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INTERVIEW/024: Megacities - Projekt interdisziplinär gelungen (SB)


Interview mit Prof. Dr. Susan M. Walcott und Prof. Dr. Boon-Thong Lee am 16. April 2013 in Bonn



Im Anschluß an das zweitägige Abschlußkolloquium des DFG-Schwerpunktprogramms "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" vom 14. bis 16. April im Wissenschaftszentrum Bonn hatte der Schattenblick die Gelegenheit, ein Gespräch mit zwei wissenschaftlichen Evaluatoren dieses Megaprojekts zu führen.
Prof. Dr. Susan M. Walcott [1] ist Historikerin und Professorin für Geographie im Fachbereich Geographie der Universität Greensboro von North Carolina in den USA. Sie befaßt sich schwerpunktmäßig mit Fragen der urbanen Entwicklung, Wirtschafts- und Industriegeographie sowohl in den USA als auch in Asien, mit besonderem Schwerpunkt auf China, und spricht fließend Chinesisch.
Prof. Dr. Boon-Thong Lee ist Professor für Geographie und lehrt und forscht an der Nilai University in Nilai, Malaysia. Er befaßt sich mit Stadtgeographie, sein Spezialgebiet sind die Megacities. Darüber hinaus ist er Direktor für akademische Qualität und Standards der Nilai University. Er ist Mitglied des 2005 gegründeten deutsch-asiatischen 'Forum for Urban Future in Southeast Asia' [2]. Wissenschaftliche Kontakte nach Deutschland bestanden schon weit vor dieser Zeit.

Sitzend im Portrait - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Boon-Thong Lee
Foto: © 2013 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Auf der Konferenz haben wir viel über Bangladesch und China gehört. Professor Lee, Sie kommen aus einem ganz anderen Land, aus Malaysia, und wir wären sehr daran interessiert, etwas über Ihre Rolle in diesem Projekt zu erfahren, über Ihren Standpunkt zum Thema Magacities und auch etwas über die Lage in Ihrem Land.

Prof. Dr. Boon-Thong Lee (BL): Ich bin Evaluator in diesem Projekt. Das heißt mit anderen Worten, ich nehme an keinem der beteiligten Forschungsprojekte in Bangladesch oder in China teil. Wir sehen uns die vorliegenden Projekte an, verfassen Berichte und liefern unsere Ideen dazu, das ist alles. Damit ist meine Rolle im Wesentlichen beschrieben.

SB: Sie sind also auch Wissenschaftler.

BL: Megacities ist mein Fachgebiet. Ich habe meine ganze akademische Laufbahn über in diesem Bereich gearbeitet. Das bedeutet, daß ich dreieinhalb Jahrzehnte meines Lebens damit verbracht habe, Städte zu studieren. Ich denke, daß Professor Frauke Kraas unter anderem durch meine Publikationen von mir erfahren und mich daraufhin zu diesem Projekt hinzugezogen hat.

SB: Was ist Ihr Eindruck von diesem zweitägigen Treffen?

BL: Ich möchte gern eines vorausschicken: Es war eine der klügsten Entscheidungen, die je von der DFG getroffen wurden, dieses Projekt zu unterstützen. Sie haben bereits einiges darüber erfahren. Aus meiner Sicht als Außenstehender, als Malaysier fällt mir an der Zusammenarbeit und Vernetzung Deutschlands, Chinas und Bangladeschs sehr positiv auf, daß sie die Auffassung und den Umgang unterstützen, daß die Studierenden eine Gemeinschaft bilden. Sie zeigen einander sehr viel Respekt und haben voneinander gelernt. Ich bin der Meinung, daß sich die Förderung wirklich gelohnt hat, es war jeden einzelnen Cent wert. Ich war die vergangenen sechs, sieben Jahre mit dabei, und die Diskussionen haben mir sehr viel Freude gemacht. Ich habe die Souveränität und Reife der Gespräche sehen können und daß junge Menschen, junge Studierende davon profitiert haben. Und ich denke, es ist ein enormer Erfolg.

