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BERICHT/023: Lampedusa in Hamburg - Säumnisse und Chancen (SB)


Anwältinnen und Anwälte fordern Bleiberecht für die Gruppe "Lampedusa in Hamburg"

Pressekonferenz am 15. November 2013 in Hamburg



"Italien ist ein schönes Land" - diese zynische Aussage des Ersten Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz bei Ankunft der Flüchtlinge aus Lampedusa gilt bekanntlich nicht für Schutzsuchende, die dort leben müssen. Gäbe es nicht gravierende Probleme, hätte sich die EU-Kommission nicht veranlaßt gesehen, im Oktober 2012 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien wegen der Aufnahme und Lebensbedingungen der Flüchtlinge einzuleiten. Auch müßte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht unter demselben Vorzeichen mit Italien befassen.

Auf einer Pressekonferenz, die am 15. November im Nachtasyl des Thalia Theaters Hamburg stattfand, stellten Anwältinnen und Anwälte aus der Hansestadt eine von 111 Berufskolleginnen und -kollegen unterzeichnete Erklärung zur Situation der Flüchtlingsgruppe "Lampedusa in Hamburg" vor. Darin fordern sie den Senat auf, die Initiative für ein Bleiberecht dieser Gruppe zu ergreifen und ein ebenso transparentes wie rechtssicheres Verfahren zu schaffen. Bei den Lampedusa-Flüchtlingen werde das Versagen des europäischen Asylkonzepts deutlich, das keinen angemessenen und menschenwürdigen Flüchtlingsschutz garantiere. Der Vorschlag des Senats, eine Aufenthaltserlaubnis in individuellen Verfahren zu beantragen und sich damit den Dublin-Regelungen zu unterwerfen, sei keine Lösung, wenn - wie vom Senat mehrfach signalisiert - diese Anträge von der Ausländerbehörde ohnehin abgelehnt werden.

Die drei Referenten auf dem Podium - Foto: © 2013 by Schattenblick

Björn Stehn, Ünal Zeran, Insa Graefe
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Gruppe "Lampedusa in Hamburg" hat die Flüchtlingsproblematik in der Stadt, in Deutschland und in Europa auf die Agenda gesetzt und damit eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit ausgelöst. Bei den Juristinnen und Juristen, die ihre Initiative auf der Pressekonferenz vorstellten, handelte es sich nicht um Bevollmächtigte dieser Gruppe, weshalb es bei der Veranstaltung auch nicht um Detailfragen zum weiteren Ablauf ging. Vielmehr wurde eine grundsätzliche Bewertung und Herangehensweise aus juristischer Sicht dargelegt.

Die Anwältinnen und Anwälte sehen sich veranlaßt, in die Diskussion einzugreifen, weil die Notlage der Lampedusa-Flüchtlinge ihre wesentliche Ursache im europäischen Asylsystem hat. Europa schottet sich ab und verwehrt den Flüchtlingen, die dennoch Zugang erlangen, eine menschenwürdige Behandlung. Auf Grundlage europäischer Verordnungen werden sämtliche Flüchtlinge registriert und in einer zentralen Datei erfaßt. Nach den Dublin-Regeln ist zumeist das Land der ersten Einreise für diese Menschen zuständig. Die dementsprechende Übernahmeverpflichtung Italiens ist daher auch für die Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg entscheidend und gilt unabhängig davon, ob ein Asylantrag gestellt worden ist oder nicht.

Dies hat Vorrang vor allen anderslautenden Versprechen des Hamburger Senats. Nicht Hamburg entscheidet, vielmehr führt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Übernahmeverfahren durch. Stimmt Italien zu, folgt ein Abschiebebescheid des Bundesamts. Nach der Abschiebung besteht oftmals kein Zugang zu einem menschenwürdigen Asylverfahren, da zum einen die Aufnahme- und Lebensbedingungen unzulänglich sind, zum anderen die rechtlichen Voraussetzungen für ein Asylverfahren nicht ausreichen. Im Unterschied zu Griechenland gilt Italien aus Sicht der Bundesregierung jedoch immer noch als sicherer Drittstaat und dies ungeachtet zahlreicher Gerichtsentscheide, die die Abschiebung in diverse Länder wie insbesondere Italien gestoppt haben. Deshalb kommt es darauf an, eine politische Lösung für die Lampedusa-Flüchtlinge zu finden, die wiederum ein erster Schritt sein könnte, das Dublin-System zu Fall zu bringen.

