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INTERVIEW/057: Aufbruchtage - Zwei Seiten einer Medaille ...    Nicola Bullard im Gespräch (SB)


Verschiedene Weltregionen - ein gemeinsamer Feind

Interview am 3. September 2014 in der Universität Leipzig



Die Australierin Nicola Bullard hat internationale Beziehungen am Institut für Soziale Studien in Den Haag sowie Erziehungswissenschaften, Geographie und urbane Soziologie in Melbourne studiert. Sie war in Kambodscha, Thailand und Australien in den Bereichen Menschenrechte, Entwicklung, Frauenpolitik und Gewerkschaften tätig. Seit 1997 arbeitete sie in Bangkok für Focus on the Global South, einen kleinen, agilen Think Tank für die sozialen Bewegungen Südostasiens. Während ihrer 15jährigen Tätigkeit in dieser Organisation beschäftigte sie sich als Wissenschaftlerin und Aktivistin mit den Auswirkungen der Globalisierung, der Asiatischen Finanzkrise, der Welthandelsorganisation und dem internationalen Finanzsystem. Außerdem war sie als Journalistin und Publizistin tätig. Zur Zeit lebt sie in Frankreich und arbeitet als freie Autorin und Analystin zu ökologischen und sozialen Fragen sowie zu Entwicklung und Alternativen zum Kapitalismus.

Nicola Bullard gehörte dem Beirat an, der die Vorbereitung und Durchführung der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz unterstützt hatte, die vom 2. bis 6. September an der Universität Leipzig stattfand. Auf der Konferenz nahm sie unter anderem als Referentin am Eröffnungspodium "Degrowth für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit" sowie am Podium "Antworten auf die Eurokrise: Strategien für die Degrowth-Bewegung" teil.

Im Anschluß an die Podiumsdiskussion zur Eurokrise beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu den Basisbewegungen des globalen Südens, dem Umgang mit Krisen in verschiedenen Weltregionen, den Entwicklungsperspektiven der Schwellenländer und der Vernetzung der zahllosen lokalen Kämpfe.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Nicola Bullard
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Sie klangen in Ihrem Beitrag bei der vorangegangenen Podiumsdiskussion zum Thema "Antworten auf die Eurokrise: Strategien für die Degrowth-Bewegung" sehr optimistisch. Was macht Sie eingedenk Ihrer langjährigen Erfahrungen in anderen Weltregionen so hoffnungsvoll?

Nicola Bullard: Auf diese Frage kann ich zwei Antworten geben. Zum einen glaube ich - und das ist vielleicht meine persönliche Disposition -, daß es wichtig ist, nie die Hoffnung zu verlieren, da es andernfalls zu deprimierend wäre und wir unsere Entschlossenheit und Tatkraft einbüßen würden. Aber zugleich finde ich, wenn ich mich weltweit umsehe, viele Beispiele, in denen Gemeinschaften, soziale Bewegungen und verschiedene Kämpfe tatsächlich konkrete Ergebnisse erzielt haben. Gemeinschaften konnten ihre Ressourcen schützen, Fabriken wurden nicht geschlossen, sondern in Kooperativen umgewandelt, Initiativen haben das Verhältnis von Gesellschaft und Natur neu definiert. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Debatte um die Rechte der Natur, um "Mutter Erde", zu nennen - das sind außerordentlich hoffnungsvolle und vielversprechende Ideen, die da am Horizont auftauchen und uns helfen, neue Entwürfe hervorzubringen, wie unsere Gesellschaft aussehen könnte. Deshalb setze ich große Hoffnung in die Kreativität der Menschen und in die Kapazität von Gemeinschaften, die Ressourcen ihres Lebensunterhalts, ihre Kultur und vieles andere mehr neu zu bestimmen. Es gibt also konkreten Anlaß zur Hoffnung, wenngleich natürlich auch eine gewisse moralische Disposition, dies so zu sehen, dabei zum Tragen kommt.

