Klassenkampf (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1762.html


Bisherige Beiträge zum Kolloquium "Megacities - Megachallenge" im Schattenblick unter INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0015.html

BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0016.html

INTERVIEW/015: Megacities - Über den Tellerrand - Prof. Dr. Frauke Kraas im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0015.html

INTERVIEW/016: Megacities - Forschungsselbstzweck Überleben - Dr. Johannes Karte im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0016.html

INTERVIEW/019: Megacities - Freiheit, Gleichheit, Forschung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0019.html

INTERVIEW/020: Megacities - Konstruktdynamische Prozesse (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri20.html

INTERVIEW/022: Megacities - Fehlverteilung urban - Benjamin Etzold im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri22.html

INTERVIEW/023: Megacities - Elendsverteilungsvariante Dhaka (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri23.html

INTERVIEW/024: Megacities - Projekt interdisziplinär gelungen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri24.html


8. Juni 2013