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INTERVIEW/071: Aufbruchtage - ohne Staat und menschenfreundlich ...    David Barkin im Gespräch (1) (SB)


Kollektive statt individuelle Freiheit

Interview am 4. September 2014 an der Universität Leipzig (1. Teil)



Wandgemälde, das Impressionen der mexikanischen Unabhängigkeitskämpfe zeigt, im Vordergrund Besucher - Foto: By Thelmadatter (Own work)[Public domain], via Wikimedia Commons

Aus der Kenntnis antikolonialer Kämpfe alternative Gesellschaften erstreiten? - Fresko zur Geschichte Mexikos von Diego Rivera im Stiegenhaus des Nationalpalastes in Mexiko-Stadt, dem Sitz der mexikanischen Regierung
Foto: By Thelmadatter (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Die Geschichte Mexikos ist wie die vieler anderer Länder nicht zuletzt durch die Kolonialerfahrungen seiner Menschen und Völker geprägt. Es käme einer schwerlich mit Inhalt zu füllenden historischen Utopie gleich, sich auszumalen, wie die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen, die nach heutigen Begriffen dem "globalen Süden" zugeordnet werden, aussehen würden, wären die westlichen, bis heute die sogenannte internationale Gemeinschaft dominierenden Staaten nicht einst in ihren Lebensraum eingefallen, um ihre Vorfahren zu versklaven, das Land und seine Schätze auszuplündern, Vasallenregime wie auch Produktionsstätten zu errichten und die Kolonialisierten auch noch durch Arbeit zu vernutzen. Hätte der Glaube an eine prinzipielle gesellschaftliche Fortschrittsentwicklung tatsächlich eine andere Basis als die Interessen der von diesen so ungleichen Verhältnissen Profitierenden, bräuchten all diejenigen, die auf der Verliererseite stehen, nur lange genug zu warten, um zu erleben, wie das Rad der Geschichte sich zu ihren Gunsten dreht.

Narrative dieser oder ähnlicher Art haben in den Staaten des globalen Südens, aber auch in der (noch) bessergestellten Wohlstandswelt des Nordens erheblich an Glaubwürdigkeit und damit auch Herrschaftssicherungs- und politischer Bindekraft eingebüßt. Ein Riß zieht sich durch die Gesellschaften des Südens, stoßen hier doch die Widersprüche zwischen einer Regierungspolitik, die ihr Wohl letztlich in der Unterwerfung unter die Politik des Nordens bzw. der von ihm dominierten internationalen Institutionen und seiner Wachstumsversprechen zu sichern trachtet, und demgegenüber oppositionellen Positionen aufeinander. Es versteht sich von selbst, daß diese Widerspruchslagen vornehmlich in diesen Ländern auch an Universitäten und Forschungseinrichtungen ihren Widerhall finden.

Findet dann ein internationales Treffen engagierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit interessierten Aktivisten und Aktivistinnen wie die Degrowth-Konferenz in Leipzig unter der Maßgabe statt, daß bei der Inangriffnahme der weltweit ungelösten sozialen und ökologischen Probleme die Interessen der Menschen des globalen Südens nicht zurückstehen dürften, liegt auf der Hand, daß sich kritische Wissenschaftler aus diesen Ländern direkt beteiligen. Einer von ihnen war Prof. Dr. David Barkin aus Mexiko, der auf der Konferenz in einer Special Session zum Thema "Buen vivir and radical ecological democracy" (Gutes Leben und radikal-ökologische Demokratie) einen Vortrag über den Aufbau alternativer Gesellschaften in den amerikanischen Staaten ("Forging alternative societies in the Americas") hielt. [1]

David Barkin ist als Professor für Ökonomie am Xochimilco Campus der Autonomen Metropolitanen Universität in México City tätig. Er ist Mitglied der Mexikanischen Akademie der Wissenschaften und des Nationalen Forschungsrates. In seinen jüngsten Werken befaßt er sich mit Fragen um Wohlstand, Armut und nachhaltige Entwicklung sowie der Entwicklung des Wassermanagements in Mexiko, wobei sein Interesse immer auch auf die wachsende Ungleichheit gerichtet ist. Seine aktuelle Forschungsarbeit widmet er alternativen Strategien für einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, wobei er mit lokalen Gemeinschaften und regionalen Bürgergruppen sehr eng zusammenarbeitet. Als investigativer Mitarbeiter war er an einem Projekt des Forschungsinstituts für soziale Entwicklung der Vereinten Nationen (UNRISD) zum Thema Verantwortung der Unternehmen für eine nachhaltige Entwicklung (Business Responsability for Sustainable Development) tätig, in dem zwischen 2000 bis 2005 untersucht wurde, ob transnationale Konzerne und andere Unternehmensgesellschaften in sozialer wie ökologischer Hinsicht ihrer Verantwortung gerecht werden. [2]

