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BERICHT/040: Aufbruchtage - Sozioökologische Auswege ... (SB)


Degrowth aus der Sicht Südeuropas

Vortrag an der Universität Leipzig am 3. September 2014



Griechenland benötigt keine Wachstumsrücknahme. Die Wirtschaft des Landes ist im Rahmen der Eurokrise um ein Drittel geschrumpft, Staatsbedienstete wurden zu Zehntausenden entlassen, die Löhne und Gehälter sanken je nach Branche um bis zur Hälfte, große Teile der Bevölkerung leben in einem in der EU bislang ungekannten materiellen Elend. All das erfolgte nicht aufgrund des Unwillens der Bevölkerung, sich nach der Decke des Leistungs- und Produktivitätsdiktats zu strecken, sondern aufgrund einer Kreditierung von Staat und Wirtschaft, die im gemeinsamen Interesse der Gläubiger und Schuldner an einer vermeintlich möglichen Geldvermehrung aus sich selbst heraus wurzelt. Da dieser durch die Finanz- und Schuldenkrise aufgeflogene Wunderglauben nicht im vergleichsweise harmlosen Umfeld religiöser Bekenntnisse entstand, sondern es sich um ein zentrales Mittel kapitalistischer Aneignung und Herrschaftsicherung handelt, fiel die daraufhin von den führenden EU-Staaten und -Institutionen verordnete Hungerkur so menschenfeindlich aus, wie es einer allein auf Geldverwertung abonnierten Wirtschaftsweise und Gesellschaftsordnung gut zu Gesicht steht.

Wenn in der Bundesrepublik über eine Umkehr des Wachstums hin zu einer ökologisch verträglicheren Form gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion nachgedacht wird, dann geschieht dies von der hohen Warte eines relativen Überflusses aus, von dessen Überbleibseln die griechische Bevölkerung schon lange nicht mehr zehren kann. Sie ist vielmehr mit einer Form der Mangelverwaltung konfrontiert, bei der es in nicht wenigen Fällen wie etwa bei der Frage medizinischer Versorgung um Leben und Tod geht [1]. Aus dieser Not eine Tugend zu machen, indem die daraus entstandenen Formen der kommunalen und kollektiven Selbstorganisation nötigster Versorgung als frische Triebe einer neuen Gesellschaft am absterbenden Stamm reiner Verbrauchsmaximierung idealisiert werden, könnte fast zynisch anmuten.

Doch warum sollte das neoliberale Prinzip der kreativen Zerstörung, das nach dem Niedergang der realsozialistischen Staatenwelt unter dem Vorwand, lebenswertere Gesellschaften zu errichten, von Krieg und Ausplünderung schwer gezeichnete Ruinen ungebremster Expansion, Extraktion und Exploitation hinterlassen hat, nicht einmal gegen sich selbst gekehrt werden? Warum den forcierten Niedergang der Radikalreformen und Schockdoktrin [2], der Deindustrialisierung und Privatisierung nicht dazu nutzen, auf dem harten Boden notgedrungener Subsistenz die Eigentumsfrage zu stellen und zu dem Ergebnis kommen, daß es einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft zugunsten all der Menschen bedarf, deren Bedürfnisse und Erfordernisse nichts zählen, wenn sie sich nicht gewinnbringend am Markt plazieren lassen?