In meinem Land erhalten Forscher auch manchmal Fördergelder, aber es gibt nicht dieselbe Einsatzbereitschaft und Leidenschaft. Hier sind die deutschen Professoren ungeheuer engagiert und leidenschaftlich bei der Sache, und das übertrug sich auf die Wissenschaftler und Studierenden aus Bangladesch und aus China. Sie haben es aufgegriffen. Die Führungskultur, die von den deutschen Professoren vorgelebt wurde, war aus meiner Sicht hervorragend. Ich komme aus Malaysia, das früher britisch annektiert war. Wenn wir also über die Entwicklung und Geographie meines Landes, über mein Thema reden, haben wir es viel mit dem anglo-amerikanischen Einfluß beziehungsweise mehr mit anglo, also dem britischen Einfluß zu tun. Doch in letzter Zeit fällt mir als Hochschulangehöriger und -lehrender auf, daß die Deutschen mehr in den Vordergrund treten. Und ich denke, daß es gut für Deutschland, für die deutschen Professoren und Akademiker ist, daß sie jetzt in der Lage sind, dem asiatischen Kontinent die Hand zu reichen. Ich finde das großartig. Ich bin sehr beeindruckt von der Einsatzbereitschaft, der Leidenschaftlichkeit und dem hohen Diskussionsniveau, das sich nicht nur in der Sammlung empirischer Daten erschöpft. Ich habe es in der Vergangenheit vielfach erlebt, daß englische, europäische, britische Professoren hauptsächlich kamen, um Daten zu sammeln, und dann unverzüglich zurückgekehrt sind. Aber das hier ist etwas anderes. Man hat gemeinsam mit Bangladeschern und Chinesen Ideen, Paradigmen und Theorien entwickelt, und das ist ganz hervorragend. Es ist ein wunderbarer und großartiger Beitrag zur akademischen Forschung.

SB: Ich hatte vorhin ein Gespräch mit Professor Kraas, und sie erzählte mir, daß sie ein Interesse daran hatte, das ganze Projekt nicht von oben nach unten zu dirigieren, sondern auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Was anfangs viele Probleme brachte, sich aber auf lange Sicht sehr gelohnt hat. Ich als Außenstehender hatte den Eindruck, eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern aus verschiedenen Bereichen und Ländern zu treffen, junge und ältere, die auf der gleichen Ebene zusammenarbeiten, was ich sehr beeindruckend fand. Und das ist sicherlich auch die Handschrift von Prof. Kraas und ihrem Team. Ich hatte auch den Eindruck, daß es ein Weg ist, Menschen zusammenzubringen. Sie hat mir darüber hinaus erzählt, daß es so ziemlich das erste Mal war, daß Wissenschaftler aus Bangladesch und China in der Lage waren, zusammenzuarbeiten - nicht auf direkte Weise, sondern durch den Umweg über Deutschland.

BL: Ja. (lacht)

SB: Das ist sehr interessant. Normalerweise hat man das Gefühl, daß Deutschland eines der Länder ist, die entweder Kolonien besaßen oder sich als führende Nationen einer "Dritten Welt" oder den Entwicklungsländern gegenüber betrachten. Ich hatte den Eindruck, daß das ein Beispiel dafür ist, daß Menschen aus dem Westen sich auch anders verhalten können. Könnten Sie dem zustimmen?

BL: Ja, genau. Das ist genau das, was ich gerade eben versuchte zu sagen. Ich denke, daß die deutschen Akademiker nicht mit der Mentalität einer weißen Überlegenheit daherkommen. Die Formulierung 'auf Augenhöhe' umschreibt es hervorragend, und ich würde den Begriff Respekt verwenden: Es gibt eine gegenseitige Achtung und gegenseitige Kollegialität. Man hat nicht einfach die Haltung 'Ich weiß mehr als du' oder 'Meine Universität ist viel älter als deine', nein, sie arbeiten zusammen und sagen 'Ich kann von dir lernen, und du kannst von mir lernen'. Das, denke ich, schafft ein sehr grundlegendes Fundament für einen wirklichen akademischen Austausch und eine Forschungszusammenarbeit.