In seinem Leipziger Vortrag hat Prof. Barkin davon gesprochen, daß in den kleinen, regionalen Gemeinschaften, die in das kapitalistische System nicht integriert sind, die oberste Maxime lautet, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Das sei bei ihnen - im Unterschied zu den Gesellschaften der sogenannten "entwickelten" Welt - eine Selbstverständlichkeit. Im Gegenzug dazu hätten die Menschen gegenüber der Gemeinschaft eine Verantwortung, was Prof. Barkin in Anlehnung, aber deutlicher inhaltlicher Abgrenzung zur Idee des Sozialkontrakts europäischer Philosophen einen anderen Gesellschaftsvertrag nannte. Im Anschluß an die Veranstaltung hatte der Schattenblick Gelegenheit, mit Prof. Barkin über dieses Thema - im vorliegenden 1. Teil des Interviews - wie auch die allgemeine Lage und Entwicklung in den amerikanischen Staaten - im 2. Teil - zu sprechen.


Während des Interviews - Foto: © 2014 by Schattenblick

Prof. Dr. David Barkin
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Sie haben in Ihrem Vortrag von Gemeinschaften berichtet, die um ihr Überleben kämpfen. Würden Sie sagen, daß die Sicherung der Grundbedürfnisse als Voraussetzung aufgefaßt werden könnte, um für eine andere Lebensweise oder die Realisierung einer gesellschaftlichen Utopie zu kämpfen?

David Barkin: Auf jeden Fall. Ihre Frage impliziert zwei wichtige Aspekte. Wenn eine Gesellschaft beschließt, daß ihre erste Verantwortung darin besteht sicherzustellen, daß für jeden Menschen die Grundbedürfnisse geregelt sind, heißt das nicht, daß sie auch reich ist. Es bedeutet, daß diese Gesellschaft alles, was nötig ist und was sie bei größter Mühe zu leisten imstande ist, auch tut, um diese Garantie zu erfüllen. Das ist sehr wichtig, denn dies ist, wenn man sich die letzten 500 Jahre ansieht, eine radikale und revolutionäre Entscheidung. In dieser langen Zeit haben viele, wenn nicht die meisten der Gesellschaften unter einem ganz gravierenden Mangel gelitten, weil ihnen die Fähigkeit versagt wurde, die Grundbedürfnisse zu sichern. Das brachte sie in eine rückwärts gewandte Entwicklung, und so mußten die Menschen Wege finden, um überhaupt zu überleben, was ihnen vielfach nur unter den schlimmsten Bedingungen gelang.

Die weitere wichtige Sache betrifft die Armut. Es gibt so gut wie keine Gemeinschaft in den amerikanischen Staaten, in der die Menschen Armut nicht kennen würden. Wenn sie dann beschließen, an allererster Stelle die Lebensgrundlagen für ihre Menschen zu sichern, bedeutet das, daß sie ganz genau wissen warum. In den meisten dieser Gemeinschaften leben Menschen, die als Migranten in den entwickelten, reichen Ländern unter schlechtesten Bedingungen gearbeitet haben - einige mit Papieren, aber viele ohne - und dort sehr, sehr schlecht behandelt wurden. Sie wissen sehr genau, was sie mit diesem Schritt tun und sie wissen auch, daß sie damit den Sozialstatus als Proletarier zurückweisen. Das ist meiner Meinung nach sehr, sehr wichtig.

Ich glaube, daß das für hiesige Studenten schwer zu verstehen ist, weil sie im Grunde genommen nie Arbeiter gewesen sind. Aber wenn man Arbeit erst einmal kennt, muß man die Frage stellen, die Sie formuliert haben: Wie bekommt man Menschen dazu, sich für die Gemeinschaft einzusetzen? Nun, indem man ihnen sagt: Du hast dein Essen, dein Haus und alles, was du für's Überleben brauchst. Der Punkt ist, daß das Bestandteil des Gesellschaftsvertrags ist, allerdings in einem anderen Verständnis als dem der westlichen Welt. In den Gemeinschaften wird nämlich gesagt: Du bekommst das Essen und all diese Güter, weil wir kollektiv ihre Herstellung organisieren. Kollektive Produktion bedeutet, daß jeder dazu etwas beitragen muß.