Um Güter zu produzieren und Dienstleistungen bereitzustellen, die von unmittelbarem Nutzen für die an diesem Prozeß Beteiligten sind, wurden in sozialistischen Staaten die Produktionsmittel vergesellschaftet. Dies erfolgte jedoch auf eine Weise, die den Bruch mit dem Warencharakter der Arbeit und dem geldförmig bestimmten Wert nicht wirklich vollzog. Was in einer sozialistischen Weltgesellschaft zur Überwindung von Geld und Staat hätte führen können, mündete im Wettkampf der Systeme in den Niedergang jener Gesellschaften, die den Leistungsprimat nicht so konsequent gegen die eigene Bevölkerung richten wollten, daß diese durch die Peitsche des Mangels und das Gift der Konkurrenz zum immer billigeren Verkauf ihrer Arbeitskraft und Lebenszeit genötigt wurde. Die humanen Errungenschaften der sozialistischen Staatenwelt, ihr Anspruch auf soziale Gleichheit und friedliches Miteinander wurden nicht nur von innen heraus korrumpiert, wie die Siegerpropaganda der Marktdemokratien glauben macht. Sie gingen vor allem an der permanenten Bedrohung zugrunde, durch militärische Aggression und innere Unterwanderung besiegt zu werden, was die Verwirklichung sozialistischer Ideale zusehends unmöglich machte und eine Rigidität der Staatsmacht und Parteidoktrin hervorrief, gegen die sich auch Menschen erhoben, die diesen Idealen zutiefst verpflichtet waren.

Transparent 'Gutes Leben für alle' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Idealismus und Klassenkampf
Foto: © 2014 by Schattenblick

Degrowth als linker Entwurf für einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel

Im Kontext dieser Entwicklung stand auch ein Vortrag auf der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz für Ökologische Nachhaltigkeit und Soziale Gleichheit, die vom 2. bis 6. September 2014 an der Universität Leipzig stattfand. Der Politikwissenschaftler und Politiker Haris Konstantatos aus Athen nahm zur sozialökologischen Krise und der Krise der Demokratie eine explizit südeuropäische Perspektive ein, um die Krise des Kapitalismus in ihren spezifischen sozialen und geographischen Zusammenhängen zu analysieren. Seit 30 Jahren litten die Mittelmeerstaaten Portugal, Spanien und Griechenland an den Folgen der ungleichen Entwicklung in der EU, die im Rahmen der Krise besonders schwerwiegende Konsequenzen hatte. Ihre spezifischen, die gesellschaftliche Produktion und staatliche Verwaltung betreffenden Eigenheiten seien zwar als Varianten des dominanten kapitalistischen Modells zu verstehen, brächten aber auch ganz spezielle Formen der Krisenbewältigung hervor.

Während die ungleiche Akkumulation als strukturelle Ursache der weltweiten Krise ausgemacht worden sei, habe man den Umwelt- und Ressourcenfaktoren zu wenig Beachtung geschenkt. Indem sie Grenzen des kapitalistischen Wachstums aufzeigten, stellten sie auch seine Grundlagen in Frage. Verschärft werde das Problem durch die Krise der Demokratie, deren Entscheidungspraxis einer technokratischen Wende unterzogen wurde, um angeblich unnötige politische Einflüsse auszuschalten oder ein vermeintliches Übergewicht demokratischer Prozesse zu vermeiden. Die heutige "postpolitische" neoliberale Ordnung sei von einem programmatischen Konsensmanagement zwischen den dominanten Eliten aus Politikern, Unternehmern, NGOs und Experten charakterisiert, was die Entfremdung der Massen von der Politik, einen Rückgang der politischen Beteiligung, einen Anstieg der Korruption und ein Erstarken rechtsextremer Kräfte zur Folge habe.

Anstatt diese Entwicklung ernst zu nehmen, glaubten die Eliten an eine relativ unproblematische Wiederherstellung des bisherigen Status quo, was wiederum das Demokratiedefizit auf nationaler wie EU-Ebene weiter verschärfte. Schließlich hätten die sozialen Widerstandsbewegungen auf den großen Plätzen der Metropolen wie die Indignados in Spanien den Legitimationsmangel des neoliberalen Kapitalismus durch die Aneignung basisdemokratischer Praktiken deutlich hervortreten lassen. Die sich daraus ergebende Instabilität der Politik wird, so die Ansicht des Referenten, wahrscheinlich eine grundlegende Veränderung der politischen Landschaft in den EU-Staaten herbeiführen, allerdings nicht im Sinne einer Rückkehr zum Neoliberalismus der Zeit vor der Krise oder zu den angeblich goldenen Nachkriegsjahren. Statt dessen werde sich entweder ein autoritärer Kapitalismus entwickeln, der in dem über Griechenland verhängten Austeritätsregime bereits Gestalt annimmt und darauf hinausläuft, Südeuropa in ein riesiges Reservoir billiger Arbeitskräfte zu verwandeln. Im anderen Fall, so Konstantatos unter Berufung auf Antonio Gramsci, könne die Krise ein Terrain schaffen, das die Verbreitung bestimmter Denkweisen und Fragestellungen begünstige. Sie könne heute dazu beitragen, den dominanten Narrativen intellektuell zu entkommen und radikale sozialökologische Paradigmen wie Umweltgerechtigkeit oder Degrowth voranzutreiben.

