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BERICHT/044: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (2) (SB)


Der Universalschlüssel des Wachstums-Paradigmas

Session an der Universität Leipzig am 3. September 2014



Auf der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz für Ökologische Nachhaltigkeit und Soziale Gleichheit, die vom 2. bis 6. September 2014 an der Universität Leipzig stattfand, befaßte sich die Session "Degrowth and history - Economics, sustainability, power" insbesondere mit der Geschichte des Bruttoinlandprodukts (BIP). Während Matthias Schmelzer (Universität Genf) und Prof. Dr. Lorenzo Fioramonti (Centre for the Study of Governance Innovation) aufschlußreiche Einblicke in den Entstehungszusammenhang dieser Bemessungsgröße gaben, stellte Dr. Iris Borowy (Universität Aachen) maßgebliche Etappen des Kampfes für eine nachhaltige Entwicklung dar. Prof. Dr. Joan Martinez-Alier (Autonome Universität Barcelona) setzte sich kritisch mit dem Konstrukt Nachhaltigkeit auseinander und stellte fundierte Ansätze historischer Forschung zu sozial-ökologischen Fragestellungen vor.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Matthias Schmelzer
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Wie Matthias Schmelzer ausführte, gehöre Wachstum zu den zentralen Schlüsselzielen der nationalen und internationalen Wirtschaftspolitik. Die Daten des BIP beherrschten die Schlagzeilen und hätten die Alltagssprache in einem Maße geprägt, daß es nahezu unmöglich sei, ohne Bezug darauf ökonomische Fragen zu erörtern. Wirtschaftswachstum habe den Lebensstandard von Millionen Menschen gehoben und sei die Hoffnung zahlloser weiterer Menschen, dieselbe Entwicklung nachholen zu können. Es scheine essentiell zu sein, um der Tendenz des Kapitalismus entgegenzuwirken, Ungleichheit anwachsen zu lassen, da in Krisenzeiten die Aufspreizung bei Einkommen und Reichtum steige, weil die Löhne wesentlich langsamer steigen als die Kapitalerträge. Dennoch gebe es gute Gründe, die Möglichkeit und Befürwortung künftigen Wachstums in industrialisierten Ländern in Frage zu stellen.

Was heute so selbstverständlich anmutet, als sei es nie anders gewesen, erweist sich bei näherer Untersuchung als ein relativ junges Phänomen, so der Referent. Vor 1820, als sich das Wachstum im Kontext der industriellen Revolution zu beschleunigen begann, verlief die Weltwirtschaft in periodischen Auf- und Abschwüngen. Natürlich wurden im Laufe der Zeit Maßgaben entwickelt, den Reichtum von Ländern einzuschätzen, wie etwa die räumliche Expansion, die Landwirtschaft, die Industrie und spezielle Industriezweige wie etwa die Stahlproduktion. Es existierte jedoch noch kein einheitlicher Begriff von der Wirtschaft als solcher und insbesondere keine Bemessung nach rein monetären Kriterien. Mit dem Ende der Kolonialherrschaft und der territorialen Landnahme wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts in Gestalt des Wachstums, gemessen anhand des BIP, eine neue, nicht zuletzt ideologische Maßgabe etabliert. In den 1950er Jahren avancierte Wachstum zu einem Schlüsselbegriff in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wie auch im politischen Diskurs und allgemeinen Sprachgebrauch.

Schmelzer, der in seiner Studie vor allem die Implementierung des Wachstumskonzepts in der OECD und deren Vorläuferorganisation OEEC von den 1940er bis zu den 1970er Jahren und darüber hinaus untersucht hat, stellte vier wesentliche Diskurse des Wachstums-Paradigmas vor:

1) Die These, daß die ökonomische Aktivität durch das BIP adäquat bemessen ist, worin im wesentlichen der Geldaustausch in der Marktwirtschaft eines Nationalstaats wiedergegeben wird. Die meisten Kontroversen, die heute darum geführt werden, daß das BIP unser Leben unzutreffend bemißt, lassen sich auf die Phase der internationalen Standardisierung dieser weltweit einflußreichsten Bemessungsgröße in den 1940er und frühen 1950er Jahren zurückverfolgen. Die Statistiker waren damals nicht nur sehr vorsichtig, was die Fähigkeit und Universalität dieser Größe zur Bemessung des Wohlstands wie auch die Vergleichbarkeit durch Zeit und Raum betrifft, sondern führten auch heftige Kontroversen darüber, wie ökonomischer Output zu definieren sei und welche Aussagekraft diese Zahl habe. Eine bedeutsame Kontroverse betraf die unbezahlte Hausarbeit, die in manche Statistiken Eingang fand, in andere hingegen nicht.

