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BERICHT/109: Naturbegriffe - Lebensrecht und eine neue Welt ... (SB)


Die Absage an die Moderne erfordert eine radikale Veränderung der herrschenden Machtstrukturen. Dies wäre eine "qualitative Veränderung", die sich nicht vermeiden lässt und die für mich nicht verhandelbar ist. Doch die kulturellen Ideen und Quellen, die diese Veränderung inspirieren und unterstützen, können durchaus viel älter sein als die Moderne selbst, sogar archaisch, solange sie nur wahr sind. "Wahr" meint hier: ein Beitrag, um Wege aus der Beherrschung und dem andauernden Ökozid und Genozid zu finden.
Gene Ray: Den Ökozid-Genozid-Komplex beschreiben: Indigenes Wissen und kritische Theorie in der finalen Phase[1]


Für Emilio Alfred Weinberg, der sich seit den 1970er Jahren gegen die Zerstörung unserer Umwelt und seit acht Jahren intensiv im Widerstand gegen die Kohleverstromung im Rheinland engagiert, gehört die Braunkohle in den Boden oder bestenfalls in ein Museum, um dort den Raubbau der Kraftwerksindustrie an den Ressourcen der Erde zu dokumentieren. Mehrere AktivistInnen tragen kurz vor seiner Präsentation des Falles "Lignite Mining - Hambach Forest, Germany" vor dem Rights of Nature Tribunal ein Stück jahrtausendealte fossile Energie in den Saal des LVR LandesMuseums in Bonn. Wie ein nicht ganz ungefährliches Beweisstück ist der durch den Druck der Erde komprimierte Brennstoff von einem transparenten Container umschlossen und bezeugt vor den RichterInnen die schwarze Gegenständlichkeit des verhandelten Falles.


Am Rednerpult mit Kartenprojektion hinter dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Emilio Alfred Weinberg erklärt das Rheinische Braunkohlerevier
Foto: © 2017 by Schattenblick

Drei riesige Tagebaue baggern sich im Rheinischen Braunkohlerevier seit Jahrzehnten tief in die Erde, vernichten nicht nur Kulturland und menschliche Siedlungen, die über Jahrhunderte gewachsen sind, sondern befeuern mit der Verstromung von Braunkohle eine Dynamik des Klimawandels, die, ist der Point of no return einmal erreicht, das Leben auf diesem Globus insgesamt bedroht. Mag auch die Zukunft ungewiß und nicht bis ins letzte Detail aufschlüsselbar sein, die Erderwärmung wird kommen, unabhängig davon, in welchem Ausmaß die menschliche Zivilisationsgeschichte samt ihrer ressourcenverschlingenden Industrien daran teilhatte. Wenn sich AktivistInnen von Ende Gelände und anderen Gruppen in Sitzblockaden den Profit- und Partikularinteressen von Energiekonzernen wie RWE in den Weg stellen oder mit Akten des zivilen Ungehorsams die Notbremse ziehen, geht es um die Wahrung letzter verbliebener Chancen, noch eine Entwicklung aufzuhalten, an deren Schlußpunkt möglicherweise die relative Unbewohnbarkeit des Planeten steht.

Das Rheinische Braunkohlerevier umfaßt inklusive des Tagebauvorfelds 190 Quadratkilometer und ist doch nur ein Mosaikstein in einem weltweiten Destruktionsprozeß, dessen durch fossile Energie getragener Brand ohne den Ausstoß klimaschädlicher Gase nicht zu entfachen ist. Tief öffnet sich dem Auge des Betrachters das größte Loch Europas. Der Hambacher Tagebau mit einem Umfang von 45 Quadratkilometern reicht bis zu 430 Meter in die Erdkruste hinab und ist mit den rauchenden Schloten der umliegenden fünf Braunkohlekraftwerke, wie der Referent Weinberg mit bitterer Ironie schildert, vom UN-Klimasekretariat in Bonn aus gut zu erkennen. Tatsache ist, daß in der BRD mehr als 40 Prozent der Stromproduktion auf Braunkohle basieren, daß RWE die größten Bagger der Welt in Betrieb hat und jedes Jahr im Rheinischen Revier 90 Millionen Tonnen des wichtigsten nationalen Energierohstoffs aus der Erde holt. Die Verbrennung von Braunkohle gilt als Klimakiller Nummer 1 in Europa, wodurch jährlich 90 Millionen Tonnen CO2 in die Luft entlassen werden.