Im Vortrag auf der Leipziger Degrowth-Konferenz - Foto: © 2014 by Schattenblick

Haris Konstantatos
Foto: © 2014 by Schattenblick

Für den Referenten ergeben sich daraus drei mögliche Lösungsmodelle. Zum einen das Südeuropa aufgezwungene Entwicklungsparadigma des aggressiven Neoliberalismus, der auf einer Entwertung von Arbeit und der Umwelt als öffentliches Gut beruht. Während die Entwertung der Lohnarbeit und die dadurch verursachte soziale Krise umfassend analysiert worden seien, habe man den katastrophalen Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die ökologischen Verhältnisse nur wenig Beachtung geschenkt. Maßnahmen des Umweltschutzes wie die in den mediterranen Ländern ohnehin schwachen Rahmenprogramme für die ökologische Regulierung würden zurückgefahren, ökologisch wichtige Gebiete wie Küsten und Wälder seien in allen südeuropäischen Ländern durch umfassende Investitionen bedroht.

In Griechenland werde eine Wachstumsstrategie propagiert und gefördert, die auf Wettbewerbsfähigkeit, Produktivitätssteigerung, Extraktivismus und internationalen Investitionen beruht. Da Griechenland als ressourcenreich, aber verschuldet und schwach gelte, biete es eine hervorragende Gelegenheit für das transnationale Kapital, insbesondere in die Bereiche des Massentourismus, der Energieerzeugung und Rohstoffindustrie zu investieren. Dies gehe mit einer Politik der Privatisierung öffentlicher Güter und des Staatseigentums einher, die in Griechenland im Rahmen eines an die Treuhand erinnernden Behördenmodells erfolge. Öffentliche Infrastrukturen der Energieversorgung und des Verkehrs, Land und Immobilien aller Art würden zu Geld gemacht und gingen in Privatbesitz über.

Laut der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF könnten die griechischen Staatsfinanzen noch über den Verkauf von Land saniert werden. Dazu müsse dem Beispiel anderer europäischer Länder gemäß öffentlicher Landbesitz und das private Kleineigentum an Land, das in Griechenland seit Jahrhunderten die hauptsächliche Form des Grundbesitzes darstellt, eingeschränkt werden. Diese obligatorische Maßnahme der kapitalistischen Modernisierung gehe mit einer Übernutzung von Land, Wasser, Küsten, Wäldern, also der Grundlagen der Biodiversität, einher, die in den Augen des Referenten ebenfalls einer gewaltsamen Landenteignung zuzurechnen ist. Sie sei mit entsprechenden Prozessen im globalen Süden vergleichbar, was nichts anderes bedeute, als daß in der EU ein globaler Süden geschaffen werde.

In der sozialistischen Linken verankert sei demgegenüber das Modell des fortschrittlichen Produktivismus. Es basiere auf der Abhängigkeitstheorie der Semiperipherie, laut der die nationale Produktiviät und vergleichbare Vorzüge der industriellen Entwicklung in Südeuropa und anderen Ländern der Peripherie nicht zum Wohl der Menschen genutzt wurden. Der Imperialismus habe die Entwicklung und Strategien zur Produktivitätsentwicklung und die damit verbundenen Möglichkeiten, zu nationaler Unabhängigkeit und sozialer Emanzipation zu gelangen, blockiert. Bis heute seien die Spuren, die die Verbundenheit der Linken mit der Nachkriegsideologie des starken Wachstums und der andauernden Produktivkraftentwicklung hinterlassen haben, in den Wirtschafts- und Entwicklungsstrategien linker Regierungen in Lateinamerika zu erkennen. Sie neigten dazu, von einer ungenügend entwickelten Produktion auszugehen, die durch die Einheit aller kreativen Kräfte in der Bevölkerung unter Ausschluß der korrupten Plutokraten vorangebracht werden sollte.

