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BERICHT/130: Kreuzfahrtschiffe - Dekadenz auf Schrauben ... (SB)


Die Talkshow "Talk2Christiansen" findet regelmäßig an Bord eines Kreuzfahrtschiffs statt. Sein Auftritt im Januar gefiel Ex-Außenminister Joschka Fischer offenbar so gut, daß er glatt noch zwei Wochen Kreuzfahrt dranhing. Diesmal übertrug nicht die ARD den Talk, sondern der Haussender der "MS Europa 2". Gemeinsam mit seiner Frau Minu Barati habe Fischer eine der Luxuskabinen bezogen, die normalerweise zwischen 10.000 und 36.000 Euro kosten. Der Grünen-Politiker mußte für die zwei Wochen lange Fahrt auf dem dieselbetriebenen Schiff hingegen nichts bezahlen. Die Reederei Hapag Lloyd Cruises bestätigte dies: In Einzelfällen würde man das machen. [1]


Die von seinen Protagonisten für letztgültig erklärte Ratio des Kapitalverhältnisses, menschliche Arbeitskraft und natürliche Ressourcen exzessiv auszubeuten und auszuplündern, findet in den Giganten der Kreuzfahrt gleichsam einen zur konkreten Riesenmaschine verdichteten Ausdruck gesellschaftlicher Widerspruchslagen. Zur Phantasmagorie des Traumschiffs verklärt, kann ihre pompöse Glitzerwelt konsumistischen Scheins doch die monströse Dystopie nicht verbergen, mit der dieser massentouristische Auftrieb erkauft ist. Der Komfort zu erschwinglichen Preisen läßt sich nur deshalb höchst profitabel verwerten, weil die massiven Schadensfolgen für Mensch und Natur umgelastet und externalisiert werden. Als handle es sich um parallele Welten, die selbst an ihren Schnittstellen durch unüberbrückbare Schranken voneinander getrennt sind, wird die Bespaßung der einen zu Lasten der anderen auf ihre dekadente Spitze getrieben.

Wenngleich die Kreuzfahrt zum Discounterpreis natürlich vom sehr viel kostspieligeren Luxussegment der Branche zu unterscheiden ist, haben beide doch ein ganz wesentliches Element der Selbstvergewisserung gemein. Daß die Passagiere auf den Oberdecks ihren Urlaub genießen, stellt die Besatzung aus dem Bauch des Schiffes sicher, so daß die Ordnung von unten und oben, dienen und bedient werden, unmittelbar materialisiert. Dies geradezu hautnah auszukosten, ohne auch nur einen Gedanken an das Schicksal der ausgebeuteten Existenzen verschwenden zu müssen, solange sie nur zur vollen Zufriedenheit funktionieren, trägt maßgeblich zum beglückenden Erlebnis der Reise bei. Indem die Präsenz der Klassengesellschaft und des imperialistischen Raubgefüges im Nord-Süd-Verhältnis wie in einem Mikrokosmos das Leben an Bord bestimmt, als gebe es nur diese eine unanfechtbare Realität menschlichen Verkehrs, wird eben diese Bewertung der Verhältnisse und die nicht auszuschließende Konsequenz, deren Überwindung in Angriff zu nehmen, um so nachhaltiger ausgeblendet.

Daß Billigkreuzfahrten mit Vollversorgung beispielsweise im Mittelmeer Hochkonjunktur haben, in dem zugleich geflohene Menschen zu Tausenden ertrinken, entzieht sich nicht nur der touristischen Wahrnehmung, sondern würde im Falle einer Konfrontation mit dieser Koinzidenz für zusammenhangslos erklärt. Die Verteidigung des relativen Wohlstandsniveaus und der nationalen Identität als Schätze von wachsendem Wert in einer von multiplen Krisen erschütterten Welt erfordern ein explizites Bestreiten jeglicher Verantwortung, als sei der hiesige Produktivitätsvorsprung ein Eigengewächs ohne koloniale Vorgeschichte und deren permanente Fortschreibung in Gestalt eines Wirtschaftskrieges und nicht selten auch militärischer Intervention.

Damit korrespondiert der befremdliche Charakter moderner Kreuzfahrten, die jedes substantielle Verständnis des Reisens ad absurdum führen. Es geht nicht mehr darum, ferne Länder zu besuchen, den dort lebenden Menschen zu begegnen und sich ihrer Kultur zu öffnen, wird doch die Vermarktungsmaxime der Branche - "the cruise is the destination" - in wachsendem Maße perfektioniert. Rundumversorgung, kulinarische Genüsse, Einkaufszeilen und Freizeitvergnügen zwischen Discos, Shows und Rummelplatz bieten den Urlaubenden alles an Bord, was ihr Konsumentenherz begehrt. Die Stippvisiten in den angelaufenen Häfen sind als durchorganisierte Programmteile kaum mehr als sehenswürdiges Beiwerk, was die naheliegende Frage aufwirft, warum die schwimmenden Tempel des Pauschaltourismus überhaupt noch den Hafen verlassen. Die globalisierte Welt mit ihrer als verstörend und bedrohlich empfundenen Fremdheit wird auf sicherem Abstand gehalten, um sie für sich zu beanspruchen, ohne die Wagenburgmentalität preiszugeben.