Das kann bedeuten, daß Menschen nicht immer das Recht haben zu sagen: Also, ich möchte jetzt gern Philosoph oder Künstler sein. Denn wenn es im nächsten Monat regnet, dann mußt du los, um Schutzvorkehrungen gegen Überschwemmungen vom Fluß her zu bauen. Oder es muß sichergestellt werden, was in jeder Trockenperiode der Fall ist, daß der Wald vom Unterholz befreit wird, damit es keine Waldbrände gibt. Da kannst du nicht Philosoph sein. Das kannst du, wenn wir dich nicht brauchen, um den Wald zu bereinigen oder die Nahrung zu ernten oder zu den Treffen zu kommen. Du mußt nämlich auch zu den Treffen kommen, genauso, wie du deine Kinder zur Schule schicken oder Lehrer werden mußt, wenn wir welche für die Schule brauchen.

Das ist der Grund, weshalb dieser Gesellschaftsvertrag so ganz anders ist. Du hast nicht die individuelle Freiheit, immer zu tun, was und wie du es willst. Aber du hast eine kollektive Freiheit, weil die Menschen in deiner Gemeinschaft so sehr miteinander verbunden sind, daß sie diese Entscheidungen kollektiv treffen können. Das impliziert, daß die Gemeinschaft etwas ganz Wichtiges hat, nämlich das Potential, sehr reich zu werden im Vergleich zu ihrem früheren Zustand. Denn wenn jeder in der Gemeinschaft arbeitet, und zwar zu deren Wohl, bedeutet das, daß sie in der Lage ist, einen größeren Überschuß zu produzieren. Wenn das der Fall ist, steht sie vor der Frage: Wie teilen wir den Überschuß zwischen den einzelnen und der Gemeinschaft insgesamt und ihren Projekten auf? In unseren Gesellschaften ist das natürlich nie die Frage, da geht der Überschuß immer an die Kapitalisten und die Regierung.

Natürlich werden bei dieser kollektiven Herangehensweise die Grundlagen für die Beziehungen zwischen den Individuen und der Gesellschaft und damit auch die Voraussetzungen für das Vorankommen der Gemeinschaft verändert. Wenn sie sich keine Gedanken mehr darüber machen muß, die Ressourcen für Luxuskonsum zu verwenden oder dafür, sinnlose Gebäude, beispielsweise riesige Monumente, zu bauen, dann hat sie sehr viel mehr Möglichkeiten, den Überschuß für kollektive Bedürfnisse und die Zunahme des Wohlstands im ganzen Kollektiv zu nutzen.


Prunkvolle, bei einsetzender Dämmerung angeleuchtete Kathedrale von Mexiko-Stadt - Foto: By Francisco Diez [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Zu wessen Nutzen? Die Kathedrale von Mexiko-Stadt, Sitz des katholischen Erzbischofs von Mexiko, ist die größte und älteste des amerikanischen Kontinents (erbaut von 1573 bis 1813)
Foto: By Francisco Diez [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Ich will Ihnen ein aus meiner Sicht sehr bemerkenswertes Beispiel geben. Wir haben eine Gemeinschaft in Mexiko, die in einem Regenwaldgebiet lebt. Das ist der größte Regenwald in Mexiko, er ist 6000 Hektar groß. 35.000 Menschen leben in dieser Gemeinschaft. 1998 gab es eine Unwetterkatastrophe namens El Niño. Waldbrände wurden zu einem Riesenproblem. Sie waren von politischen Interessengruppen gelegt worden, die der Gemeinschaft das Land stehlen wollten. Sie haben El Niño als Deckmantel benutzt, um die Feuer zu legen. Was die Menschen in der Gemeinschaft daraufhin getan haben, war wirklich ungewöhnlich. Zunächst bekämpften sie die Waldbrände und schafften es, ihr Land zu retten.