Hier würden die gewohnten linken Antworten gegeben: Kapitalkontrolle, Verstaatlichung der Banken und öffentlichen Versorgung, Preiskontrolle und staatliche Industriepolitik. Diese linken Modernisierungsansätze neigten dazu, qualitative Aspekte der Entwicklung wie die Qualität verfügbarer Arbeitsplätze zu vernachlässigen, um statt dessen einen technokratischen und hierarischen Ansatz zu propagieren, der den Nationalstaat als Interventionsarena voraussetzt. Dabei blieben Umweltbelange den Wachstumszielen untergeordnet, wie die linke Forderung der weiteren Ausbeutung von Braunkohle, Gas- und Ölreserven zwecks Finanzierung des Sozialstaats belege.

Haris Konstantatos, der dem Zentralkomitee der Linkspartei Syriza angehört, stellt diesem orthodoxen Ansatz linker Politik und dem Neoliberalismus die seiner Ansicht nach aussichtsreiche Alternative der sozialökologischen Transformation gegenüber. Er beruft sich dabei auf die Erfahrungen, die im Zusammenhang eines neuen sozialen Aktivismus gemacht wurden, der, anknüpfend an die Antiglobalisierungsbewegung, seit 2010 weltweite Bedeutung erhalten habe. In diesem Rahmen seien Formen der inklusiven und sinnvollen Demokratie entwickelt worden, man habe mit horizontalen Organisationsformen experimentiert, die bis dahin nur in kleineren autonomen Gruppen üblich waren. Hunderte von Demokratie-Laboratorien wurden geschaffen, in denen mit neuen Formen der sozialen Beziehungen und demokratischen Entscheidungsprozessen experimentiert wird. Radikale Aktionen politischen Protestes werden mit dem Ziel durchgeführt, direkt und unmittelbar politische Wirkung zu entfachen.

Diese Gegenbewegung zum herrschenden Austeritätsdiktat hat zudem vielfältige Initiativen für den Aufbau paralleler sozialökonomischer Strukturen hervorgebracht, in denen sich das Programm einer radikalen Gesellschaftsveränderung abzeichnete. Arbeitskooperativen und die Belegschaften besetzter Fabriken stellen die Frage nach der kollektiven Reorganisation der Arbeit, nach Wirtschaftsdemokratie und nichttechnokratischer Planung und Produktion. Soziale Krankenhäuser und Apotheken, die eine notdürftige Grundversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung bereitstellen, bilden den Entwurf eines Gesundheitssystems, das sich dem Zugriff multinationaler Gesundheitskonzerne entzieht. Direkte Produzenten-Konsumenten-Netzwerke bieten ein praktisches Beispiel für einen gerechteren Handel, der Zwischenhändler und den Spekulationsmarkt umgeht. Bewegungen gegen Bergbauaktivitäten und umweltverschmutzende Investitionen widersetzen sich dem Extraktivismus und streben ebenso eine Neubewertung der natürlichen und menschlichen Umwelt an wie die Gruppen, die gegen die Privatisierung von Land, Wasser oder öffentlicher Infrastruktur kämpfen.