Portrait im Halbprofil - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Susan M. Walcott
Foto: © 2013 by Schattenblick

Susan M. Walcott (SW): Auch mit den Studenten. Das hier sind nicht Professoren, die sagen, du bist nur ein Student, sondern sie verhalten sich wirklich im besten Sinne einer Meritokratie [3]: Ich interessiere mich für deine Ideen. Was hast du gesehen, wie denkst du darüber? In dieser Weise ist das tatsächlich auch in der akademischen Welt wirklich selten. Ich könnte nicht viele weitere Fälle nennen. So kommt es, daß beispielsweise dann ein Professor aus Bangladesch und ein chinesischer Student zusammenarbeiten und so weiter. Es war wirklich ein Teilen von Ideen und Erfahrungen in gegenseitiger Wertschätzung. Und ich denke, Dr. Lee und ich sind die zwei Evaluatoren, die zu jedem dieser Treffen gekommen sind, weil wir großes Interesse an dem haben, was hier unternommen wurde. Die Probleme, die sie untersucht haben, sind von Bedeutung und die Art und Weise, wie es getan wurde, gleichermaßen. Und das haben auch die Leute hier gesagt: Die Ergebnisse waren sehr wichtig, aber auch die Methode.

BL: Hat Professor Kraas Ihnen etwas über ihre Verbindung zur Southeast Asian Forum Gruppe [2] erzählt?

SB: Nein, eigentlich nicht.

BL: Dann lassen Sie mich es Ihnen sagen, so begann mein Kontakt mit ihr. Das war vor langer Zeit, im Jahr 2005. Sie rief ein Forum für südostasiatische Geographen ins Leben. Das Geld, die Förderung kommt vom DAAD, aber wir haben auch mit allen ostasiatischen Ländern zweimal im Jahr ein Treffen. Und auf dieser Basis haben wir festgestellt: Die deutschen Professoren sind ernsthaft und kompetent. Sie sind nicht nur eine gute Hilfe für die jüngeren Forscher, sondern sorgen auch für eine Vernetzung nicht nur Deutschlands mit den südostasiatischen Ländern, sondern auch zwischen den Ländern Südostasiens. Und von daher kennen wir viele südostasiatische Geographen, die sagen, daß Professor Kraas das richtige Fundament für die Zusammenarbeit gelegt hat.

SB: Sie sind seit vielen Jahren Experte für Megacities, wie Sie mir erzählt haben. Könnten Sie vielleicht für unsere Leser einmal erklären, warum Megacities in der heutigen Welt so wichtig sind?

BL: Die Antwort kennen Sie möglicherweise schon, so würde ich es gern einmal aus der Perspektive Malaysias schildern: In der Vergangenheit lebten bei uns Dreiviertel der Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Urplötzlich seit den 70er, 80er Jahren, seit der Globalisierung sind die Menschen in Scharen Richtung Stadt geströmt. Ich spreche über den südostasiatischen Kontext, der anders ist als der in Bangladesch und in China, wo es sich um wirklich riesige Städte handelt. Wir sprechen hier über 4 Millionen, wenn es hoch kommt 10 Millionen im Falle von Djakarta oder Bangkok. Aber sehen Sie, es ist so wichtig, weil wir Städte haben, die sich mitten in der Entwicklung befinden. Wir haben möglicherweise nicht die Expertise und nicht die finanziellen Mittel, die Städte wohnlich zu machen. Und weil diese Migration vom Land so plötzlich und auf einen Schlag stattgefunden hat, gibt es in unseren Städten viele Probleme. Verkehrsstaus zum Beispiel, Bangkok ist dafür sehr bekannt, und sogar in Kuala Lumpur gibt es das: Jedesmal wenn es regnet, gibt es eine Blitzflut, und wir stecken in einem Stau fest. Das sind also die Probleme, mit denen wir es zu tun haben. Und durch diesen umfangreichen Ideenaustausch, durch ein Symposium wie dieses können wir einige dieser Ideen langsam umsetzen. Natürlich ist eine wichtige Frage, wie sie zur politischen Umsetzung gebracht werden können. Das steht noch auf einem ganz anderen Blatt.

SB: Das ist natürlich ein Problem in sich. Heute wurden viele interessante Ideen vorgetragen, wie die Gemeinschaft der Wissenschaftler möglicherweise einen Wandel bewirken könnte, weil es jetzt ein Netzwerk von Menschen gibt, die seit langer Zeit zusammenarbeiten und die vielleicht eine Umsetzung in breitere Räume bewirken könnten. Deutlich wurde auch, daß es sehr schwierig sein wird, Regierungen und politische Entscheidungsträger dahingehend zu beeinflussen, daß sie Veränderungen herbeiführen.