Aber dann wählten sie fünf Menschen aus ihrer Gemeinschaft aus, die Ingenieurabschlüsse in Waldmanagement machen sollten am Royal College of Forestry in Großbritannien. Alle fünf haben ihren Doktor in Waldbrandbekämpfung gemacht und sind Ingenieure für Waldmanagement und Spezialisten für Brandbekämpfung und -vorbeugung geworden. Die Gemeinschaft weiß jetzt also, wie sie sich schützen kann. Die fünf kamen also zurück und bildeten ihre Leute aus. Aber sie stellten auch eine Expertenmannschaft auf für die Ausbildung anderer Brandbekämpfer in den übrigen indigenen Gemeinschaften. Ihre Abschlüsse hatten sie im Jahre 2004 gemacht, das ist jetzt schon zehn Jahre her. Seitdem haben sie 32 Kurse in indigenen Gemeinschaften in ganz Lateinamerika gegeben, um spezialisierte Brandbekämpfungsbrigaden ins Leben zu rufen. Das ist wirklich sehr, sehr wichtig.

Natürlich werden sie dafür nicht bezahlt. Sie tun es, weil es eine Selbstverständlichkeit ist. Die Gemeinschaft ist sehr stolz auf sie, und ihre Familien werden von der Gemeinschaft bestens versorgt. Auf einer anderen Ebene kämpft diese Gemeinschaft immer noch gegen die Politiker, die ihr das Land wegnehmen wollten, weil es sehr wertvoll ist. Dieses Beispiel vermittelt meiner Meinung nach eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte, wenn eine Gemeinschaft beschließt, sich selbst auf eine andere Weise zu organisieren, als man es in einem westlichen Land tun würde. Im nächsten Jahr wird beispielsweise wieder ein El Niño erwartet, diesmal ein sehr schlimmer. [3] Die Gemeinschaft rechnet damit, daß es bald viele Brände geben könnte. In ganz West- und Mittelamerika, natürlich auch in Mexiko, wurden bereits Brigaden aufgestellt, um dem zuvorzukommen.


Brennender Wald mit Baumgerippen, im Vordergrund zwei Elche, die sich in einem flachen Flußlauf zu retten versuchen - Foto: By John McColgan [Public domain], via Wikimedia Commons

Brandprophylaxe in ganz Amerika ein wichtiges Thema - Waldbrand im Bitterroot National Forest in Montana (USA) an 6. August 2000
Foto: By John McColgan [Public domain], via Wikimedia Commons

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag von den Gemeinschaften erzählt, daß, wenn eine Entscheidung einmal getroffen ist, keiner mehr das Recht hat zu widersprechen, wohl aber davor. Wie findet der Entscheidungsprozeß statt?

DB: Oh, das dauert sehr lange. Sie halten Treffen ab, bei denen alle sehr viel reden. Und da gibt es etwas, das sich während all der Jahre, in denen ich das begleitet habe, sehr verändert hat: Die Frauen nehmen jetzt sehr aktiv daran teil. Das geschah früher nicht so häufig. Eine Entscheidung zu treffen, erfordert oft eine wirklich sehr lange Zeit. Manchmal ist es ein etwas eigentümlicher Prozeß, weil einige Menschen eine wichtigere Stimme haben als andere. Früher war es dann so, daß die alten Menschen oder diejenigen, die als weise angesehen wurden, das ausschlaggebende Gewicht in den Diskussionsprozessen hatten. Aber das ist heute nicht mehr ganz so, denn sie haben inzwischen einiges an Autorität eingebüßt. Ich will Ihnen das anhand eines Beispiels schildern. Im Vortrag hatte ich keine Zeit, das genauer zu erklären.

Es geht um eine junge Frau, die als erste Frau in einer 600.000 Menschen umfassenden Gemeinschaft ihren Abschluß in Wirtschaftswissenschaften gemacht hat. Sie war, was in der Gemeinschaft schon sehr umstritten gewesen war, als unverheiratete Frau an die Universität gegangen. Als sich herausgestellt hatte, daß Schweine, wenn sie mit Avocado-Abfällen gefüttert werden, kein Cholesterin mehr produzieren, hat sie damit angefangen, Schweinefleisch mit einem niedrigeren Fettgehalt herzustellen und auf den Markt zu bringen. 500 Frauen folgten ihrem Beispiel und taten, was Frauen zuvor verwehrt worden war. In ihrer Abschlußarbeit hat diese junge Frau dann den Prozeß analysiert, wie es in der Gemeinschaft zu dieser Entwicklung gekommen war.