Ein kleines Netzwerk US-amerikanischer und britischer Statistiker übernahm die Führung und etablierte in der OEEC den ersten internationalen Standard zur Bemessung der Wirtschaft. Dieser beruhte nicht so sehr auf einem wissenschaftlichen Konsens und statistischer Expertise, als vielmehr auf der politischen Nützlichkeit marktorientierter Einkommensdaten, wodurch das BIP in den Rang einer internationalen Bemessungsgrundlage erhoben wurde. Dies schuf die Grundlage für eine makroökonomische Politik wie auch die wachsende Bedeutung der Wirtschaftswissenschaften als akademische Disziplin.

2) Das Paradigma des Wachstums wurde als wesentliche Antwort auf die wichtigsten Herausforderungen moderner Gesellschaften und Imperativ zur Abwendung ökonomischer und sozialer Krisen betrachtet. Als politisches Ziel trat es erstmals Ende der 1940er Jahre in den USA und in den frühen 1950er Jahren in Westeuropa in Erscheinung. In Reaktion auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Nachkriegszeit wurde es im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung, dem Wiederaufbau Europas, politischer Instabilität, dem Niedergang der Kolonialherrschaft und dem Kalten Krieg als Lösungsmodell propagiert. Wachstum versprach, politische Konflikte um Verteilungsfragen in technokratische Fragen wie die kollektiv erarbeitete Steigerung des BIP zu verwandeln.

Auf diese Weise wurden Klassen- und andere sozialen Widersprüche in vorgebliche Win-win-Situationen aufgelöst und zu einer Lösung realer Widersprüche erklärt. Dies trug dazu bei, die Arbeiterschaft und die politische Linke zu integrieren, ermöglichte Wiederbewaffnung ohne sinkenden Lebensstandard und stabilisierte das Bretton-Woods-System. In der Systemkonkurrenz wurde das BIP zu einer unvermeidlichen Vokabel westlicher Politiker. 1951 legte man mit 25 Prozent binnen fünf Jahren erstmals ein Wachstumsziel fest. 1961 wurden 50 Prozent innerhalb von zehn Jahren festgelegt und zum Ende der Dekade tatsächlich erreicht. 1970 schließlich glaubte man sogar, das gemeinsame BIP binnen zehn Jahren um 65 Prozent steigern zu können. Dieses Ziel wurde bekanntlich weit verfehlt, da die Wachstumsrate zu sinken begann.

3) Man glaubte, mittels geeigneter politischer Maßnahmen das Wachstum auf Jahrzehnte hinaus, wenn nicht gar für immer festschreiben zu können.

4) Das Wachstums-Paradigma wurde von dem Glauben und der oftmals impliziten Annahme verstärkt, Wirtschaftswachstum sei eine unabdingbare Voraussetzung dafür, die wesentlichen Bestrebungen der Gesellschaft wie soziales Wohlergehen, Fortschritt, Modernität, nationale Macht und Prestige zu realisieren. Stetiger Zuwachs an ökonomischem Output und die Aussicht auf immer weiter zunehmenden Konsum trugen dazu bei, an einen Fortschritt zu glauben, der im Zuge der Großen Depression, durch die beiden Weltkriege und die Shoah tiefgreifend erschüttert worden war. In Kontrast zu der für irrational erklärten Staatsführung in den 1930er Jahren, zu nationalistischen und imperialistischen Rivalitäten und der Ideologie des Faschismus erklärte man die technische, wissenschaftliche und politische Ära der Wachstumsförderung, die sich eines Arsenals zur Messung, Vorhersage und Organisation des Wachstums bediente, für wahrhaft rational und fortschrittlich.