Nach Auffassung der Initiative besteht eine juristische Verpflichtung, sich um die Flüchtlinge zu kümmern, zumal die meisten von ihnen vor dem Krieg in Libyen fliehen mußten und gar keine andere Wahl hatten, als in Italien anzulanden. Selbst die italienische Regierung räumt unumwunden ein, daß sie den von den Flüchtlingen benötigten Schutz nicht bietet. Es handelt sich also nicht um eine Frage bloßen Wohlwollens, sondern eine Verpflichtung aller Europäer, daß diese Menschen gewisse Rechte in Anspruch nehmen können. Die Flüchtlinge erhalten in Italien zwar eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis, haben aber gerade danach keinen Zugang zu Unterbringung mehr und leben deshalb größtenteils auf der Straße. Sie haben mangels festen Wohnsitzes keine Krankenversorgung, leiden Hunger und prostituieren sich oftmals, um zu überleben. Italien kommt der Verpflichtung zu Schutz und Hilfe nicht nach, weshalb auch Deutschland in der Pflicht steht.

Ein kleinerer Teil der Lampedusa-Flüchtlinge hat in Italien Flüchtlingsstatus bekommen, der größere Teil wie gesagt lediglich ein humanitäres Aufenthaltsrecht. Beides gewährt nur das Recht, in Italien zu leben, nicht jedoch zur Freizügigkeit innerhalb Europas. Es muß daher in Deutschland ein eigenes Aufenthaltsrecht gewährt werden. Nach Paragraph 34a Asylverfahrensgesetz, der bereits in Kraft getreten ist, während das für den Rest des Gesetzespakets erst zum 1. Dezember gilt, ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch für all jene Dublin-Fälle zuständig, die keinen Asylantrag stellen. Daher ist Hamburg für sie nicht mehr zuständig, könnte jedoch durch die geforderte Regelung gemäß Paragraph 23 ein Aufenthaltsrecht auf Grund einer politischen Entscheidung des Senats gewähren, das dann vom Bundesinnenminister bestätigt werden müßte. Demnach ist die Aussage des Rechtspolitischen Sprechers des Hamburger Senats unzutreffend, die Flüchtlinge sollten rasch individuelle Asylanträge stellen, da Hamburg ab 1. Dezember nicht mehr zuständig für sie sei. Ohnehin hat der Senat signalisiert, daß die Anträge abgelehnt werden. Nach einer gewissen Zeit der Duldung kommt dann der Abschiebebefehl. Daher ist Paragraph 23 der einzig gangbare und für die Betroffenen zuverlässige Weg zu einem Aufenthaltsrecht. Zuerst muß diese Regelung vor Ort getroffen werden, worauf dann von Hamburg eine Initiative gegen die Dublin-Regeln ausgehen könnte, so die Hoffnung der Anwältinnen und Anwälte.

Theoretisch könnte sich zwar die Härtefallkommission in jedem einzelnen der 300 Fälle für ein Bleiberecht aussprechen, was jedoch ein höchst unsicheres Verfahren wäre. In der Vergangenheit hat Hamburg eine Vorreiterrolle per politischer Entscheidung stets entschieden abgelehnt und auf individuelle Verfahren bestanden, in denen jedoch so gut wie keinem Antragsteller Bleiberecht gewährt wurde.