Schild 'Kohle ins Museum' und Kohleexponat - Fotos: © 2017 by Schattenblick Schild 'Kohle ins Museum' und Kohleexponat - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Vorgriff auf eine bessere Zukunft
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Im Westen von Köln fressen sich die gigantischen Bagger tiefer und tiefer in die Erde, um ihr die Braunkohle zu entreißen, die nur wenige Kilometer entfernt verstromt wird. Daß dabei fruchtbare Landschaften und Ökosysteme unwiederbringlich zerstört werden und Treibhausgase das Weltklima gefährden, scheint den Energiekonzern RWE nicht zu kümmern. Vom ursprünglich 85 Quadratkilometer großen Wald, der früher einmal ein Naturschutzgebiet war und wertvolle alte Stileichen und Hainbuchen beherbergte, sind nur noch etwa sieben Quadratkilometer übrig. Seit April 2012 versuchen WaldschützerInnen durch eine dauerhafte Besetzung mit Baumhäusern in bis zu 20 Metern Höhe die weitere Vernichtung des Restwaldes zu verhindern. "Wald statt Kohle", lautet eine Parole dieser meist grünschwarz eingefärbten Form von internationaler Solidarität.

Der Hambacher Forst ist sehr zum Ärgernis von RWE zum Symbol des Widerstands im Rheinischen Revier gegen die Braunkohle geworden. Die Waldbesetzung hat in großem Maße dazu beigetragen, daß die Bewegung für Klimagerechtigkeit in Europa sich stetig enger verzahnt und an Stärke gewinnt. Gleichwohl beabsichtigt RWE, den Hambacher Forst bis auf den letzten Baum zu roden, weil im Erdreich noch profitable Mengen an Braunkohle lagern. Es gilt, die gigantischen Braunkohlekraftwerke im Umkreis der Baggerarbeiten mit neuer Nahrung zu füttern. Daß diese neben den gefährlichen Treibhausgasen auch radioaktiven Feinstaub, Arsen und Quecksilber durch die Schornsteine blasen, daß pro Kraftwerk im Jahr bis zu 470 kg Quecksilber, einem schon in feinsten Mengen starken Nervengift, emittiert werden, wird als Kollateralschaden verrechnet.


Referent mit Bild von Waldbesetzung und Kohleexponat - Foto: © 2017 by Schattenblick

Tribunal nur 50 Kilometer vom Tatort entfernt ...
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die im Rheinischen Revier verstromte Braunkohle ist für etwa 12,5 Prozent aller CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Ein Vergleich macht es noch deutlicher: Der gesamte Verkehr auf deutschen Straßen mit 51 Millionen Kraftfahrzeugen produziert 20 Prozent des nationalen CO2-Aufkommens. Oder anders formuliert: Die fünf Braunkohlekraftwerke im Revier sind genauso klimaschädlich wie 30 Millionen Kraftfahrzeuge. Unter Klimaexperten besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß Braunkohle der klimaschädlichste Energieträger überhaupt ist, auch weil er zudem einen geringen Wirkungsgrad aufweist. Maximal 43 Prozent der Ursprungsenergie werden in Strom umgewandelt, alles andere geht in die Atmosphäre. Bei Gas sind es ca. 50 bis 60 Prozent, bei Steinkohle 46 Prozent. Hinzu kommt, daß allein im Tagebau Hambach jeden Tag über drei Millionen Kubikmeter Erde, Abraum und Kohle hin und her bewegt werden, wodurch Grob- wie auch Feinstaubpartikel in die Atmosphäre entweichen.

Nicht weniger dramatisch ist, daß dadurch im Boden vorkommendes Uran (U238) bis zu einer Menge von 280 Kilogramm pro Tag in die Luft emittiert wird oder ins Grundwasser gelangt, wo es in radioaktive Isotope wie Radium und Polonium zerfällt. Diese Alphastrahler verbinden sich mit den verschiedensten Feinstaubpartikeln und werden durch Westwinde bis nach Bonn, Köln und Düsseldorf getragen. Dies stellt nicht nur eine extrem gesundheitsschädliche Gefahr für die 9000 Beschäftigten der Kohleindustrie dar, sondern für alle Menschen im Einflußgebiet der Tagebaue. Bereits seit den 1970er Jahren ist bekannt, daß das Umfeld kohlebefeuerter Kraftwerke viel höher radioaktiv belastet ist als die Umgebung von Atomkraftwerken. So gelten Stein- und Braunkohlekraftwerke neben Atomkraftwerken als die weltweit größte Quelle radioaktiver Verseuchung der Umwelt.