Ungeachtet dieses Appells an die technische Bewältigung sozialer Probleme kam es jedoch in den 1950er und frühen 1960er Jahren durchaus noch zu Kontroversen um Inhalt und Bedeutung des BIP. Zur Bewertung von Staaten bediente man sich indessen zunehmend der Kennziffern des Wachstums und insbesondere des BIP als Referenz, wodurch dieses als maßgebliches Kriterium zur Einschätzung der jeweiligen Regierungspolitik herangezogen wurde und den Rang des betreffenden Landes im Rahmen der Blöcke in der internationalen Arena definierte.

Wachstum wurde als Legitimationsstrategie in den vier genannten Aspekten hegemonial und erklärte die zugrundeliegenden Macht- und sozialen Verhältnisse für natürlich, unvermeidlich und zeitlos. Wachstum ist jedoch weder natürlich, noch handelt es sich um eine analytische Kategorie, die man als objektiv und dauerhaft voraussetzen kann. Vielmehr hat man es historisch gesehen mit einer vergleichsweise jungen Entwicklung zu tun, die als interessengeleitet zu entschlüsseln ist, so Matthias Schmelzer.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Lorenzo Fioramonti
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Das Manhattan-Projekt der Ökonomie

Lorenzo Fioramonti, Professor für Politische Ökonomie aus Südafrika, ging im Rahmen seines Vortrags näher auf die konkreten historischen Bedingungen ein, unter denen das BIP entworfen und durchgesetzt wurde. Ihm zufolge suchte US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Gefolge der Großen Depression in den frühen 1930er Jahren nach innovativen wirtschaftspolitischen Ansätzen, um die Ökonomie wieder in Schwung zu bringen. Er schlug unter anderem eine Studie vor, in der alle Unternehmen erfaßt werden sollten. 1934 legte Simon Kuznets dem US-Kongreß erstmals einen nationalen Einkommens- und Produktionsbericht vor, in dem noch nicht vom GDP, sondern vom National Income die Rede war.

Ende der 1930er Jahre ging es darum zu ermitteln, ob die USA in den Krieg eintreten könnten, ohne ihre Ökonomie damit zu opfern. Die politische Führung ermächtigte gewissermaßen die Wirtschaft, den Krieg zu planen, weshalb Historiker das BIP als das Manhattan-Projekt der Ökonomie bezeichnen, da es genauso wichtig wie die Erfindung der Atombombe gewesen sei. Tatsächlich waren die USA das einzige Land, das die fünf Kriegsjahre ohne Rezession überstand und seine Produktion sogar verdoppelte und verdreifachte, ohne den heimischen Konsum abzuwürgen. Das war einer der Gründe, wieso die USA bei Kriegsende derart expandieren konnten.

Die zweite Triebfeder des BIP war der Kalte Krieg, in dem man der Welt erklären wollte, welches das bessere System sei. Damals bestand die größte Abteilung der CIA aus Statistikern, die sämtliche wirtschaftsbezogenen Berichte aus der Sowjetunion auswerteten um nachzuweisen, daß die dort geltend gemachten Erfolge frei erfunden seien. Dieser Kalte Krieg der Statistiker währte 30 Jahre und endete erst im Mai 1989, als sowjetische Experten nach Virginia reisten, wo sie darin ausgebildet wurden, das BIP zu ermitteln.

Der dritte und bis heute letztgültige Durchbruch des BIP nahm 1991 seinen Lauf, als es im Kontext der Globalisierung in den Rang einer weltweit anzuwendenden offiziellen Bezeichnung erhoben wurde. IWF und Weltbank schulten Entwicklungsländer darin, das BIP zu messen, da man ermitteln wollte, wie entwickelt ein Land ihren Parametern gemäß sei und welche Hilfszahlungen ihm gewährt werden sollten.