Solange es kein Bleiberecht gibt, hüten sich die Flüchtlinge verständlicherweise davor, ihre Identität preiszugeben. Die Versuche des Hamburger Senats, die Identitäten zwangsweise zu prüfen, entbehren der rechtlichen Grundlage. Das Bild in der Öffentlichkeit, diese Menschen seien nicht zur Zusammenarbeit bereit, stellt die Verhältnisse auf den Kopf: Den Flüchtlingen werden von der gesamten Europäischen Union Rechte vorenthalten, auf die sie Anspruch haben. Abgesehen davon ist die Gruppe der Lampedusa-Flüchtling schon jetzt insofern sehr begrenzt, als für sie bestimmte zeitliche und örtliche Kriterien des Fluchtwegs angelegt werden. Deshalb trifft die Behauptung nicht zu, daß dann "alle" kämen, würde man dieser Gruppe Bleiberecht gewähren. Geprüft würde ohnehin in jedem einzelnen Fall, ob die angelegten Kriterien erfüllt sind.

Gruppenbild in Robe - Foto: © 2013 by Schattenblick

Anwältinnen und Anwälte zeigen Präsenz
Foto: © 2013 by Schattenblick


Erklärung der 111 Anwältinnen und Anwälte

Bislang unterstützen 105 Hamburger Anwältinnen und Anwälte sowie sechs aus Schleswig-Holstein die Initiative für eine Lösung nach Paragraph 23 für die Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge:

Wir unterstützen die Forderung der Gruppe Lampedusa in Hamburg, ihre humanitäre Notlage durch eine Bleiberechtsregelung nach Paragraph 23 AufenthG zu lösen.

Paragraph 23 AufenthG soll den zuständigen Behörden die Reaktion auf eine humanitäre Notlage ermöglichen, die eine bestimmte Gruppe von Personen betrifft. Mit dem Erlass einer Anordnung nach Paragraph 23 AufenthG kann eine Landesbehörde Kriterien definieren, unter denen sie aus humanitären Gründen im Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium ein Bleiberecht gewährt. Dieses Vorgehen schafft Transparenz und Rechtssicherheit.

Dass die Anwendung einer gesetzlichen Regelung ein rechtsstaatliches Verfahren ist, bedarf normalerweise keiner Erwähnung. Doch durch die jüngsten Äußerungen der politischen Akteure in der Diskussion um die Forderungen der Gruppe in Lampedusa in Hamburg sehen wir uns als Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte veranlasst, Folgendes klarzustellen.

Der Rechtsstaatsgedanke ist Teil des Grundrechtskonzepts, das entwickelt wurde als Konzept der Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe. Rechtsstaatliche Garantien wie z.B. das Recht auf effektiven Rechtsschutz, das Recht auf ein faires Verfahren oder die Selbstbelastungsfreiheit sollen die Menschen vor Eingriffen in ihre Grundrechte und staatlicher Willkür schützen. Mit Besorgnis nehmen wir zur Kenntnis, dass der Begriff des Rechtsstaats in der jüngsten Debatte zunehmend genutzt wird, um Repressionen gegen Einzelpersonen zu legitimieren.

Aus dem Rechtsstaatsbegriff folgt insbesondere Folgendes:

1. Es gab im Zusammenhang mit den gegen die Mitglieder der Gruppe Lampedusa in Hamburg gerichteten Kontrollen und Freiheitsentziehungen mehrere Maßnahmen, die rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprechen. Dies betrifft insbesondere die rechtswidrige Anordnung erkennungsdienstlicher Behandlung und die stundenlange, in zwei Fällen sogar 24 Stunden andauernde Freiheitsentziehungen ohne richterliche Anordnung. Hinzu tritt die Verkürzung des Rechtsschutzes durch die Nichtbeachtung der durch viele Betroffene eingelegten Widersprüche sowie die Anordnung des Sofortvollzugs ohne Beachtung des gesetzlich vorgesehenen Erfordernisses einer schriftlichen Begründung.

2. Es gibt keinen rechtsstaatlichen Grundsatz, nach dem jemand generell verpflichtet wäre, sich bei einer Behörde zu melden, um "seine Identität preiszugeben". Im Gegenteil: Wenn, wie es bei der Gruppe Lampedusa in Hamburg der Fall ist, von Seiten der Behörden generell davon ausgegangen wird, es bestehe der Verdacht des illegalen Aufenthalts, dann gilt der rechtsstaatliche Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist, Angaben zu machen, die ihn der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen.