Die Nutzung von Gemeingütern jenseits des Marktes und kapitalistischen Staates wird auch durch Solidaritätsbewegungen vorangetrieben, die Zwangsräumungen und Stromabschaltung verhindern. Der Kampf für eine Grundversorgung, das Recht auf Wohnen und Elektrizität für mittellose Menschen treibt den sozialen Wandel voran. Junge Wissenschaftler setzen sich für Open-Source-Projekte und die gesellschaftliche Wiederaneignung von Technologien ein, die der kapitalistischen Kontrolle über Produktion und Verteilung entzogen werden. Soziale Zentren, in Eigenregie geführte Parks und Gemeinschaftsgärten wie andere offene Räume in Nachbarschaften stehen gegen die Kommerzialisierung des alltäglichen Lebens. Lokale Tauschnetzwerke und alternative Währungen entwickeln das kommunale Gemeinwesen und thematisieren die destruktive Rolle der Finanzwirtschaft.

Plakatausschnitt 'Nein, nein, nein, das ist nicht der Kommunismus' und Wahlplakat die Linke 'Industrietradition und Energiewende' - Fotos: 2014 by Schattenblick Plakatausschnitt 'Nein, nein, nein, das ist nicht der Kommunismus' und Wahlplakat die Linke 'Industrietradition und Energiewende' - Fotos: 2014 by Schattenblick

Bruchlinien und Streitpunkte linker Politik
Fotos: 2014 by Schattenblick

Herausforderungen für die revolutionäre Linke

Zum Abschluß seines Vortrags bezog Haris Konstantatos Stellung zur Kritik jener revolutionären Linken, die in Griechenland vor allem durch die marxistisch-leninistische KKE repräsentiert wird. Diese bestreite die gesellschaftliche Relevanz der aus der Krise hervorgangenen Sozialexperimente mit dem Argument, daß es keine Massenbasis gebe, um tragfähige alternative Modelle von Konsum und Produktion zu schaffen, und daß diese Lebens- und Wirtschaftsformen die herrschenden Verhältnisse nicht wirklich angreifen könnten. Der Referent stellt dem entgegen, daß die Menschen, die eine strukturelle sozialökologische Transformation propagieren, mit diesen Formen der Alltagssolidarität und sozialen Ökonomie eine Praxis mit radikalem Potential entwickelt hätten. Die neuen Initiativen von unten nehmen entweder ausdrücklich oder stillschweigend einen antikapitalistischen oder einen Degrowth-Standpunkt ein. Indem diese strukturellen Veränderungen in der politischen und der ökonomischen Sphäre manifest würden, entsprächen sie auch den Bedürfnissen der am schwersten von der Krise Betroffenen.

Der soziale Wandel finde in der Ermächtigung und aktiven Teilhabe der Ausgeschlossenen und Besitzlosen, also auch der Arbeiterklasse, statt. Die von der Krise betroffenen Menschen verhandelten etablierte gesellschaftliche Werte neu und übernähmen Konzepte wie gutes Leben, Einfachheit und Konvivialität. Sie stritten gegen die Produktions und Konsummodelle des Kapitalismus und stellten die Frage danach, wer was für wen auf welche Weise produziert, neu. Diese antihegemonialen Diskurse und Praxis von unten repolitisierten die Debatte darüber, welche Art von Entwicklung in welcher Art von Gesellschaft zu bevorzugen sei. Sie könnten realistische Elemente einer alternativen Herangehensweise an demokratische Planung und Politik bilden, die sich sowohl von neoliberalen Dogmen als auch traditionellen linksgerichteten Ansätzen entfernten.

Für Haris Konstantatos hat sich in den südeuropäischen Ländern heute eine einzigartige Gelegenheit für eine demokratische sozialökologische Transformation eröffnet. Der Auftrieb linker politischer Parteien wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien verorte diesen Wandel in einem konkreten politischen Möglichkeitshorizont. In Griechenland entwickle sich ein neuer, am ehesten in Lateinamerika vorvollzogener Entwurf der Veränderung, der auf unterschiedlichen Ebenen der Politik ansetzt. Die Vorstellungen einer Vielfalt sozialer Bewegungen positionierten sich im Zentrum der politischen Arena, indem sich viele Menschen mit ihnen identifizieren. Dies allein reiche, so der Referent, aber nicht aus, bedürfe es doch einer Transformation der Institutionen, Kommunen und Regionen, des Staates und der EU.