SW: Allein schon das Ausmaß dieses Projekts, und es ist eines von drei verschiedenen Megacities-Projekten, die von der deutschen Regierung gefördert wurden, eines der zwei großen. Darüber hinaus sind diese Probleme wie Gesundheit, Migration, Umwelt und so weiter nicht allein der sich entwickelnden Welt vorbehalten. Ich lebe in Amerika, ich komme aus den USA, und wir haben solche Probleme in unseren Innenstädten auch. Vielleicht nicht genau dieselben. Und die Herangehensweise an das Problem: Wie mißt man das, wie bekommt man Zugang zu Unternehmen, zu Menschen, zu den Mitteln, die Menschen benutzen. Daß man in der Lage ist, über 16 unterschiedliche Disziplinen hinweg zu sprechen, ergibt hoffentlich eine Sichtbarkeit. Zudem werden viele der veröffentlichten Artikel über das Internet zu erreichen sein. Wenn also ein Politiker, Sachbearbeiter oder ein Beratergremium nach einem Schlüsselwort googled, wird er etwas finden, das sich mit diesen Problemen befaßt und für sich gesehen schon sehr umfassend sind. Ich halte es also für eine großartige Sache, daß die deutsche Regierung diese Forschung in der Breite mit so vielen verschiedenen Ländern aufgebaut hat.

SB: Ich halte es für eine sehr bedeutsame Entwicklung der heutigen Welt, daß Menschen in die Städte ziehen. Die riesigen Megacities, die in Lateinamerika, in Asien, in aller Welt entstehen, sind möglicherweise eine Erscheinung von Armut, Klimawandel und fehlender sozialer Entwicklung. So könnte man es auch als ein Problem der gesamten Menschheit sehen.

SW: Ja. Wenn wir nach Deutschland kommen, gibt es als erstes immer eine sehr interessante Rundfahrt, bevor das eigentliche Treffen beginnt. So trafen wir uns beispielsweise einmal in Berlin und haben dort eine Tour durch beide Teile Berlins gemacht. Wir konnten dort in Berlin die informellen Siedlungen sehen, die Migration und was damit verbunden ist. Also ja: Es ist nicht allein das Problem der sich entwickelnden Welt, es ist eine Situation, in der sich die Menschheit allgemein befindet.

SB: Da stimme ich Ihnen zu. Das gleiche findet bei uns statt, wenn auch in sehr geringem Ausmaß verglichen mit den Problemen in Ihrem Land, in Malaysia oder noch größeren in Bangladesch.

BL: Genau. Ich meine, es gibt noch zwei wichtige Faktoren: Zum einen haben wir nicht die finanzielle Kapazität, die Probleme zu lösen, weil das Phänomen sehr plötzlich aufgetreten ist. Im Westen hingegen, in Deutschland war es ein langsamer, allmählicher Prozeß. Und zum anderen denke ich: Ob wir es zugeben mögen oder nicht, haben die meisten Länder in Südostasien ein gewisses Maß an Korruption. Es ist mir ein wenig peinlich, das zu sagen, aber das gibt es auch in Malaysia - gut, ich verschließe davor nicht die Augen -, und deshalb ist der Wille, das Problem anzugehen manchmal vielleicht nicht vorhanden. Oder er ist sogar da, aber wann immer es eine politische Einflußnahme gibt, wird das Ganze verzögert. So akkumulieren die Probleme. Darum ist das folgende so wichtig für uns in unserer Lage: schnelle Taten, sauberes Regieren und gut durchdachte Ideen. Und die Zusammenarbeit im Bereich der Forschung beispielsweise mit Deutschland wird für die Gestaltung unserer Politik eine sehr wertvolle Hilfe sein.

SW: Und es handelt sich hier wirklich um Forschung an der Basis, nicht von oben her. Sie haben sich die Dinge angesehen, die das alltägliche Leben ganz gewöhnlicher Menschen beeinflussen. Und es ist ein Anliegen, das wirklich weiter um sich greift; wo immer man sich auf der Welt aufhält, ist man in der Lage, das festzustellen. Und es ist sozial engagiert. Sie haben ihrerseits sechs Jahre da hineingesteckt, auch Studenten haben das getan. Viele von ihnen sind jetzt selbst Professoren, manche arbeiten nun im breiten Entwicklungszusammenhang weiter, einige in Singapur, andere in China. Es ist also wirklich ein langes Wagnis. Man kann hoffen, daß sie von den Professoren, mit denen sie zusammengearbeitet haben und die sie schätzen, Werte übernommen haben, die sie umsetzen. Und sie versetzen Menschen an der Basis vielleicht sogar in die Lage, besser zurechtzukommen, indem sie über Gespräche ihre Forschungsergebnisse weitergeben. Das ist keine Einbahnstraße. Ich bin sicher, daß es ihnen am Herzen liegt, und daß sie genauso viele Fragen gestellt wie auch die Fragen anderer beantwortet haben. Sie haben mit ihnen gelebt und gearbeitet, auch unter ihnen. Das setzt sich unter der Oberfläche sicher noch weiter fort.