3. Wer einen Antrag, z.B. auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stellt, ist zur Mitwirkung im Antragsverfahren verpflichtet, indem er die für die Entscheidung über den Antrag erforderlichen Angaben macht. Es gibt allerdings keinen rechtsstaatlichen Grundsatz, wonach jemand verpflichtet ist, einen Antrag zu stellen. Erst recht kann weder verlangt werden noch kann es für den Einzelnen sinnvoll erscheinen, einen Antrag zu stellen, wenn bereits von vornherein von der für die Entscheidung zuständigen Behörde erklärt wird, dass dieser Antrag ohnehin abgelehnt werden wird.

Die Gründe, auf die die Gruppe Lampedusa in Hamburg ihre Bleiberechtsforderung stützt, sind durch die vielen öffentlichen Äußerungen der Gruppe, aber auch durch die im September 2013 von der Gruppe gestellten beispielhaften Anträge, hinreichend bekannt. Am Beispiel dieses Gruppenschicksals wird das Versagen des europäischen Asylkonzepts deutlich, das die Menschen innerhalb Europas hin- und herschiebt und immer wieder in das Land der ersten Aufnahme zurückverweist, obwohl genau diese Länder keinen angemessenen und menschenwürdigen Flüchtlingsschutz mehr garantieren können.

Individuelle Anträge betrachten wir nicht als Verzicht auf die angestrebte Gruppenlösung. Denn der Vorschlag des Senats, dass die Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis in individuellen Verfahren beantragen und sich damit den Dublin-Regelungen unterwerfen, ist jedenfalls dann kein gangbarer Weg, wenn - wie vom Senat mehrfach signalisiert - diese Anträge von der Ausländerbehörde abgelehnt werden.

Nur eine politische Lösung und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß Paragraph 23 AufenthG kann dies verhindern und wäre ein erster Schritt in Richtung eines menschenwürdigen europäischen Asylsystems. Angesichts der politischen Dimension des Themas und der Not der Betroffenen wäre es an der Zeit, dass der Senat sein Versteckspiel beendet und die Initiative für eine Lösung ergreift, die ein Bleiberecht für die Mitglieder der Gruppe Lampedusa in Hamburg ermöglicht.

Wir fordern den Senat auf, hierfür das vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellte Instrument des Paragraphen 23 AufenthG zu nutzen. Dies ist der einzige Weg, um den Betroffenen Gewissheit über ihr aufenthaltsrechtliches Schicksal zu verschaffen und klarzumachen, ob ein politischer Wille besteht, die humanitäre Notlage zu beenden.[1]

Eingangsbereich mit Stufen und Plakat - Foto: © 2013 by Schattenblick

Veranstaltungsort Nachtasyl
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnote:

[1] http://lampedusa-in-hamburg.tk/

Bisherige Beiträge zu "Lampedusa in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/022: Lampedusa in Hamburg - Nachlese (SB)
INTERVIEW/032: Lampedusa in Hamburg - Tor ohne Tür, Flüchtling A. Tchassei im Gespräch (SB)
INTERVIEW/033: Lampedusa in Hamburg - Christenpflicht und Staatsräson, Pastor Sieghard Wilm im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: Lampedusa in Hamburg - das fordert die Geschichte, mit Andreas Gerhold im Gespräch (SB)

www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR:
REPRESSION/1509: Wir sind Deutschland? - Wir sind Lampedusa! (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1509.html
RAUB/1073: Wo die Ohnmacht am größten ist ... Lampedusa ist überall (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1073.html

Siehe auch Beiträge zum Flüchtlingssterben im Mittelmeer:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → BRENNPUNKT: SEEGRENZE
http://schattenblick.de/infopool/europool/ip_europool_brenn_seegrenze.shtml

Siehe auch Beiträge zu Flüchtlingsprotesten:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → TICKER: FLUCHT
http://schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_ticker_flucht.shtml


20. November 2013