Im Zuge der gegenwärtigen Krise kamen jedoch immer mehr Regierungen zu dem Schluß, daß das BIP gescheitert ist und man ein neues System braucht, in das ökonomische, ökologische und soziale Aspekte einfließen. Nun erinnerte man sich daran, daß Simon Kuznets bei der Präsentation seiner Studie einen möglichen Mißbrauch seines Ansatzes nicht ausgeschlossen hatte. Beim BIP handelt es sich um ein aggregiertes Maß, das geeignet ist, den Luxus der Oberschicht gegen die Armut am anderen Ende der Gesellschaft auszuspielen und damit die Ungleichheit wachsen zu lassen. So warnt der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty vor einer dadurch beförderten Zerstörung der Ökonomie.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Militärausgaben ins BIP aufgenommen, worin sie auch nach Kriegsende verblieben. Diese Bemessungsgröße half, den Krieg zu gewinnen, und setzte ihr Werk gegen den sozialen Zusammenhalt und gegen die Umwelt fort. Wachstum im Sinne des BIP ist ein zentrales Kriterium in der EU, die bei Nichterfüllung Sanktionen gegen Mitgliedsländer verhängen kann, die dieses Szenario nicht verlassen dürfen. Ursprünglich wurden in den USA Prostitution und verbotenes Glücksspiel nicht in die Bemessungsgrundlage des BIP aufgenommen, da man dies damals für nicht wünschenswert hielt. Seit dem 1. September 2014 rechnet das deutsche Statistische Bundesamt Mafiaaktivitäten oder Drogenhandel mit positivem Vorzeichen in das BIP ein, dessen formale Steigerung offensichtlich für wichtiger erachtet wird als die Gültigkeit moralischer oder ethischer Normen.

In China ist das BIP seit 2006 nicht mehr der allein gültige Maßstab für Fortschritt und damit die Bewertung politischer Leistungen der Kader. Inzwischen wird es dort vielerorts überhaupt nicht mehr verwendet. Nach den Worten Fioramontis besteht also Hoffnung, daß eine Wende eingeleitet ist, die nach und nach globale Ausmaße annimmt. Das BIP sei insofern ein bedeutsames Einfallstor, um das Wachstums-Paradigma zu kritisieren, weil man darüber auch Menschen erreichen könne, die kaum an einer Degrowth-Konferenz teilnehmen. Indessen müsse man auf der Hut sein, da die Gegenseite natürlich versuche, lediglich einige kosmetische Änderungen vorzunehmen, um das System als solches zu retten, warnte der Referent zum Abschluß seines Vortrags.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Iris Borowy
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Nachhaltigkeit als Konzept der Depolitisierung?

Iris Borowy wies nachhaltige Entwicklung als ein Schlüsselkonzept wünschenswerten Wirtschaftens aus und illustrierte zunächst die Bedeutung des Wachstums auf einem kurzen Streifzug durch die Menschheitsgeschichte. Als historisch ältesten Prozeß kann man demnach eine Wanderbewegung auf der Suche nach Nahrungsmitteln auffassen, der sich über Jahrtausende vollzog und um 1100 endete, als Neuseeland und damit die Grenze der Erde erreicht wurde. Wuchs die Bevölkerung weiter, mußte man fortan andere Wege finden, sie zu ernähren. Da die Bevölkerungszahl und die Wirtschaft jedoch relativ lange stabil blieben, stellte sich diese Anforderung geraume Zeit nicht. Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts und besonders dramatisch seit den 1950er Jahren nahm das Wachstum aus mehreren Gründen Schwung auf. Ein wesentlicher Faktor war der Zugang zu Kohle, der indessen endlich ist, weshalb das Wachstum automatisch an seine Grenzen stoßen wird, so die Referentin.

Wirtschaftliche Entwicklung ließe sich aus ihrer Sicht als Strategie definieren, für möglichst viele Menschen das bestmögliche Leben zu gewährleisten. Während das BIP jedoch auf eine unmittelbare Steigerung der Produktion ziele, sei nachhaltige Entwicklung eine übergeordnete Strategie, für lange Zeit über die Runden zu kommen, und daher weitaus schwieriger zu verwirklichen. Die exponentielle Steigerung der Produktion seit den 1950er Jahren zog gravierende Umweltprobleme nach sich und verschärfte die regionale und globale Ungleichheit der Vermögen und Einkünfte. Im Sinne denkbarer Gegenstrategen sei entweder weniger Produktion und Konsum oder eine bessere Technologie vorstellbar. Weniger Produktion und Konsum seien jedoch ebenso unpopulär wie Umverteilung, was für die deutsche Bevölkerung insgesamt gelte, die vergleichsweise wohlhabend sei. Bessere Technologie sei an sich eine gute Idee, führe aber dazu, daß die Besitzenden noch mehr abbekommen.