SB: Könnte man die Megacities auch als einen Teil des Armutsproblems verstehen? Meinem Eindruck nach ist das Problem der Megacities nicht nur eine Frage des Klimawandels, sondern in großem Maße auch eine Frage der Armut.

BL: Ich glaube, die größte Annäherung an eine Antwort kann man erzielen, wenn man es aus meiner Perspektive, also aus Malaysia betrachtet. Denn wenn wir von Armut sprechen, gibt es dort keine wirkliche Armut. Wir sprechen über Menschen, die verhungern, die nicht genug zu essen haben. Nun ich denke, die findet man kaum in Malaysia. Das ist nichts, worauf man in dem Sinne stolz sein kann, weil die Menschen dann möglicherweise noch immer unter der Armutsgrenze leben. Aber ich würde sagen, auch in einem Land, das idealerweise nicht arm ist, gibt es diese Bewegung Richtung Stadt, weil es Bildung in den Megacities gibt und Arbeit; es ist auch eine soziale Migration. So ist es aus dem einen oder anderen Grund ein unvermeidlicher Prozeß. Armut kann diese Bewegung antreiben. Wenn man an andere Städte, lateinamerikanische Städte beispielsweise denkt, kann Armut ein sehr wichtiger Faktor sein. Ich würde sagen, daß die meisten Menschen in Malaysia, die in den letzten zehn Jahren in die Stadt gezogen sind, nicht in dem Sinne arm sind. Aber es geht um Bildung, sie haben nur in der Stadt Arbeit gefunden, so gehen sie nicht wieder zurück. Armut ist also in vielen Fällen möglicherweise nicht der einzige oder nicht der Hauptfaktor.

SW: Ja. Durch die Geschichte hindurch haben Menschen die ländliche Umgebung verlassen und sind zum Leben in Ansammlungen, in einer Art städtischer Siedlungen zusammengekommen. Wie die Menschen damit zurechtkommen, bezeichnen wir als Informalität; es ist nicht Illegalität, sondern es sind einfach Bereiche des Wandels oder des Übergangs. Und ich denke, das ist ein Feld, das wir alle sehr interessant fanden. Ob wir nun über den chinesischsprachigen Begriff diskutiert und uns gefragt haben, was würde man in Bangladesch sagen, ob es in einigen Fällen mehr ein Schub Richtung Stadt war als eine Anziehung, weil die Menschen aus welchen Gründen auch immer fortmußten... Die Vereinigten Staaten sind eine Nation von Immigranten, die Deutschen stellen die größte Zahl der amerikanischen Vorfahren. Sie kamen zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte und aus unterschiedlichen Gründen. Niemand ist so reich wie unser Land an europäischen Migranten. Wie sie es geschafft haben, sich in die Wirtschaft und Arbeit zu integrieren, ist einfach ein menschlicher Entwicklungsprozeß an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten. So denke ich, daß der Wert des ganzen darin besteht, daß Chinesen mit Bangladeschern gesprochen und auch aus den gegenseitigen Erfahrungen gelernt haben. Es war nicht Entwicklungsländer und entwickelte Welt, sondern ging auch durch die sich entwickelnde Welt. Es war alles in allem und in jeder Hinsicht eine enorme Erfahrung für alle Beteiligten. Und wie Sie von Prof. Frauke Kraas erfahren haben, waren sie sehr offen für Neues. Die Projektleiter haben nicht vorgeschrieben, was auf welche Weise getan werden sollte. Sie haben Treffen mit den Teilnehmern einberufen und gemeinsam ausgearbeitet, wie effektive Strategien für die Untersuchung der Fragestellungen aussehen könnten. Die Forschung war gleichzeitig Unterricht, die Methodik war sowohl Lektion als auch Ergebnis.