Wo die Tagestouristen massenhaft einfallen, erinnert dies an eine Invasion, welche die Hafenstädte okkupiert, die einheimische Bevölkerung verdrängt und ihre Lebensverhältnisse beeinträchtigt. Die erhofften Erlöse fallen in aller Regel mager aus, sind die Kreuzfahrtpassagiere doch an Bord vollversorgt und auf einen Schnelldurchgang aus, der das Erlebnis der Handykamera und dem Selfiestick überantwortet. Werden Naturschauspiele, Kulturen und Wohnstätten im Zuge touristischer Verwertung auf ihren nackten Warencharakter reduziert, ist deren Vernutzung und Zerstörung im Machtgefälle zwischen Reisenden und Objekten der Bereisung zwangsläufige Folge.

Daß der NS-Staat eine bedeutende Flotte von Kreuzfahrtschiffen unterhielt, die - "Kraft durch Freude" - kurzfristige Entlastung von den alltägliche Schrecken mit ideologischer Aufrüstung verband, ist bekannt. Auch die aktuelle Form der Mobilität zur Unterhaltung und Befriedung der Gemüter, die zwar auf höherem Niveau als in den meisten anderen Weltregionen, dennoch ihrerseits existentielle Unwägbarkeiten verunsichern, ist gleichermaßen politisch beabsichtigt. Anders ließe sich nicht erklären, wieso die Kreuzschiffahrt genau wie der Flugverkehr von Treibstoffsteuern befreit ist und überdies dank der Ausflaggung überhaupt keine Steuern bezahlt. Auch wurden im Zuge der ersten großen Ölkrise in den 1970er Jahren technologische Verfahren entwickelt, das bis dahin als Abfallprodukt der Raffinerien ausgesonderte Schweröl in Schiffsmotoren zu verbrennen. So fahren die Kreuzfahrtriesen in ihrem weiß-bunten, Sauberkeit vortäuschenden Dekor mit dem schmutzigsten aller fossilen Brennstoffe, verpesten Luft und Meere, vernichten Ökosysteme und ruinieren die Gesundheit der Menschen.

Daß dies sehenden Auges in Kauf genommen wird, entspringt einem Wachstumszwang, den das dem Kapitalverhältnis innewohnende Diktat, aus Geld mehr Geld zu machen, in den Rang eines unabweislichen Paradigmas der sogenannten Wohlstandsgesellschaft erhebt. Den Klimawandel zu befeuern, obgleich er letztendlich auch die eigenen Lebensvoraussetzungen zerstört, mag absurd anmuten. Doch diese womöglich finale Phase menschheitsgeschichtlicher Entwicklung treibt nur das auf die Spitze, was seit jeher ihr Motor war, nämlich das eigene Überleben zu Lasten des anderen zu sichern. Wenn die Katastrophen des Klimawandels zuallererst jene Teile der Menschheit heimsuchen und vernichten, die aus Sicht der Metropolengesellschaften für überflüssig erachtet werden, birgt dieser forcierte Vernichtungsprozeß wie jede Krise der Kapitalverwertung die Aussicht auf Lösung und neuen Aufschwung - jedoch ausschließlich für immer kleinere Teile gesellschaftlicher Eliten, die längst dabei sind, auch die Zerstörung der Umwelt mittels Zertifikaten zu kommodifizieren. Ihre Ultima ratio ist nicht die Bewältigung der Krise durch die Aufhebung ihrer systemischen Ursachen, sondern aus ihr als Sieger hervorzugehen. Und daß ihre Kriegsmaschinen zu den weltweit größten Verbrauchern fossiler Treibstoffe zählen, sollte dabei nicht außer acht gelassen werden.

Heruntergebrochen auf die Kritik an der Kreuzfahrtbranche und ihrem industrialisierten Massentourismus folgt daraus, daß technologische Innovation das Problem nicht lösen und grüner Kapitalismus kein akzeptabler Ansatz zu dessen Bewältigung sein kann. Es kann nicht darum gehen, mittels etwas weniger schädlichen Versionen noch mehr und noch größere dieser Schiffe zu bauen oder gar zu suggerieren, eine "nachhaltige" Kreuzfahrt könne das Interesse an kostengünstigem Massentourismus mit dem Schutz der Umwelt und der Rettung des Klimas verbinden.


Auslage mit Fotos von Kreuzfahrtblockade - Foto: © 2019 by Schattenblick

Aktivistischer Beitrag zum Thema
Foto: © 2019 by Schattenblick

Blockadeaktion gegen Kreuzfahrtschiff im Kieler Hafen

Auf welche Weise der Protest gegen die Kreuzfahrtindustrie Hand anlegen kann, demonstrieren rund 50 AktivistInnen der Gruppe "Smash Cruiseshit" am Pfingstsonntag in Kiel. Mit einer aufsehenerregenden Blockadeaktion hinderten sie das Kreuzfahrtschiff "Zuiderdam" fast sechs Stunden lang an der Ausfahrt in Richtung Kopenhagen. Sie forderten ein Ende der gesamten Kreuzfahrtbranche und erklärten, es gebe kein ruhiges Hinterland für Klimazerstörer. Kreuzfahrtschiffe trügen zur Erhitzung des Planeten bei. Man wolle den Schadstoffausstoß des Schiffes unterbrechen und auf die Ausbeutung an Bord aufmerksammachen, die aufhören müsse.