SB: Wenn man in die Geschichte zurückblickt, findet man in Lateinamerika, Afrika und Südostasien zahlreiche Befreiungsbewegungen, die politisch eingebunden und motiviert waren. Auf welche Weise unterscheiden sich die Basisbewegungen heute von diesen klassischen Vorbildern?

NB: Es trifft zu, was Sie in Hinblick auf die historischen Befreiungsbewegungen gesagt haben. Es handelte sich um außerordentlich wichtige Kämpfe, die darauf abzielten, fremde Einflußnahme aus dem Feld zu schlagen, Militärdiktaturen zu stürzen und Kolonialmächte zu vertreiben. Wir haben jedoch aus dieser Erfahrung gelernt, daß es nicht ausreicht, den Staat wieder in Besitz zu nehmen. Wir müssen sehr viel mehr tun, als die existierenden Institutionen der Macht im nationalen Sinn wiederherzustellen und die Räume zu füllen, die als Orte und Strukturen der Ausübung von Macht konstruiert worden sind. Es gab zweifellos in der Zeit der Befreiungsbewegungen unschätzbare Erfahrungen der Solidarität, die die Grundlage einer internationalistischen Perspektive schufen. Indessen fielen die Ergebnisse dieser Befreiungskämpfe offensichtlich in vielen Fällen weit hinter das Streben und die Opfer der Menschen zurück, die diese Auseinandersetzungen geführt hatten.

Ich glaube, es gibt heute ein viel ausgeprägteres Bewußtsein von Vielfalt, von der Bedeutung einer Demokratie, die vor allem praktiziert und nicht einfach nur institutionalisiert wird, von ökologischen Fragen, die in den klassischen Befreiungsbewegungen vermutlich noch nicht existierten. Diese Fragen sind sehr viel zentraler hinsichtlich der Probleme und Lösungen, über die wir heute sprechen.

SB: Wie können wir Ihres Erachtens die Gefahr bannen, uns von politischen Fragen, Forderungen und Lösungsansätzen zurückzuziehen, und die Auseinandersetzung mit Herrschaft und deren Repressionsinstrumenten führen?

NB: Eingedenk der langen Tradition des Widerstands und der gewaltfreien direkten Aktion halte ich es für wichtig, den Sicherheitsstaat sichtbar zu machen, der zunehmend ausgebaut wird. Wie Konsumismus und Neoliberalismus ist auch der Sicherheitsstaat in gewisser Weise zum Normalzustand geworden und durchdringt alle Sphären unseres alltäglichen Lebens. Dies erfordert natürlich direkten Widerstand und Momente, in denen die Präsenz des Sicherheitsstaat und die damit verbundene Militarisierung offengelegt wird. Es geht darum, zum Ausdruck zu bringen, daß es nicht normal ist, immer nur einzuschränken und zu unterdrücken, statt zu öffnen und zuzulassen.

Die meisten Menschen sind dahingehend sozialisiert, in ihrem alltäglichen Leben diese Einschränkungen und den Mangel an Freiheit zu akzeptieren. Der Mangel an echter Freiheit wird durch die Freiheit des Konsums ersetzt. Das reicht tief hinein bis in das öffentliche Erziehungssystem, weshalb wir versuchen sollten, Berührungsflächen mit dem ganzen Ausmaß dessen, was als Sicherheitsstaat vorangetrieben wird, herzustellen. Wir sollten dies allerdings nicht auf eine Weise tun, die die Leute paranoid macht. Zugleich aber ist wichtig, die Diskussion über Privatsphäre wiederzueröffnen und zu erörtern, was den Staat etwas angeht und was nicht. Soweit ich es beurteilen kann, werden diese Debatten nicht allzu häufig geführt.

SB: Nachdem Finanz- und Wirtschaftskrisen zunächst Weltregionen wie Südostasien oder Lateinamerika heimgesucht haben, sind sie inzwischen auch über das Zentrum der Industriestaaten hereingebrochen. Sie selbst haben lange in Thailand gelebt. Was können Sie Menschen in Deutschland über Ihre Erfahrungen und die dort geführten Kämpfe berichten? Was können die Menschen hier daraus lernen?