Der Referent wies zudem auf die internationale Studie der Health and Environment Alliance (HEAL) aus dem Jahre 2013 hin, in der die externen Kosten von Kohlestrom unter Einbeziehung der Gesundheitsfolgen infolge der Schadstoffemissionen berechnet wurden. Auch die Greenpeace-Studie "Tod aus dem Schlot" belegt die Gefährlichkeit von Feinstaub, da er, gewissermaßen als Gifttaxi, beladen mit radioaktiven Stoffen und weiteren Schadstoffen, den Weg bis in die Lunge findet, was vor allem bei Kindern das Risiko schwerwiegender Erkrankungen am Herz-Kreislauf-System erhöht. Meßstationen im Südosten und Nordosten des Tagebaus Hambach haben in einzelnen Grubenranddörfern erhebliche Feinstaubbelastungen registriert. Die WHO hat Feinstaub auf die höchste krebserzeugende Gefährdungsstufe gesetzt, wobei die Grenzwerte im Jahresmittel noch deutlich unter denen der EU liegen. Einer Studie zufolge überschreiten fast 50 deutsche Stein- und Braunkohlekraftwerke die international vereinbarten Grenzwerte.


Referent mit Foto von Hausabriß und Braunkohletagebau auf Leinwand - Fotos: © 2017 by Schattenblick Referent mit Foto von Hausabriß und Braunkohletagebau auf Leinwand - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Erst die kleinen, dann die großen ... Baggeroffensive für Kohlestrom
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Daß Tagebaue nicht nur die Umwelt und Atmosphäre schädigen, sondern durch den Abbau der Energieträger auch Siedlungsräume vernichtet werden, zeigt sich auch daran, daß mittlerweile über 40.000 Menschen im Rheinischen Braunkohlerevier zwangsumgesiedelt wurden und damit ihre angestammte Heimat samt den gewachsenen Sozialstrukturen verloren haben. Diese trotz entsprechender Kompensationsangebote durch den Tagebaubetreiber RWE nicht anders denn als Vertreibung zu verstehende Maßnahme ist längst nicht abgeschlossen. Doch auch die Menschen in den Orten an den Grubenrändern, die dem Zwangskatalog der Umsiedlung entgingen, sind von Bergschäden betroffen. Weil tief gebaggert wird, muß ständig Wasser abgepumpt werden. So gehen pro Jahr 550 Millionen Kubikmeter an wertvollem Grundwasser verloren. Infolge des Abpumpens sinkt die Erde ab, was Brüche und Risse an der Bausubstanz der Wohnhäuser zur Folge haben kann.


Am Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Als Expertin geladen - Waldführerin Eva Töller kämpft für den Erhalt des Hambacher Forstes
Foto: © 2017 by Schattenblick

Als bewährtes Mittel, die Antikohlebewegung und das Bündnis gegen Braunkohle, die Vernetzung der Wald- und Wiesenbesetzung mit Klimagerechtigkeitsaktivisten und Bürgerinitiaven sowie Organisationen wie Attac, BUND und Greenpeace zu spalten, dient RWE die Kriminalisierung des Widerstands. Die dazu aufgestellte Behauptung, der Abbau der Braunkohle sei unverzichtbar, um die Versorgungs- und Energiesicherheit in Deutschland zu garantieren, ist aus Sicht des Referenten grundverkehrt. Dies nicht nur, weil die erneuerbaren Energien durch Wind und Solar den Ausstieg aus dem fossilen Brennstoff leicht kompensieren könnten, sondern weil der Alarmismus der Energielieferanten geflissentlich unterschlägt, daß ein Großteil der in Deutschland abgebauten Braunkohle ohnehin ins Ausland exportiert wird.