In den 1970er Jahren entstanden verschiedene Konzepte, wie man mit dieser Problematik umgehen könnte, wobei das Wachstumsmodell sowohl im Kapitalismus als auch im Sozialismus dominierte. Alternativ dazu steht das Konzept einer stationären Ökonomie. Als drittes Konzept ist eine Neuformulierung der internationalen Ordnung zwischen Nord und Süd mit dem Ziel zu nennen, letzterem einen besseren Zugang zu Handel, Finanzen und Wohlstand zu ermöglichen. Dieser Ansatz scheiterte in den 1990er Jahren. Zudem konnte keines dieser Konzepte die zugrundeliegende fundamentale Frage einer langfristigem und akzeptablen Entwicklung beantworten. Daher bedurfte es eines Entwicklungskonzepts, das den wachsenden materiellen Wohlstand mit Reduzierung der Umweltbelastung und sozialer Gerechtigkeit verbindet und idealerweise zu einer wechselseitigen Unterstützung dieser Ziele führt. Das war die Geburtsstunde der nachhaltigen Entwicklung, so die Referentin.

Die OECD gehörte seit 1979 zu den ersten Organisationen, die versuchten, ökologische Erwägungen frühzeitig bei allen Entscheidungen im ökonomischen und sozialen Sektor vor allem in Entwicklungsländern einzubringen. 1984 formulierte sie dieses Ziel auf einer internationalen Konferenz zu Umwelt und Wirtschaft mit der Aussage, daß Ökologie und Ökonomie einander unterstützen könnten, sofern sie angemessen organisiert würden. Man müßte demnach bei Entscheidungen auf allen Ebenen ökologische Erwägungen einbeziehen. Das war zumindest eine Zielvorgabe und Absichtserklärung.

Andere Organisationen griffen diesen grundlegenden Ansatz später auf. Die International Union for the Conservation of Nature (IUCN) formulierte das Konzept der nachhaltigen Entwicklung in den 1980er Jahren im Sinne eines politischen Katalogs zu Handelsschranken, Entwicklungshilfe und Finanzsystemen - und wurde weitgehend ignoriert. Einige Jahre später machte die UNO in Gestalt der Brundtland-Kommission einen neuen Ansatz zur nachhaltigen Entwicklung. Diese veranstaltete offene Treffen an verschiedenen Orten der Welt, wobei auch die Länder des Südens einbezogen waren. Im Mittelpunkt stand das Konzept einer Armutsreduktion, die Wachstum in den armen Ländern erfordert, das wiederum Wachstum in den reichen voraussetzt - so jedenfalls nach dem damaligen Stand der Auffassungen. Dieses Wachstum überschreitet jedoch die Grenzen der Nachhaltigkeit.

Die Kommission wollte ein Resultat formulieren, das nicht ignoriert, sondern von vielen Menschen gelesen und ernst genommen wurde. Deshalb spielte sie die Zügelung des Wachstums und des hochkonsumtiven Lebensstils in den reichen Ländern herunter und hob die ökologischen Folgen der Armut wie auch technologische Lösungen hervor. Die heute geläufige Definition von Nachhaltigkeit, nämlich den Bedürfnissen der Gegenwart zu entsprechen, ohne jene der Zukunft preiszugeben, also Generationengerechtigkeit zu schaffen, ist eine zentrale Aussage der Kommission, wenngleich nicht die einzig wesentliche. Sie unterstrich auch die Priorität eines Augenmerks für die Armen, die Grenzen der Ressourcen, die Umverteilung und die Notwendigkeit eines Politikwechsels.

Der Bericht stieß nach den Worten der Referentin verständlicherweise auf Skepsis. Der Begriff nachhaltige Entwicklung hat sich zwar durchgesetzt, doch ist die Entwicklung keineswegs nachhaltig verlaufen. Seitens der Länder der Südens, der NGOs und der Umweltorganisationen wurde der Bericht größtenteils abgelehnt, da er Wachstum und Wohlstand verknüpft, obgleich er eben auch diverse andere Aussagen macht, die bei dieser Kritik nicht berücksichtigt werden. Als höchstrangige Reaktion auf den Brundtland-Bericht gilt die Rio-Konferenz 1992, die unter anderem die Agenda 21 formulierte und die Bedeutung der Armutsreduzierung hervorhob, die zugleich der Umwelt nütze. Ebenfalls 1992 gab die Weltbank einen Weltentwicklungsbericht heraus, der den Brundtland-Bericht aufgriff, aber verschiedene Aspekte präzisierte und zu dem irritierenden Schluß kam, daß mehr Wachstum weniger Umweltbelastung bedeute. Das trifft zwar in einigen Aspekten wie der Luftbelastung zu, in anderen jedoch überhaupt nicht, was sogar im Weltbankbericht selbst erwähnt wird.