Die Aktion hatte zwei Stunden vor dem geplanten Ablegen des Kreuzfahrtschiffes begonnen, indem AktivistInnen mit kleinen Booten vor dem Bug des Schiffes kreuzten. Fünf AktivistInnen besetzten darüber hinaus am Ostseekai einen Kran, zwei von ihnen wollten diesen nicht verlassen und mußten abgeseilt werden. 46 AktivistInnen wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen, gegen sie wurden Strafverfahren wegen des Verdachts der Nötigung, des Widerstands und des Hausfriedensbruchs eingeleitet. Die "Zuiderdam" gehört über eine Tochtergesellschaft zum weltgrößten Kreuzfahrtkonzern Carnival Cruises mit Sitz in den USA. [2] "Smash Cruiseshit" kündigte weitere Aktionen an, die Lokalpolitik reagierte angesichts überregionaler Schlagzeilen überrascht bis verstört. Schleswig-Holsteins Innenminister Hans-Joachim Grote (CDU) kritisierte die Aktion und erklärte, er habe bereits mit Hamburgs Innenminister Andy Grote und Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (beide SPD) darüber gesprochen, wie sich das künftig unterbinden lasse. [3]

"Wahnsinn Kreuzfahrt" - Buchvorstellung und Diskussion

Auf Einladung der "Initiative gegen Kreuzfahrt" in Kiel stellte der Autor und Journalist Wolfgang Meyer-Hentrich aus Köln am 2. Juli im Klingelhörsaal der Christian-Albrechts-Universität sein neu erschienenes Buch "Wahnsinn Kreuzfahrt" [4] vor. Wie er darlegte, beruht das Geschäftsmodell der Kreuzfahrtunternehmen auf Steuervermeidung, Ausbeutung des Personals und dem skrupellosen Umgang mit der Natur. In diesem Jahr werden voraussichtlich 30 Millionen Menschen weltweit eine Kreuzfahrt unternehmen. Kein noch so kleiner Pazifik-Archipel, keine noch so weit entfernte Bucht in der Arktis ist vor ihnen sicher. Und die Branche wächst: Die Auftragsbücher der Werften sind voll, der Trend geht zu Riesenschiffen für bis zu 10.000 Passagiere. Durch die Verklappung von Abfällen und giftigen Abwässern tragen die Kreuzfahrtschiffe zur Ausbreitung von Todeszonen in den Meeren bei. Ihre Abgase schädigen Mensch und Umwelt. Und die Anlaufhäfen ersticken an der Flut von Tagestouristen. Der Autor ging darauf ein, warum die Politik dennoch schärfere Regulierungen scheut und welche Maßnahmen dringend geboten wären, um diesem Unwesen einen Riegel vorzuschieben.

Von einer Aktivistin der "Initiative gegen Kreuzfahrt" befragt, berichtete der Autor im Wechsel von Auszügen aus seinem Buch und freiem Vortrag zunächst über seinen Wandel vom Kreuzfahrtfan zum Kreuzfahrtkritiker. Auf eine erste Weltreise vor 18 Jahren mit einem beglückenden Erleben von Meer, Himmel und Sternen wie auch ferner Länder und deren Bewohnern folgten weitere Kreuzfahrten samt dem Entschluß, als Autor und Journalist darüber zu schreiben. Zu dieser Zeit war der deutsche Kreuzfahrtmarkt noch verschlafen und ein Nischenprodukt im Reisegeschäft, das überwiegend von älteren Leuten wahrgenommen wurde. Die dramatischen Veränderungen, wie wir sie heute erleben, folgten dem Muster des US-amerikanischen Marktes, der vor drei oder vier Jahrzehnten begonnen hatte und in zunehmendem Maße Europa und den Ostpazifik entdeckte. Nachvollziehen läßt sich die Entwicklung der letzten Jahre anhand von Aida, einer 100prozentigen Tochter von Costa und damit von Carnival Cruises, oder von TUI Mein Schiff, wo ebenfalls die Schiffe immer größer, das Publikum immer zahlreicher und die Reisen immer billiger wurden. Kreuzfahrten sind heute in der Regel kein Luxus mehr, sondern Massentourismus. So biete Costa einwöchige Kreuzfahrten für 299 Euro inklusive Vollpension an, was offensichtlich für viele Menschen attraktiv sei.

Es gibt zwei Traditionen von Kreuzfahrt. Zum einen eine lange europäische und deutsche Tradition, die vor etwa 140 Jahren ihren Anfang nahm, als Hapag-Lloyd zu den Pionieren gehörte. Damals konnte sich nur das Großbürgertum solche Reisen mit Kunst, Design, Vorträgen und Konzerten leisten. Zum anderen die Tradition in den USA, wo zu Zeiten der Prohibition Alkohol außerhalb der 12-Meilen-Zone verkauft wurde. Im Gefolge von Unglücken in den 60er Jahren ließ das Interesse nach, bis die Idee, neben Alkohol auch das Glücksspiel aufs Meer zu verlegen, sowie Unterhaltung und Shows zu bieten, ein Wiedererwachen herbeiführte. Das neue Geschäftsmodell - the cruise is the destination - zog die Leute an, und dieser Werbespruch gilt noch immer.