Das pedantische Beharren auf die Kohleverstromung gegen jede Vernunft, die Erderwärmung mindestens unter zwei Grad zu drosseln, dürfte denn auch mehr dem Preismanagement geschuldet sein, die anfallenden Kosten auf die Endverbraucher abzuwälzen und gleichzeitig den ökonomischen Zugriff der Konzerne auf eine vorhandene Ressource zu sichern. Der lange Arm von RWE bis in die kommunalen Parlamente sowie die Landes- und Bundesregierung hinein stellt sicher, daß Energiealternativen zwecks schnellen Ausstieges aus der Braunkohle immer wieder auf die lange Bank geschoben werden, so Emilio Weinberg. Er kritisierte ausdrücklich, daß ein altes Bergrecht in der BRD praktisch jedes andere Recht bricht, was sich auch daran zeige, daß in einem Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichtes der Wert der Braunkohleverstromung höher erachtet werde als das Recht auf Heimat.


Zu zweit am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

AktivistInnen der Wald- und Wiesenbesetzung sagen aus ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Widerstand aus den Wipfeln der Bäume

Im Anschluß machten zwei AktivistInnen, die das ganze Jahr über im Hambacher Forst [2] leben, um sich der Zerstörung in den Weg zu stellen, klar, daß jedes Mittel, seien es Blockaden, Demonstrationen oder Akte der Sabotage an Arbeitsmaschinen legitim sei, um den Planeten zu retten. Für ihre Überzeugungen wurden sie verprügelt, verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Dennoch machen sie sich keine Illusionen darüber, daß Klimagerechtigkeit nur mit einem grundlegenden Systemwandel zu erreichen ist, der Herrschaftsstrukturen ebenso in Frage stellt wie Wissenshierachien abbaut, um ein horizontales Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen.

Dabei geht es ihnen nicht nur um die Natur, ihr Kampf richtet sich gleichermaßen gegen Rassismus und Imperialismus im globalen Süden. Widerständig im Forst zu bleiben, ist nicht allein ein Symbol, sondern existentielle Notwendigkeit gegenüber einer Industrie, die die Zukunft aller Menschen zerstört. So versprachen die AktivistInnen RWE, auch für den Fall, daß sie den weiteren Abbau der Kohle und die Zerstörung des Waldes nicht verhindern könnten, dem Konzern wehzutun, seinem Image und dem Geldbeutel seiner Profiteure zu schaden und keinen Baum, der fällt, unvergolten zu lassen.

Die Baumhäuser stellen für sie eine Protestform dar, von der das Signal ausgeht, bis hierher und nicht weiter. Sicherlich können Regierungen Symptome bekämpfen und Schäden eindämmen, aber der formelle Weg der Politik greift zu kurz, solange das Grundproblem der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ausbeutung nicht durch eine soziale Revolution beendet wird. So viele verschiedene Generationen von AktivistInnen in mehr als fünf Jahren Wald- und Wiesenbesetzung am Boden wie in lichter Höhe den Platz für das Leben der Bäume und Tiere verteidigt haben, so sehr sind sie darin eins, die indigene Tradition des Schutzes der Natur aus der Ohnmacht des atomisierten Subjektes der Konkurrenz- und Marktgesellschaft heraus aufgegriffen und in zu neuer Kollektivität erwachte Formen und Praktiken der Befreiung überführt zu haben.


Hambacher AktivistInnen vor dem Tribunal - Foto: © 2017 by Schattenblick

Mit streitbarem Ernst überzeugend ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] aus South as a State of Mind, Issue #8 [documenta 14 #3]
http://tinyurl.com/yc73g656

[2] Berichte und Interviews aus dem Hambacher Forst vom Februar 2017 unter dem kategorischen Titel "Krieg der Bäume":
http://www.schattenblick.de/infopool/redaktio/ip_redaktio_report_geschichten_aus_dem_widerstand.shtml


Bisher im Schattenblick unter BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT zum International Rights of Nature Tribunal in Bonn erschienen:

BERICHT/108: Naturbegriffe - blutige Verschiebespiele ... (SB)
BERICHT/107: Naturbegriffe - die immer gleichen Absichten ... (SB)
BERICHT/106: Naturbegriffe - unzureichend im Blick ... (SB)
BERICHT/105: Naturbegriffe - im Kreisverkehr ... (SB)

INTERVIEW/169: Naturbegriffe - Fluchten ...     Ute Koczy im Gespräch (SB)
INTERVIEW/168: Naturbegriffe - Fundamentaler Widerstand ...     Kandi Mossett im Gespräch (SB)
INTERVIEW/167: Naturbegriffe - Universalitätsargumente ...     Linda Sheehan im Gespräch (SB)


25. Januar 2018


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