Mit den Millenniumszielen 2000 erfolgte eine Depolitisierung der nachhaltigen Entwicklung, indem insbesondere von einer nachhaltigen Umwelt die Rede ist, was auf eine erhebliche Reduzierung des Begriffs hinausläuft. Die 2000 gegründete Basisorganisation People's Health Movement ruft demgegenüber in ihrer Charta zur Reduzierung eines überkonsumtiven und nicht nachhaltigen Lebensstils auf und erhebt diese Forderung insbesondere an die Industriestaaten des Nordens, die um 90 Prozent reduzieren müßten, was also nicht nur die Reichen, sondern weite Teile der Bevölkerung beträfe. Umgekehrt weisen reaktionäre Kreise beispielsweise in den USA Nachhaltigkeit als Angriff auf den American Way of Life zurück.

Sollte die Degrowth-Bewegung weiter an Einfluß gewinnen, werde auch sie sich solchen Angriffen ausgesetzt sehen. Nachhaltige Entwicklung dürfe sich nicht auf die Umwelt beschränken, sondern müsse soziale Fragen wie insbesondere Armut einbeziehen und komme ohne Umverteilung nicht aus, so das Schlußwort der Referentin.


Widerstand ist keine Frage des Meßinstruments

Da die jeweils bevorzugten Indikatoren stets nur Ausdruck der grundsätzlichen Positionierung in der gesellschaftlichen Widerspruchslage sein können, mündet der Versuch, die Meßwerkzeuge selbst als Hebel zur Herbeiführung der gewünschten Entwicklung zu mißdeuten, geradewegs in die bloße Uminterpretation der herrschenden Verhältnisse. So einig man sich sein mag, daß verschiedenste Aspekte von Nachhaltigkeit einzubeziehen seien, bleibt diese selbst doch als Konstrukt unhinterfragt. Ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammend, bezog sich Nachhaltigkeit dort lediglich auf das Kalkül, die Grundlage der eigenen Erwerbsweise nicht dadurch zu untergraben, daß man den Nachschub des benötigten Rohstoffs außer acht ließ. Das Eigentum an Grund und Boden, die Forstrechte, die Benutzung des Holzes, die Arbeitsverhältnisse und daraus erzielten Gewinne - kurz, fast alle wesentlichen Aspekte dieser Produktionsweise bleiben davon unberührt. Wenngleich es also vernünftig sein mag, einen Wald auf längere Sicht zu bewirtschaften und dabei auch ökologische Gesichtspunkte einzubeziehen, unterliegt auch dies den Maßgaben eines profitgetriebenen Verwertungsregimes und dessen gesellschaftspolitischer Ordnung.

Nachhaltigkeit demgegenüber zum Königsweg wünschenswerter Entwicklung zu überhöhen, der materiellen Wohlstand mit Reduzierung der Umweltbelastung und sozialer Gerechtigkeit verbinden und sogar zu einer wechselseitigen Unterstützung dieser Ziele führen soll, postuliert das konsensgetragene Luftschloß einer Versöhnung unbewältigter Widersprüche, denen man tunlichst nicht auf den Grund geht. So liegt die Vermutung nahe, daß das Konstrukt zu eben diesem Zweck in die Welt gesetzt und favorisiert worden ist. Das mag erklären, warum Nachhaltigkeit heute als Arsenal beliebig zu subsumierender Aspekte in aller Munde ist und je nach Gusto ausgelegt werden kann, das wohlbegründete Vokabular entschiedener Konfrontation mit Herrschaft und Ausbeutung hingegen in der Versenkung zu verschwinden droht.

(wird fortgesetzt)


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
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4. Februar 2015


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