Heute ist Carneval Cruises mit 55 Prozent der Marktführer, gefolgt von Caribbean Cruises mit ca. 30 Prozent. Letztere setzt auf Megaschiffe wie "Harmony of the Seas" und "Symphony of the Seas", mit je 6500 Passagieren die bislang größten Einheiten. Norwegian Cruise Lines liegt bei etwa 11 Prozent, auf MSC entfallen 6 bis 7 Prozent. Wenige Konzerne bestimmen also den Weltmarkt. Der europäische Markt hat sich als gigantische Investition erwiesen, die sehr energieaufwendigen schwimmenden Erlebnisparks und Rummelplätze finden angesichts einer veränderten Mentalität des Publikums enormen Zuspruch, der die bislang vorhanden Kapazitäten der Anbieter übersteigt, was unablässige Schiffsneubauten zur Folge hat.

Je intensiver er sich auch theoretisch damit auseinandergesetzt habe, um so realistischer sei seine Sicht geworden, berichtete der Autor. Sein Buch beinhalte drei Themen: Umweltverschmutzung, Ausbeutung und Massentourismus. Die Idee dazu sei ihm bereits vor etwa vier Jahren gekommen, doch einen Verleger zu finden zunächst nicht einfach gewesen. Als das Buch dann vor wenigen Monaten erschien, habe es ein überraschend großes Medienecho ausgelöst. Es gab Fernseh- und Rundfunksendungen, Zeitungen berichteten darüber. Dies lasse auf ein wachsendes Bedürfnis schließen, sich mit dem Thema Kreuzfahrt kritisch auseinanderzusetzen. Immer mehr Leuten scheint klarzuwerden, daß das Kreuzfahrtunwesen eine Gefahr für Mensch und Natur ist.


Beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wolfgang Meyer-Hentrich
Foto: © 2017 by Schattenblick

Ausbeutung der Besatzung im Bauch des Schiffes

Anhand der Lebensgeschichte eines philippinischen Stewards, den er auf einen Kreuzfahrt kennen- und schätzengelernt hatte, schilderte der Autor die Arbeitsverhältnisse an Bord. Raimond hat sich im Verlauf von 20 Jahren hochgearbeitet, von einer winzigen Kabine mit Stockbetten für vier Mann weit unterhalb der Wasserlinie bis zu einer Einzelkabine mit einem Bullauge knapp darüber. Im Sommer stets auf den gleichen Routen im Mittelmeer, im Herbst und Winter Transatlantikfahrten nach Miami. Wo er auf den Philippinen aufwuchs, gab es kaum Jobs, und wenn doch, waren sie sehr schlecht bezahlt. Mit einem Freund bewarb er sich bei einer Agentur in Manila, bei der Seeleute für Schiffe in aller Welt anheuern. Ihm wurde vorgerechnet: 550 Dollar Grundgehalt plus Überstundenzuschläge plus Trinkgelder bei freier Kost und Logis. Ein dreimonatiger Vorbereitungskurs, der 600 Dollar kostete, die von der Agentur vorgestreckt wurden. Daß sie den gleichen Betrag von der Reederei erhielt, wußte er nicht. Er würde doppelt soviel verdienen wie ein Lehrer auf den Philippinen.

Seine Frau lernte er kennen, als er zum ersten Mal auf Heimaturlaub war. Die Kreuzfahrtschiffe wechselten, aber er wurde immer wieder übernommen. Jahresverträge sind die Regel, niemand hat Anspruch auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Auf dem Schiff ist er krankenversichert, zu Hause nicht. Er ist inzwischen Chefsteward und hat das Team eines ganzen Decks unter sich. Er hat eine Tochter von 15 Jahren und einen neunjährigen Sohn, die er nur selten sieht, da er neun Monate am Stück arbeitet. Dann folgen zwei Monate unbezahlte Pause, die er meistens für einen Heimaturlaub nutzt, bei dem er etwas dazuverdient. Sein großes Ziel: Wenn er genug Geld auf dem Konto hat, will er in seiner Heimatstadt ein Hotel aufmachen. In diesem Metier kennt er sich aus, doch die Zeit läuft ihm davon, da die Immobilienpreise rasant steigen. Das Hotel soll seine Altersversorgung sein, seinen Kindern soll es einmal besser gehen.

Das Geschäftsmodell der Reedereien beruht darauf, daß die Reisen billig sind, was nur mit niedrig bezahlten Arbeitskräften funktioniert, die zwischen 550 und 950 Dollar verdienen. Es werden bevorzugt Philippiner beschäftigt, die als gut ausgebildete Seeleute gelten und 70 Stunden die Woche ohne freien Tage arbeiten müssen. Die Hierarchie der Arbeitskräfte reicht beispielsweise in der Küche mit 160 Leuten vom Chefkoch an der Spitze bis hinunter zum Tellerwäscher oder im Servicebereich bis zu den Abräumern mit einer entsprechenden Staffelung der Löhne. Die großen Konzerne bieten den Kunden an, daß die Trinkgelder im Reisepreis enthalten seien. Keiner weiß, ob diese Trinkgeldpauschalen überhaupt existieren, und falls doch werden daraus oftmals die Reinigung der Arbeitskleidung oder Landgänge bezahlt. Die Beschäftigten haben auch kein WLAN wie die Passagiere, sondern suchen bei Landgängen WLAN-Spots auf, um nach Hause telefonieren zu können.