Daß sie diese Arbeit an der Universität in Mexiko überhaupt machen konnte, war in der Gemeinschaft ebenfalls sehr umstritten gewesen. Ich hatte eine weibliche Studentin, die ihre Diplomarbeitsbetreuerin wurde. Mir hätten sie es nicht gestattet, ihr Betreuer zu sein. Auf diesem Wege aber war sie in der Lage, ihr Diplom zu machen. Danach wurde sie zunächst zur Leiterin der Gemeinschaftsschule ernannt und im darauffolgenden Jahr als Königin des Neumondfestes nominiert, was in der Gemeinschaft eine sehr wichtige Feierlichkeit ist. Das stellte einen furchtbaren Bruch der Tradition dar, denn sie war von den Frauen nominiert worden. Normalerweise tun das die Männer. Dann wurde sie von den Männern daran gehindert, zur Königin gekrönt zu werden. Das Ergebnis dessen war, daß die Frauen nicht zu dem Fest gingen, sie machten ihre eigene Parallelfeier.

Heute, zwölf Jahre später, ist diese Frau die Anführerin der ganzen Gemeinschaft. Auf diese Weise kommt es zu einer ganzen Reihe von Veränderungen, und es gibt viele Dinge, die sich aufgrund dieser Prozesse weiterentwickeln. Eine sehr wichtige Lektion, die wir gelernt haben, lautet: Eine Gemeinschaft muß, um traditionell zu bleiben, wissen, wie sie sich verändert. Darin liegt schon eine gewisse Ironie, weil viele Menschen Tradition für etwas halten, das sich nicht verändert. In der Anthropologie wird häufig so gedacht, Margaret Mead ist so ein Beispiel.

SB: Könnten Sie das etwas näher erläutern?

DB: In traditionsbewußten Gesellschaften ist es doch so: Es gibt eine bestimmte Tradition, vielleicht eine Religion, und dann wird gesagt, daß die Gesellschaft sich auf der Bibel oder dem Koran oder was auch immer gegründet hätte. Alles, was dann getan wird, wird mit diesem Text oder dem, was auch immer die Grundlage der Gesellschaft sein mag, gerechtfertigt. Wenn die Menschen das dann glauben, dann deshalb, weil der Text viele tausend oder eben hunderte Jahre alt ist. Das bedeutet, daß die Tradition auf der langen Zeit beispielsweise der Bibel beruht. Aber wir wissen, daß das so nicht wirklich funktioniert. Damit es funktioniert, müssen in einer sich wandelnden Zeit kleine Anpassungen an den Traditionen vorgenommen werden. So gibt es beispielsweise Veränderungen wegen der Elektrizität bzw. der unterschiedlichen Brennstoffquellen.

Aber es ist sehr schwer für eine Gemeinschaft, solche Veränderungen zuzulassen und zu beschließen, in welcher Weise sie erfolgen sollen. Was die Traditionen betrifft, besteht eine der wichtigsten Aufgaben für die Anführer einer erfolgreichen Gemeinschaft darin, daß sie wissen (müssen), wie man kleine Veränderungen vornimmt, ohne die Struktur der Gemeinschaft zu gefährden. Das ist sehr, sehr wichtig. Darüber denken wir gar nicht nach, denn in unseren Gesellschaften wird es zumeist nicht einmal als wertvoll angesehen, Traditionen zu respektieren. Bei uns wird erwartet, daß Innovationen respektiert werden und Einrichtungen wandlungsfähig genug sind, um mit der Zeit zu gehen.

In den Gemeinschaften aber wird uns beigebracht zu unterscheiden, was beibehalten und was verändert werden sollte. Es gibt ein französisches Sprichwort, das mir manchmal hilft, dies meinen Studenten zu erklären: "Le plus ça change, le plus c'est le même chose" (Je mehr sich etwas ändert, umso mehr bleibt es dasselbe). Das ist wirklich eine sehr interessante Redensart. Aber diese Frau, die damit begonnen hat, Schweinefleisch mit geringem Fettgehalt herzustellen, ist meiner Meinung nach ein perfektes Beispiel dafür. Sie hat die Traditionen ihrer Gemeinschaft sehr, sehr tiefgehend respektiert, obwohl sie die Möglichkeiten, die ihr in der Gemeinschaft eröffnet wurden, nicht buchstabengetreu befolgt hat.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:


[1] Siehe auch den zweiteiligen Bericht zum Vortrag von Prof. Barkin zum Thema "Aufbau alternativer Gesellschaften in den amerikanischen Staaten" unter
www.schattenblick.de - INFOPOOL - BÜRGER/GESELLSCHAFT - REPORT:
BERICHT/045: Aufbruchtage - Vielfalt für die Menschen ... (1) (SB)
BERICHT/046: Aufbruchtage - Vielfalt für die Menschen ... (2) (SB)