NB: Ich möchte zunächst einmal speziell über Thailand sprechen. Der Kontext, in dem dort die Finanzkrise Ende der 90er Jahre zum Tragen kam, unterschied sich erheblich von jenem im heutigen Europa. Thailand befindet sich auf einer anderen Stufe der Entwicklung. Ich glaube zwar nicht an dieses Konstrukt "Entwicklung", doch könnte man um der schnellen Rede willen von Unterschieden hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung sprechen. In der thailändischen Gesellschaft existiert nach wie vor eine recht enge und tragfähige Verbindung zu den ländlichen Regionen und der dortigen Produktion. Produktion und Lebensunterhalt sind noch nicht vollständig voneinander getrennt.

Als die Finanzkrise über Thailand hereinbrach, gab es dort - in der Terminologie der Weltbank gesprochen - "soziales Kapital". Die Leute hatten Familie, Land und Netzwerke der Unterstützung, auf die sie zurückgreifen konnten. Sie konnten die Krise irgendwie überleben, als beispielsweise ihre Jobs auf dem Bau in Bangkok verschwanden, weil der Investor das gesamte Geld herausgezogen hatte und verschwunden war. Diese Bauarbeiter konnten in ihre Heimatdörfer zurückkehren und dort überleben. Es ist zwangsläufig eine aus Armut geborene Strategie, weil bloßes Überleben keine Option ist, die Menschen freiwillig wählen würden, doch handelte es sich in diesem Kontext zumindest um eine, die realisierbar war.

In Europa ist die Situation eine ganz andere. Nur wenige Leute haben landwirtschaftlich nutzbare Flächen, zu denen sie zurückkehren könnten. Und angesichts des Ausmaßes der Arbeitslosigkeit vor allem in Südeuropa sind die familiären Netzwerke unglaublich dünn geworden, da ein einziges Einkommen oftmals sehr viele Menschen versorgen muß. Der Kontext unterscheidet sich also ganz erheblich von jenem in Thailand während der Finanzkrise. Andererseits sind in beiden Fällen dieselben Interessen am Werk. Es sind finanzielle Interessen, der Druck, alles zu kommodifizieren und zu privatisieren - die externen Kräfte und maßgeblichen Interessen sind mehr oder weniger dieselben. Auf welche Weise Individuen und Gemeinschaften mit dieser Krise umgehen, ist an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich. Doch die Dynamik der Interessen, denen sie unterworfen werden, ist sehr ähnlich, ob es sich nun um Thailand, Griechenland oder Spanien handelt. Das stellt eine Grundlage dar, Brücken zu schlagen, da wir es in unterschiedlichen Weltregionen mit einem gemeinsamen Feind zu tun haben.

Schlußendlich blieb Thailand in die internationale Ökonomie integriert und hat nun am Boom des von China ausgehenden Exports von Produktionsstätten teil. Die thailändische Ökonomie ist sehr eng mit der chinesischen verbunden. Die globale wirtschaftliche Einbindung schreitet weiter voran, und wir haben es nicht geschafft, diesen Prozeß tiefgreifender ökonomischer Integration aufzuhalten. Der Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und weiterer Schwellenländer ist eine Folge der Globalisierung, da es ihnen gelungen ist, verschiedene Vorteile, wenn man so will, auszunutzen, wenngleich zu einem immensen Preis der Ungleichheit, Armut und Umweltzerstörung. Ein kleiner Sektor der Bevölkerung in diesen Ländern hat von den Vorteilen der Globalisierung profitiert, und dasselbe passiert auch hier in Europa. Die Schere klafft immer weiter auf zwischen denen, die über Macht und Ressourcen verfügen, und jenen, die keine haben, und diese Erfahrung gilt für Asien oder Lateinamerika ebenso wie für Europa.

SB: Steht Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien demnach notwendigerweise dieselbe Entwicklung bevor, die Industriestaaten wie die USA oder Deutschland durchlaufen haben?