Diese großen Konzerne zahlen nirgendwo in der Welt Steuern, da sie unter Billigflaggen fahren. Aida fährt unter der Flagge Italiens, das wie Malta und Zypern in Europa oder Liberia, Panama, die Bermudas oder die Marshall Islands günstigste Bedingungen vorhält - laxe Vorschriften zu Sicherheit und Umweltstandards, keine Steuern. Die Eintragungsgebühr landet in der Staatskasse, also eher nicht bei der Bevölkerung. Auf dem Meer gelten wenig Rechte, gewerkschaftliche Forderungen lassen sich so gut wie gar nicht durchsetzen. Eine Servicekraft müßte 2000 Jahre arbeiten, ohne Geld auszugeben, um das zu erhalten, was der Vorstandsvorsitzende von Carneval Cruises in einem Jahr einstreicht, brachte der Autor die in der Branche herrschenden Verhältnisse anschaulich auf den Punkt.


Drei Bände des Buches 'Wahnsinn Kreuzfahrt' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Schadstoffausstoß schädigt Menschen und Umwelt

Der billige und steuerfreie Standardtreibstoff ist bis heute Schweröl, das schmutzigste Produkt der Raffinerie. Aus den Schornsteinen kommen im wesentlichen vier Substanzen, welche die Umwelt schädigen: Kohlendioxid, Schwefeldioxid, Stickstoffoxid und Rußpartikel. Die EU-Kommission geht davon aus, daß in Europa etwa 60.000 Menschen im Jahr Opfer der Schiffsabgase auf dem Meer werden. Die Abgase sind schädlich für die Meere wie auch die Gesundheit der Menschen, zumal sie tief ins Hinterland verweht werden, sich dort mit Ammoniak aus der Landwirtschaft verbinden und dadurch besonders aggressiv werden. Selbst in weit entfernten Städten wie Prag oder Bamberg werden sie noch gemessen.

Der Schiffsrumpf wird unterhalb der Wasserlinie von Seepocken, Muscheln und anderen Organismen bewachsen, wodurch sich die Fahrt verlangsamt und der Kraftstoffverbrauch erhöht, so daß die Mehrkosten bis zu 30 Prozent betragen. Dagegen werden hochgiftige, meist biozidhaltige Anstriche eingesetzt, die permanent giftige Stoffe ins Wasser abgeben, die von Mikroorganismen aufgenommen werden und so in die Nahrungsketten gelangen. Forschung und Industrie arbeiten zwar an ungiftigen Anti-Fouling-Beschichtungen, aber die Politik tut sich schwer, Vorgaben zu machen. Bis 2027 will die EU die Umweltrisiken der gängigen biozidhaltigen Produkte lediglich prüfen und erst in der Folge Regulierungen auf den Weg bringen.

Tief unten im Vorschiff sammelt sich Bilgenwasser, das mit Maschinenöl und Kraftstoffresten verunreinigt auch Kieljauche genannt wird. Das Bilgenwasser soll in Tanks gepumpt und in den Häfen sachgerecht entsorgt werden. Viele Schiffe sparen sich diese Kosten jedoch und leiten die schmutzige Brühe heimlich ins Meer. Ein Kreuzfahrtpassagier verbraucht durchschnittlich zwischen 200 und 300 Liter Wasser pro Tag. Das Wasser kommt aus dem Meer und wird durch energieaufwendige Entsalzungsanlagen in Trinkwasser umgewandelt, das nach dem Gebrauch ins Meer zurückgeleitet wird. Laut den Bestimmungen der Internationalen Schiffahrtsorganisation dürfen diese Abwässer nur außerhalb der 12-Meilen-Zone abgeleitet werden. Die Kläranlagen auf den Schiffen sind zwar in der Regel auf dem Niveau kommunaler Einrichtungen an Land, doch enthalten die Abwässern in beiden Fällen viele Mikropartikel und Medikamentenreste, die nicht herausgeklärt werden.

Würden die Restaurants nur zu bestimmten Zeiten öffnen, müßten danach alle übriggebliebenen Speisen sofort vernichtet werden. Deshalb gibt es 24-Stunden-Restaurants mit Dauerbüffets, in denen die Speisen solange liegenblieben, bis sie weitgehend verbraucht sind. Es handelt sich also um keine kundenfreundliche Praxis, sondern senkt Arbeitsaufwand und Kosten der Betreiber. Dennoch fallen beträchtliche Lebensmittelreste an. Auf den großen Schiffen werden rund 30 Tonnen Lebensmittel pro Woche weggeworfen und landen im Wasser. Dies trägt zur Eutrophierung der Meere bei, da diese Nährstoffe das Algenwachstum fördern und den Sauerstoffgehalt vermindern. Dieser hat weltweit binnen 40 Jahren um 2 Prozent abgenommen, was als dramatischer Rückgang einzustufen ist. Es bilden sich Todeszonen ohne Sauerstoff und biologisches Leben heraus, von denen es inzwischen weltweit etwa 500 gibt. Diese Zonen sind im wesentlichen menschenverursacht, indem vor allem Nährstoffe über die Flüsse ins Meer geleitet werden.