Susan M. Walcott und Boon-Thong Lee im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine reichhaltige Erfahrung für alle Beteiligten ...
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Vielleicht führt das jetzt ein wenig zu weit, aber ich habe manchmal den Eindruck, daß wir diese Fragen aus einer sehr westlichen Perspektive heraus betrachten, so wie wir meinen, daß Menschen unserer Ansicht nach leben sollten. Während ich vielleicht glaube, daß zwei Menschen in einem Raum zuviel sind, sind andere möglicherweise entsetzt bei dem Gedanken und finden das sehr einsam. Sie möchten lieber zu dritt oder zu viert in einem Raum leben zusammen mit ihrer Familie und finden das großartig. Sie wollen kein hohes Gebäude, sondern ein kleines, gemütliches Holzhaus mit Strohdach. Wir denken immer, ein Gebäude aus Ziegelsteinen ist besser, und zwingen Menschen, darin zu wohnen. Aber warum ist ein Haus aus Ziegeln besser? So kann es vieles geben, das wir aus unserer westlichen Sicht einfach nicht mit einbeziehen, weil wir das Wissen nicht haben, um angemessen darüber nachzudenken. Mich würde also die Frage, wie man diesen Gedanken in diese Forschungsansätze einbringen kann, sehr interessieren. Das ist eine Frage, die ich gern diskutieren würde.

BL: Wenn ein Mensch aus dem Westen in ein südostasiatisches Land kommt, nach Bangkok beispielsweise, und die wildgewachsenen Ansiedlungen, die Slum-Gebiete sieht, dann denkt er möglicherweise: Ah, die Armut hat sie in die Stadt getrieben. Ja sicher, das trifft in vielen Fällen zu. So ist es auf jeden Fall in Bangladesch. Aber in Kuala Lumpur zum Beispiel, auch in Bangkok, gibt es weite Areale von Mittelklasse-Wohngebieten, die entstehen. Sie sind sehr ausgedehnt, aber werden kaum gesehen. Die illegalen Siedlungen aber konzentrieren sich am Fluß, und so sieht man sie sofort. Und gleich denkt man: Oh, sie sind arm. Aber warum sie in die Stadt kommen und unter solchen Bedingungen leben, ist für uns manchmal schwer zu verstehen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus Malaysia: Es gibt bei uns Stammesgruppen, die im Dschungel leben; sie leben in Langhäusern. Wenn wir über Platz sprechen, dann haben sie wahrscheinlich jede Menge Platz. Alles ist wunderbar. Und sie verlassen freiwillig ihre Langhäuser, um in die Stadt zu kommen in Slum-Häusern zu leben. Warum tun sie das? Ich verstehe die Frage, es geht um Bildung für die Kinder, Jobs und dergleichen. Aber es geht ihnen besser, wenn sie im Dschungel leben, weil sie dort alles kostenlos haben. Sie haben keine Nahrungsmittelprobleme. Aber wenn sie hierher kommen, sind sie abhängig von Bargeld. Also müssen sie sich Arbeit suchen. Bis heute versteht niemand, warum sie den Umzug machen wollen. Ich glaube also, auch wenn man nicht arm ist, könnte man den Drang haben, die natürliche Neigung - korrigieren sie mich, wenn ich falsch liege -, einfach fortzugehen und in der Stadt zu leben.

SB: Könnten Sie sich vorstellen, daß es eine Art großes Versprechen der Stadtbewohner oder der Industriewelt ist, das sagt: Das ist die Art, wie Menschen leben sollten, es ist besser, es ist der Weg nach oben, so wirst du stark und reich? Und daß es sich dann für viele Menschen als alleiniges Versprechen herausstellt, das nie erfüllt wird. Ich glaube, es ist sehr schwer zu widerstehen, wenn man mit Cola und modernen Filmen Bekanntschaft macht, weil es eine sehr starke, vom Westen vorgeformte kulturelle Dominanz gibt.

BL: Ja, genau.