In Spanien hätten bekannte Vertreter von Podemos und der vereinigten Linken das sogenannte Last Call Manifest unterzeichnet. In ihm wird betont, daß die ökonomische, politische und ökologische Krise nicht durch die Rückkehr zur althergebrachten Politik des Wachstums und der Expansion überwunden werden kann. Damit setze sich diese Linke von bestimmten Strömungen der Nachkriegslinken ab, wie es auch in anderen europäischen Linksparteien der Fall sei, die die Dringlichkeit der sozialökologischen Transformation betonten.

Schließlich plädiert Konstantatos dafür, die besonderen Eigenheiten südeuropäischer Länder wie die große Zahl kleiner und mittlerer Betriebe, der informelle Charakter ökonomischer Beziehungen, die Beständigkeit von Familienbanden und lokalen Netzwerken vor der Doktrin der kapitalistischen Modernisierung zu schützen. Diese sehe darin archaische Überbleibsel gewachsener Kulturen, die zugunsten der Freiheit des Kapitals und des Marktes zu beseitigen seien. Demgegenüber gelte es vielmehr, an diese kulturellen Eigenheiten und Traditionen anzuschließen. Das historische Bewußtsein in der Mentalität der mediterranen Gesellschaften sei für die Schaffung eines originären Modells des guten Lebens, der Gemeinschaft, Genügsamkeit und Konvivialität in Anspruch zu nehmen. Die späte Demokratisierung, die traditionell starke Rolle des Staates, die Fortdauer der radikalen linken Parteien auch nach dem Ausbruch der Krise sowie die demokratischen Erfahrungen der Antiausteritätsbewegungen jüngerer Zeit könnten günstige Bedingungen für große Veränderungen schaffen.

Um insgesamt voranzukommen, müsse jedoch erkannt werden, daß die Politik der von oben nach unten verordneten "einen" richtigen Lösung für alle zu nichts führt. Die Vorstellung, die südeuropäischen Länder müßten dem Vorbild der nördlichen Kernstaaten der EU folgen, sei zu verwerfen. Statt dessen sei zu akzeptieren, daß in verschiedenen Ländern unterschiedliche Strategien erforderlich sind, um die Krise zu überwinden. Die besonders hart von der Austerität betroffenen süderopäischen Gesellschaften müßten demnach gute und gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze in großer Zahl schaffen. Der Wiederaufbau des Sozialsystems müsse dringend und umfassend in Angriff genommen werden, um die weitverbreitete Armut zu lindern. Dies könne nur durch die konzertierte Aktion aller sozialen und politischen Akteure gelingen. Die basisdemokratischen örtlichen Initiativen müßten in Verbindung mit der öffentlichen Politik fragen, wie man es schaffen könnte, die Eliten und Unternehmen zu entmachten, soziale Ungleichheit zu überwinden und die Neuverteilung des vorhandenen, in wenigen Händen konzentrierten Reichtums zu erreichen.

Sowohl das soziale Experiment von unten, das sich in südeuropäischen Ländern als Antwort auf die Krise herausgebildet hat, als auch die politischen Programme, die entworfen wurden, um die Besitzlosen und die verarmte Mittelschicht zu vereinen, könnten eine Inspiration für den sozialen Wandel auch im europäischen Norden werden. Vielleicht könnte das neoliberale Experiment mit Ausgangspunkt in Griechenland und anderswo auf den Kopf gestellt werden, so daß die radikalen Alternativen von heute ein Bild von Europas Zukunft entwickeln, dem wir morgen folgen, so die abschließend zum Ausdruck gebrachte Hoffnung des Referenten.