Die Kreuzfahrtschiffe dürfen vieles legal ins Meer ableiten und verklappen zudem eine Menge illegal, wobei die Aufdeckung von Verstößen die Hauptschwachstelle bleibt. Die Täter gehen mit hohem technischen Vertuschungsaufwand zu Werke. So machte ein aussagebereiter Insider auf ein heimliches Abflußrohr (magic pipe) aufmerksam, mit dem die vorgeschriebenen Sensoren und Meßgeräte umgangen werden. Ein US-Gericht verurteilte Carneval Cruises zu einer Geldstrafe und in der Folge dazu, den Behörden für alle seine Schiffe fünf Jahre lang detaillierte Entsorgungsunterlagen zu übermitteln, wovon 78 Schiffe betroffen waren. Dasselbe Unternehmen wurde in Florida wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen zu weiteren 20 Millionen Dollar verurteilt. Die Auflagen wurden verschärft, das gesamte Management mußte vor Gericht erscheinen und wurde für den Fall einer Verletzung der Auflagen mit Gefängnisstrafen bedroht.


Wolfgang Meyer-Hentrich - Foto: © 2019 by Schattenblick

Vom Kreuzfahrtfan zum Kreuzfahrtkritiker ...
Foto: © 2019 by Schattenblick

Gravierende Folgen für die heimgesuchten Landeplätze

Für die Städte und Orte, die von Kreuzfahrtschiffen angelaufen werden, häufen sich die negativen Auswirkungen. Umweltschäden wie etwa in Venedig, wo die Fundamente der Stadt in Gefahr sind, aber auch die Probleme Dubrovniks oder Barcelonas werden inzwischen weithin von den Medien aufgegriffen. Es sind jedoch nicht nur große Häfen, sondern wie beispielsweise mit Akureyri in Island auch kleine Siedlungen von etwa 1200 Einwohnern ein Ziel. Dort legen von Frühjahr bis Herbst jeden Tag zwei, drei Schiffe an, deren Menschenmassen sich über die Destination ergießen. Aida bietet Erlebnisfahrten in der unberührten Natur mit Allradjeeps an, ohne über den Widersinn dieser Offerte zu stolpern, auch in Grönland gibt es Dörfer, bei denen täglich Kreuzfahrtschiffe anlegen. Oft bringen die Schiffe neben ungeheurem Lärm sogar ihre eigenen Fremdenführer mit, so daß die Einheimischen selbst davon nicht profitieren.

In den überwiegenden Fällen kann man davon ausgehen, daß die an Bord rundum versorgten Passagiere beim Landgang nicht viel Geld ausgeben. Zwar boomen Bus- und Taxiunternehmen, Hotels profitieren in gewissem Umfang bei der An- und Abreise, Souvenierverkäufer machen ihren Schnitt. Insgesamt gesehen übersteigen jedoch die Verluste mögliche Gewinne. Führender deutscher Hafen mit knapp 200 Anläufen im Jahr ist Warnemünde, das jedoch für die Touristen nicht von Belang ist, die von dort aus nach Berlin gekarrt werden. Kiel ist mit rund 190 Anläufen vor allem An- und Abfahrthafen, die Stadt selbst wird eher wenig besucht. Das an zweiter Stelle rangierende Hamburg wirbt ebenfalls massiv mit der Aussicht, damit käme viel Geld in die Stadt, was jedoch nicht zutrifft. Stellte man sämtliche Auswirkungen in Rechnung, bringen die Kreuzfahrtschiffe mehr Probleme als Positives in die Hafenstädte, zumal deren Luftqualität dadurch massiv beeinträchtigt wird.

Kreuzfahrtunternehmen setzen auf Greenwashing

Die Kritik an der Kreuzfahrt nahm zunächst in den USA Fahrt auf, als erste Publikationen wie die des kanadischen Professors Ross A. Klein (2002) erschienen. Dieser wies dann 2007 gemeinsam mit Friends of the Earth in einer Studie nach, wie häufig Kreuzfahrtschiffe vor amerikanischen Küsten gegen Umweltauflagen verstoßen und welche umweltschädlichen Emissionen von ihnen ausgehen. Die Vereinigung der internationalen Kreuzfahrtunternehmen CLIA nannte die Vorwürfe subjektiv, unwissenschaftlich und irreführend. Aber der Geist war aus der Flasche, immer häufiger berichteten US-Medien über die negativen Seiten des Kreuzfahrttourismus. Die Unternehmen reagierten schließlich mit einer Pressekampagne, mit der sie auf die wirtschaftliche Bedeutung der Branche hinwiesen, und schickten ihre Lobbyisten an die politische Front, die vor Abbau von Arbeitsplätzen und Verlusten für die US-Wirtschaft warnten. Zeitgleich wurde in großem Stil Greenwashing betrieben, um das Umweltimage der Branche aufzupolieren. Die einen warben mit Recycling von Speiseöl in der Bordküche, andere mit Strom aus dem öffentlichen Netz in den Häfen, wieder andere mit der Sammlung von Abfällen in Containern an Bord, ungiftigen Anti-Fouling-Anstrichen oder der ausschließlichen Verwendung von Meeresfrüchten aus nachhaltiger Züchtung in den Restaurants.