NB: Gegenwärtig üben China, Indien und Brasilien ganz bestimmte Funktionen im globalen Wirtschaftssystem aus. China ist, vereinfacht gesprochen, die Produktionsstätte, Indien steuert zahlreiche Dienstleistungen bei, hat aber auch einige bedeutende industriellen Sektoren, Brasilien exportiert insbesondere Nahrungsmittel und andere Rohstoffe. Diese Länder erfüllen eine bestimmte anteilige Funktion im Gesamtsystem.

Wenn man in die Geschichte der ökonomischen Entwicklung insbesondere der USA und Europas zurückblickt, so operierten diese stets nach der Devise, tu nicht, was ich tue, sondern tu, was ich sage. Die USA waren immer extrem protektionistisch und haben ihr eigenes Kapital und ihre eigene Industrie bevorzugt behandelt. Sie haben ihre eigenen ökonomischen Interessen stets über die anderer gestellt und sie vor diesen geschützt und gegen sie verteidigt. Auch unter den größeren Ökonomien in Europa wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien finden wir dieselbe Vorgehensweise. Sie sind nicht vollständig neoliberal, sondern handeln in bestimmten Zusammenhängen protektionistisch. Beispielsweise sind einige Städte eng mit der Ölindustrie oder der Rüstungsindustrie verflochten, so daß entsprechende Subventionen fließen. Der Staat arbeitet unablässig diesen einflußreichen Interessengruppen zu. Ich sehe angesichts der gegenwärtigen Konfiguration der Kräfte kaum eine andere Entwicklungsmöglichkeit.

Allerdings verfügt China möglicherweise über die Kapazität, seinen eigenen Pfad zu gestalten, weil es über eine ausreichende ökonomische Masse und ein politisches System gebietet, das zum Guten oder Schlechten erheblich direktiver als andere ist.

Ob Brasilien endet wie die USA, muß sich erst noch herausstellen. Werden die Brasilianer den Entfaltungsraum finden, eine vergleichbare technologische Entwicklung zu vollziehen, oder wird Brasilien lediglich eine Basis der Agroindustrie bleiben? Es erfordert sehr viele politische Interventionen auf Regierungsebene und ebenso soziale Kräfte an der Basis, um die Balance der Macht zu verschieben. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich stelle ein Fragezeichen ans Ende.

SB: Welche Verbindung und Kontinuität ist aus Ihrer Sicht erforderlich, um den Kämpfen an der Basis Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit zu verleihen?

NB: Ich glaube, die Kämpfe an der Basis haben ihre eigene Kontinuität, weil jeder Tag Kampf ist - es ist die gelebte Realität. Diese Kämpfe zeichnet vielleicht für sich genommen noch keine übergreifende Kontinuität aus, aber sie sind sichtbarer geworden und weisen eine wachsende Solidarität und Schubkraft auf. Ich halte es für absolut unverzichtbar, daß wir Verbindungen zwischen den lokalen Initiativen schaffen, damit die verschiedenen örtlichen Kämpfe, Kampagnen, Bewegungen und sogar Alternativen eine Möglichkeit haben, sich miteinander zu verbinden. Das Gefühl der Isolation zu überwinden, ist außerordentlich wichtig. Dies ist eine Art Solidarität, die eher auf der gleichen gelebten Erfahrung gründet, als daß Menschen aus dem Norden die Kämpfe des Südens unterstützen und die dortigen Regierungen auffordern, etwas zu verändern. Es ist meines Erachtens eine neue Form der Solidarität, die auf dem gemeinsamen Kampf beruht.

Ich denke, es gibt noch viel zu tun, um solche Verbindungen zwischen all diesen verschiedenen Kampagnen zur Schließung von Kohlegruben, gegen die Ölförderung, gegen die Ausweitung der Agroindustrie, gegen die Abholzung der Wälder und tausend anderen Kämpfen überall auf der Welt zu schaffen. Dabei sind Arbeitskämpfe und der Widerstand gegen soziale Ausgrenzung nicht zu vergessen. Wir haben die wichtige Aufgabe, Institutionen zu schaffen, die Netze lebendiger Verbindungen zwischen den verschiedenen Realitäten und Kämpfen knüpfen.

SB: Nicola, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
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