Freiwillige bereiten Essen auf der Degrowth-Konferenz vor - Foto: © 2014 by Schattenblick

Kollektives Arbeiten jenseits des Lohndiktats
Foto: © 2014 by Schattenblick

Unabgegoltene Fragen von Macht und Herrschaft

So attraktiv die von Haris Konstantatos entwickelten Vorstellungen für eine gesellschaftliche und sozialökologische Transformation sind, so sehr laufen sie Gefahr, die sozialen und ökologischen Mißstände, die es zu überwinden gilt, zu verstetigen. Da sich die gesellschaftlichen und ökonomischen Eliten nicht kampflos enteignen lassen werden und ihre Macht durch eine EU gestützt wird, die keine Anzeichen dafür erkennen läßt, daß sie den neoliberalen Kurs und die Strategien imperialistischer Expansion aufgibt, stellt sich die Machtfrage in unveränderter Dringlichkeit. Die zu einem Gutteil von Überlebensnot getriebene Reorganisation sozialer und kommunaler Praxen und Strukturen hat zwar ein neues Widerstandspotential hervorgebracht, das jedoch gleichzeitig durch die politischen Akteure sozialdemokratischer Parteien und herrschaftskonformer NGOs nach Kräften in die eigenen Bahnen gelenkt und so seiner Streitbarkeit beraubt wird.

Die bekannte Position Syrizas, die EU nicht verlassen zu wollen, sondern von innen heraus zu reformieren, birgt denn auch die Gefahr, daß die im Rahmen der Krise entwickelten Alternativen zur gesellschaftlichen Reproduktion eine Art von Mangelverwaltung hervorbringen, die an herrschende Gewaltverhältnisse anknüpft. Solange die zentralen Agenturen und Institutionen gesellschaftlicher und ökonomischer Macht nicht im besagten, den Bedürfnissen und Interessen aller Menschen Vorrang gebenden Sinne transformiert werden, solange lassen sich selbstorganisierte Strukturen zur Entlastung von einem sozialen Druck instrumentalisieren, der eine revolutionäre Veränderung im Sinne der Eigentums- und Machtfrage überhaupt vorstellbar machte.

Darauf zu hoffen, daß die Transformation von unten nach oben fast wie von selbst zu einem guten Leben für alle führt, entspricht der Unterlassung, das Problem einer geldförmig organisierten Wirtschaft nicht einmal theoretisch in Angriff zu nehmen. Wird der stets ungleiche Tausch lediglich moderiert, aber nicht abgeschafft, dann unterliegt der Mensch auch in Zukunft den Kriterien der Leistungsbemessung und der Evaluation seines Nutzens für eine Allgemeinheit, die neue Eliten und damit neue Herrschaftsverhältnisse hervorbringt. Bescheidet sich die aus Not geborene Radikalität mit Zwischen- und Übergangslösungen, ohne den großen Wurf einer herrschaftsfreien Gesellschaft zumindest ins Auge zu fassen, dann wird den dagegen gerichteten Kräften unnötig Raum gelassen, die Transformation zu okkupieren und in eigene Bahnen zu lenken.

Warum nicht anstreben, den ohnehin exorbitanten Mangel an Lebensressourcen zum Anlaß zu nehmen, aus der EU auszutreten und sich damit des direkten Zugriffs der Troika und der führenden EU-Regierungen auf die eigene Entwicklung zu entziehen? Dabei geht es aus linker Sicht nicht um die Glorifizerung des Nationalstaats, sondern um die Entmachtung eines abstrakt wirkenden und dabei höchst konkret intervenierenden Zentralismus, der die kleinsten Einheiten und Strukturen sozialökonomischer Reproduktion zu kontrollieren trachtet. Warum sollte ein der Bevölkerung durch die Rückgewinnung demokratischen Einflusses noch halbwegs verpflichteter Staat verwerflicher sein als eine EU, die explizit anstrebt, auf globaler Ebene eine Führungsposition einzunehmen, und die imperialistische Kriege riskiert, um dies zu erreichen?