[2] http://www.unrisd.org/80256B3C005BB128/(httpProjects)/E7F3F4A25DFB0AE980256B6100514A19?OpenDocument

[3] Wie die "Welt" am 1. Dezember 2014 unter Berufung auf Angaben der Münchner Rück berichtete, wird das Jahr 2014 aus Sicht der Versicherungen und ihrer Statistiken als ein in Hinsicht auf verheerende Stürme "sehr glimpfliches" Jahr bezeichnet. Als eine der wenigen Ausnahmen wurde der Hurrikan "Odile" erwähnt, der vom 11. bis 17. September 2014 auf die Halbinsel Baja California in Mexiko traf. 6 Menschen kamen ums Leben, die Gesamtschäden beliefen sich den Angaben zufolge auf 2,5 Mrd. Dollar.
http://www.welt.de/wirtschaft/article134874980/El-Nino-droht-2015-zu-einem-Sturm-Jahr-zu-machen.html


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de ? INFOPOOL ? BÜRGER/GESELLSCHAFT ? REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)
BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)
BERICHT/032: Aufbruchtage - Quadratur des Kreises und wie es doch zu schaffen ist ... (SB)
BERICHT/033: Aufbruchtage - Mensch- und umweltfreundlicher Verkehr ... (SB)
BERICHT/034: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (1) (SB)
BERICHT/035: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (2) (SB)
BERICHT/036: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (3) (SB)
BERICHT/037: Aufbruchtage - die Weckruferin ... (SB)
BERICHT/038: Aufbruchtage - globalisierungs- und kapitalismusfreie Demokratie (SB)
BERICHT/039: Aufbruchtage - Gartenbrot und Schrebernot ... (SB)
BERICHT/040: Aufbruchtage - Sozioökologische Auswege ... (SB)
BERICHT/041: Aufbruchtage - mit dem Schnee schmilzt das Leben ... (SB)
BERICHT/042: Aufbruchtage - Klassenkampf und Umweltfront ... (SB)
BERICHT/043: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (1) (SB)
BERICHT/044: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (2) (SB)
BERICHT/045: Aufbruchtage - Vielfalt für die Menschen ... (1) (SB)
BERICHT/046: Aufbruchtage - Vielfalt für die Menschen ... (2) (SB)
BERICHT/047: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (3) (SB)
INTERVIEW/056: Aufbruchtage - Hoffen auf den Neubeginn ...    Tadzio Müller im Gespräch (SB)
INTERVIEW/057: Aufbruchtage - Zwei Seiten einer Medaille ...    Nicola Bullard im Gespräch (SB)
INTERVIEW/058: Aufbruchtage - Sozialökonomie ...    Éric Pineault im Gespräch (SB)
INTERVIEW/059: Aufbruchtage - Entfremdungsfreies Schaffen ...    Stefan Meretz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/060: Aufbruchtage - Neue Formen des Protestes ...    Bengi Akbulut im Gespräch (SB)
INTERVIEW/061: Aufbruchtage - Gemeinschaft wecken ... Barbara Muraca im Gespräch (SB)
INTERVIEW/062: Aufbruchtage - Beweglich, demokratisch und global ...    Maggie Klingler-Lauer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/063: Aufbruchtage - Mut zum großen Wandel ... Hans Thie im Gespräch (SB)
INTERVIEW/064: Aufbruchtage - Marktplatz der Retter ... Clive Spash im Gespräch (SB)
INTERVIEW/065: Aufbruchtage - Pflanzen, Wohnen, Leben ... Gerda Münnich im Gespräch (SB)
INTERVIEW/066: Aufbruchtage - Avantgardebereinigt und zusammen ...    Ashish Kothari im Gespräch (SB)
INTERVIEW/067: Aufbruchtage - Planiertes Leben ...    Haris Konstantatos im Gespräch (SB)
INTERVIEW/068: Aufbruchtage - Druck von unten ... Federico Demaria im Gespräch (SB)
INTERVIEW/069: Aufbruchtage - palaverdemokratisch ... Christopher Laumanns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/070: Aufbruchtage - Eine Frage des Systems ... Steffen Lange im Gespräch (SB)

13. Februar 2015


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