Es häuften sich fragwürdige Preise und Auszeichnungen innerhalb der Branche für vorbildlichen Umweltschutz. Auch bei der Hamburger Cruise Week werden Umwelt- und andere Preise verliehen. Letztjähriger Preisträger war ein Schiff mit einer zweistöckigen Go-Kart-Bahn. Die im Bau befindliche "Mardi Gras" kann sogar mit einer Achterbahn an Bord aufwarten. Im Kontext dieser Werbeoffensive gibt jede Menge von Hochglanzmagazinen zur Kreuzfahrt, die vor allem von den Inseraten der Branche leben. Wenngleich festzuhalten bleibt, daß ohne den Druck von Umweltorganisationen wie NABU in Deutschland überhaupt nichts passiert wäre, laufen die Reaktionen der Branche, die aus der potentiell geschäftsschädigenden Schmuddelecke heraus will, doch auf ein großes Täuschungsmanöver der Öffentlichkeit hinaus. Die Kreuzfahrtunternehmer seien mit allen Wassern gewaschen, modern, dynamisch, interaktiv, zukunftsorientiert und kosmopolitisch, dezidierte Anhänger des Globalismus.

Früher wollten sie mit ihren Schiffen am liebsten auf den Rathausvorplatz fahren, inzwischen haben sie gelernt und ihre Strategie geändert: Out of sight, out of mind - etwas ablandig ist man weniger im Schußfeld. Diese neue Strategie laufe unter dem Motto "do like the locals" - man geht nicht mehr in die überlaufenen Zentren, sondern in die Vororte, um dort lokale Sehenswürdigkeiten zu betrachten. Schließlich seien die Passagiere nicht mehr glücklich, wenn sie mit Zehntausend anderen zusammentreffen und durch dieselben Gassen getrieben werden.

Technische Innovationen lösen das Problem nicht

In der Diskussion um die Schiffe der Zukunft spielt LNG (Liquid Natural Gas) eine zentrale Rolle, weil es deutlich emissionsärmer ist. Das LNG stammt jedoch vorwiegend aus der US-amerikanischen Frackingindustrie mit ihren verheerenden Umweltschäden. LNG ist derzeit relativ preiswert etwa auf dem Niveau von Schiffsdiesel. Das erste Schiff mit LNG ist die Aida Nova mit 6500 Passagieren. Dafür ist jedoch eine Infrastruktur erforderlich, die erst noch aufgebaut wird. Das Schiff kreuzt vor den Kanaren und muß zum Tanken nach Barcelona fahren, um dann wieder 14 Tage unterwegs sein zu können. Grundsätzlich bleibt einzuwenden, daß auch LNG ein fossiler Brennstoff ist. Es gibt sogar einen atomar betrieben russischen Eisbrecher, der im Sommer als Kreuzfahrtschiff benutzt wird. Ab 25.000 Dollar kann man eine Reise zum Nordpol kaufen, das Schiff ist immer ausgebucht. Amerikanische Flugzeugträger und deutsche U-Boote fahren mit Wasserstoff, doch ist die Entwicklung noch weit davon entfernt, im großen Stil umgesetzt zu werden.

Auch von den vielgepriesenen Landstromanlagen wie in Hamburg und künftig in Kiel hält der Autor nichts. In Hamburg kostet die Kilowattstunde 27 oder 28 Cent, doch wird die Anlage kaum benutzt, weil die Schiffe ihren eigenen Strom für etwa 8 Cent produzieren können. In Hamburg wird das Angebot nur von Aida aus Prestigegründen wahrgenommen. Die Unternehmen müßten schon gezwungen werden, Landstrom in Anspruch zu nehmen, wie das etwa in Miami der Fall ist, der Kreuzfahrtmetropole der Welt. Die deutschen Politiker sehen in der Kreuzfahrtindustrie immer noch etwas Positives und freuen sich, wenn die Schiffe in ihre Häfen kommen, weshalb ein Umdenken dringend erforderlich sei.


Veranstaltungsplakat - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick

Druck von unten bleibt das Mittel der Widerstands

Problematisch sei grundsätzlich, daß die Unternehmen schwer zu fassen sind. Zwar hätten Gerichte in den USA Urteile gegen sie gefällt, doch sei auf Dauer nichts zu erwarten, da die Reedereien hohe Summen an die Parteien spenden. Die meisten Chancen sehe er noch bei lokalen Politikern in den betroffenen Städten wie Amsterdam oder ansatzweise auch in Dubrovnik. Venedig sei insofern ein ganz schwieriges Thema, als Carneval Cruises die Häfen von Triest, Genua, Civitavecchia, Neapel und eben auch Venedig sowie den dortigen Flughafen gekauft hat. Die Politik müßte also über Rückkauf oder Enteignung nachdenken. Der Hafen in Kiel sei in Besitz der Stadt und dürfe keinesfalls privatisiert werden.

Er sei von den Grünen enttäuscht, so der Autor. Sven Giegold, der wieder ins Europaparlament gewählt wurde, sagte zu diesem Thema einmal, man solle den Leuten den Spaß nicht nehmen. Die Grünen wägen offenbar opportunistisch ab, womit sie Wählerstimmen gewinnen oder verlieren. Deshalb traue er ihnen nicht über den Weg. Daher sei ein Druck von der Basis auch in diese Richtung nicht falsch, was natürlich auch die anderen Parteien betreffe. Wie die Moderatorin aus eigenem Erleben hinzufügte, hätten sich die Grünen in Kiel jahrelang nicht zu dieser Frage geäußert. Erst nach den größeren Protesten und Aktionen folgte ein Beschluß, künftig eine "ökologische" Kreuzfahrt fördern, was immer das sein soll.