SW: Eine der Stärken in der Durchführung dieses Projekts war, daß Studenten wirklich an den jeweiligen Ort gegangen sind und dort für einige Monate, sechs Monate, zwei Jahre gelebt haben. Einige von ihnen haben beschlossen, dort zu bleiben, dort zu arbeiten. Sie gingen genauso wie die Leute, mit denen sie gesprochen haben, durch eine Übergangsphase in ihrem Leben, in der sie nach einem Wandel streben. Es sind Menschen, die bereit sind, die ländlichen Gebiete zu verlassen, und obwohl sie wieder zurückgehen könnten, tun sie es nicht. Sie kommen, sie bleiben und sie ertragen die Dinge - sei es Foxconn mit schrecklichen Arbeitsbedingungen oder was auch immer - in dem Bewußtsein, daß es viele, viele Landsleute gibt, die hinter ihnen stehen und gern ihre Position hätten. Manche von ihnen sind recht gebildet, aber ihre Fähigkeiten werden nicht genutzt. Und wieder ertragen sie all das, weil sie die Hoffnung haben, daß es eine bessere Welt sein wird und daß sie Anteil daran haben. Es ist sicherlich nicht an uns über das zu urteilen, was sie tun, aber es gilt, sie zu verstehen, indem man eins mit ihnen ist.

BL: Ja.

SW: Eins mit ihren Entscheidungen, mit ihrem Verständnis, mit ihrer Ratio und ihnen vielleicht sogar hilft zu verstehen, wie sie zurechtkommen können, daß es Dienste für sie gibt und NROs, die sie vielleicht nicht kennen. Und dabei wirklich ihr Leben neben ihnen mit zu leben, was wiederum Teil dieses Prozesses ist, der sehr beeindruckend war. Die meisten Professoren haben in diesen Bereichen geforscht und entwickeln Modelle, wie man diese Menschen verstehen kann, während man lebt wie sie und auch durch ihre Augen sieht.

BL: Ich möchte eine abschließende Erklärung angeben. Ich bin Malaysier und in keines dieser Projekte eingebunden, ich habe also nichts zu gewinnen, wenn ich das jetzt sage. Meiner Meinung nach hat die deutsche DFG mit der Unterstützung dieses Megacities-Projekts den richtigen Schritt getan. Denn die Urbanisierung wird nicht abnehmen, sondern unvermeidlich immer weiter zunehmen. Und wenn man der Dritten Welt, oder wenn Sie den Begriff nicht mögen: den Entwicklungsländern, uns, nicht eine gewisse Hoffnung von seiten der Gemeinschaft der Studierten eröffnet, wissen die politischen Entscheidungsträger nicht, wo sie nach Unterstützung suchen sollen. Und ich denke, daß die deutsche DFG das richtige getan hat. Wir werden gewiß nicht in der Lage sein, die Wirkung dieses Projekts in seinem vollständigen Ausmaß zu beziffern, aber sicher ist, daß die daraus erwachsene akademische Lehre junge Studenten erreicht, die einmal Politiker werden oder Ministerpräsident, und dann werden sie die Ideen aus diesem Megacities-Projekt von vor 20 Jahren oder so aufgreifen.

SB: Das ist ein sehr gutes Schlußwort, vielen Dank Ihnen beiden für dieses erhellende Gespräch.


Fußnoten:

[1] www.uncg.edu/geo/walcott.html

[2] ForUM - Forum for Urban Future in Southeast Asia - Network of Southeast Asian and German Experts
www.forum-urban-futures.net
www.forum-urban-futures.net/contacts/participants/prof-dr-lee-boon- thong

[3] Meritokratie: der gesellschaftliche Status eines Menschen wird durch individuelle Leistung und Verdienst bestimmt, keine Privilegierung durch soziale Herkunft, im Idealfall wirkliche Chancengleichheit


Bisherige Beiträge zum Kolloquium "Megacities - Megachallenge" im Schattenblick unter
INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0015.html

BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0016.html

INTERVIEW/015: Megacities - Über den Tellerrand - Prof. Dr. Frauke Kraas im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0015.html

INTERVIEW/016: Megacities - Forschungsselbstzweck Überleben - Dr. Johannes Karte im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0016.html

INTERVIEW/019: Megacities - Freiheit, Gleichheit, Forschung (SB)
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INTERVIEW/020: Megacities - Konstruktdynamische Prozesse (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri20.html

INTERVIEW/022: Megacities - Fehlverteilung urban - Benjamin Etzold im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri22.html

INTERVIEW/023: Megacities - Elendsverteilungsvariante Dhaka (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri23.html


7. Juni 2013