Was die griechische KKE propagiert, um einen eigenständigen revolutionären Weg gehen zu können, ist bei allen Unterschieden in der zu schaffenden sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit gerade dann nicht abwegig, wenn es ohnehin nicht um die propagierte Wachstums- und Wettbewerbsorientierung geht. Ein Krisenmanagement, das darauf beruht, durch die EZB ständig neues Geld verfügbar zu machen und damit die Börsen zu befeuern, während gleichzeitig behauptet wird, man wolle die Krise durch Spardiktate bewältigen, die das Leben der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen in erster Linie betreffen, läßt nur eine Schlußfolgerung zu - Kapitalakkumulation und Verfügungsgewalt über Arbeit sollen unter allen Umständen aufrechterhalten werden, während die davon Betroffenen in immer größerem Maße sozialem Elend und materieller Abhängigkeit ausgesetzt werden.

Die Kritik, die Konstantatos an der sogenannten orthodoxen Linken übt, ist insbesondere hinsichtlich der Absolutheit, mit der dort der Produktivkraftentwicklung als Basis sozialistischer Vergesellschaftung das Wort geredet wird, und der Ignoranz gegenüber der Ausbeutung von Mensch und Natur ernst zu nehmen. Solange eine revolutionäre Linke die Antwort darauf schuldig bleibt, wie dieses Problem zu bewältigen ist, wird sie ihrerseits Probleme damit haben, eine Massenbasis zu organisieren. Wird dies allein aus dem Antrieb heraus versucht, eine Umverteilung von oben nach unten zu erreichen, dann ist sie zudem der Gefahr ausgesetzt, einen Reformismus zu begünstigen, der neue Spaltungen bewirkt und alte Herrschaft nährt.

Die Radikalität der gemeinschaftlichen Praxis und des sozialökologischen Bewußtseins, der der Syriza-Politiker das Wort redet, wird eher früher als später vor dem Problem stehen, mit unüberwindlich erscheinenden Hürden konfrontiert zu sein. Die integrative Strategie, linke Parteien wie Syriza oder Podemos zu Sachwaltern der Transformation zu machen, bedarf daher des permanenten Drucks von unten. Ansonsten wird der Prozeß der mehr oder minder schleichenden Sozialdemokratisierung und damit der Durchsetzung innovativer, sich des Degrowth-Etiketts bedienender Formen einer Mangelverwaltung, die sich, wie durch Hartz IV exemplarisch vorgemacht, der Leistungs- und Arbeitsgesellschaft andient, nicht aufzuhalten sein. Die jungen Menschen, die dem destruktiven Charakter der herrschenden Produktionsweise Paroli bieten, gehen, wenn sie nicht ohnehin glauben, Postwachstum ließe sich auf marktwirtschaftlichem Wege realisieren, eher von libertären und individualistischen Konzepten der Transformation aus. Sich mit den Problemen zu konfrontieren, die entstehen, wenn sie den Kern kapitalistischer Legitimität, das angeblich Reichtum für alle produzierende Wachstum, bestreiten, könnte die Fragen, die eine revolutionäre Linke seit jeher umtreiben, mit neuer Aktualität erfüllen.


Fußnoten:


[1] BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0014.html

[2] REZENSION/565: Detlef Hartmann, John Malamatinas - Krisenlabor Griechenland (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar565.html

Zu Fragen linker Positionierung zur EU siehe auch:
Tagung "Brauchen wir eine Alternative zu Euro und EU?" am 30. November 2013 in Düsseldorf
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0010.html
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0011.html
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0012.html
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0013.html


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)
BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)
BERICHT/032: Aufbruchtage - Quadratur des Kreises und wie es doch zu schaffen ist ... (SB)
BERICHT/033: Aufbruchtage - Mensch- und umweltfreundlicher Verkehr ... (SB)
BERICHT/034: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (1) (SB)
BERICHT/035: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (2) (SB)
BERICHT/036: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (3) (SB)
BERICHT/037: Aufbruchtage - die Weckruferin ... (SB)
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INTERVIEW/059: Aufbruchtage - Entfremdungsfreies Schaffen ...    Stefan Meretz im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/061: Aufbruchtage - Gemeinschaft wecken ...    Barbara Muraca im Gespräch (SB)
INTERVIEW/062: Aufbruchtage - Beweglich, demokratisch und global ...    Maggie Klingler-Lauer im Gespräch (SB)
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29. November 2014


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