Eine ökologische Massenkreuzfahrt sei ein Widerspruch in sich, befand auch der Referent. Ein Schiff mit 6500 Passagieren könne weder nachhaltig noch umweltfreundlich sein. Kleinere Schiffe wären vielleicht etwas weniger schädlich, aber in ihrer Vielzahl keine Alternative. Unten die Todeszonen, oben die Riesenschiffe mit Achterbahn und Menschen, die sich amüsieren, denen es egal ist, was unter ihnen geschieht. Man müsse viel mehr zum Schutz der Ozeane tun, die durch Nährstoffeintrag, Plastik, Sauerstoffschwund und Überfischung extrem gefährdet sind. Zu alledem kommen noch die Kreuzfahrtschiffe.

Es sei ein Tanz auf den Todeszonen, auch was die Sicherheit betrifft. Eine große Katastrophe sei nur eine Frage der Zeit. Wie sollen 6500 Menschen in stürmischer See evakuiert werden, wenn der Strom ausgefallen ist, wenn Kinder, kranke und behinderte Menschen von Bord gebracht werden müssen? Zudem gibt es nicht genug Rettungsboote für alle Passagiere und Besatzungsmitglieder. Zwar gibt es Rettungsmittel in Form aufblasbarer Rettungsinseln, in die man durch Röhren geleitet werden soll, was Experten jedoch bei schwerer See für unmöglich halten. Die Fähre "Estonia" ging damals Ende September unter, die Wassertemperatur betrug 14 Grad - trotzdem sind Menschen in den Rettungsinseln erfroren.

Oft werde die Frage gestellt, ob denn nur die Reichen Kreuzfahrten machen dürften. Wer Qualität haben will, müßte normalerweise auch mehr bezahlen, so der Autor. Daß Discounter preiswert sind, hat seinen Preis, auch wenn dieser für den Konsumenten nicht unmittelbar zu erkennen ist. Den Preis der Kreuzfahrten zahlen die ausgebeuteten Beschäftigten, den zahlt die Natur. Ein "fairer Preis" würde nicht zuletzt bedeuten, daß die Unternehmen Steuern bezahlen, zumal sie immense Profite machen. Ein Schiff, das 800 oder 900 Millionen Dollar kostet, refinanziere sich binnen vier Jahren.

Zu berücksichtigen sei in dieser Kontroverse insbesondere, daß die Zukunftsmärkte der Branche im Pazifik liegen. Die chinesische Genting-Gruppe, der NCL (Norwegian Cruise Lines) überwiegend gehört, hat in Rostock ein Schiff in Auftrag gegeben, das 10.000 Passagiere aufnehmen und vor China eingesetzt werden soll, einem Land mit 1,3 Milliarden Menschen, davon 30 bis 40 Prozent in mittelständischen Verhältnissen, die sich solche Reisen leisten können. Hinzu kommen Indien, Brasilien, Argentinien und Rußland, während Europa für die großen Konzerne ein Übergangsmodell sei. Es gab bislang nur vier Werften in Europa, die solche Schiffe bauen können. Die Chinesen haben den Werftenverbund Mecklenburg-Vorpommern (MV) gekauft, der inzwischen eine 100prozentige Tochter der Genting-Gruppe ist, die sich auf diese Weise das Know how verschafft. Der Kauf wurde in dem Bundesland als Riesenerfolg gefeiert: 4500 Arbeitsplätze gerettet, die Kanzlerin war da, der Ministerpräsident auch.

Sind Aktionen wie die Blockade des Kreuzfahrtschiffs in Kiel gerechtfertigt und notwendig? Wolfgang Meyer-Hentrich bejaht dies und erklärt, daß diese Unternehmen nur auf Druck reagieren, ob dieser nun von Initiativen oder auch von der Politik ausgeht. Um diesen Druck zu entfalten seien solche Initiativen hervorragend geeignet, und falls sie sich in einer Grauzone der Legalität bewegten, sei auch das in Ordnung. Er vergaß nicht, darauf hinzuweisen, daß am 17. August gleich vier solcher Schiffe in Kiel anlegen. Je öffentlichkeitswirksamer die Aktion, desto wahrscheinlicher sei eine Reaktion der Politik.


Fußnoten:


[1] www.focus.de/politik/deutschland/joschka-fischer-kostet-sonst-bis-zu-36-000-euro-reederei-schenkt-ex-aussenminister-kreuzfahrt_id_10303196.html

[2] www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/klima-aktivisten-blockieren-kreuzfahrtschiff-in-kiel-16229963.html

[3] www.shz.de/regionales/newsticker-nord/grote-kritisiert-protest-gegen-kreuzfahrtschiffe-in-kiel-id24239312.html

[4] Wolfgang Meyer-Hentrich: Wahnsinn Kreuzfahrt - Gefahr für Natur und Mensch, Ch. Links Verlag Berlin 2019, 248 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-96289-031-5


10. Juli 2019


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