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FLUCHT/036: Kessel Nahost - preisgegeben (SB)


Flüchtlingsproteste in Tunesien - 28. Juni 2013

Beginn der Abrißarbeiten im Lager Choucha - hunderte Kriegsflüchtlinge stehen in der Wüste


Ein Bagger reißt im Wüstenlager Toilettenhäuschen ein - Foto: 2013/06/28 by choucha protest solidarity - http://chouchaprotest.noblogs.org/

Der Anfang der endgültigen Schließung des Wüstenlagers Choucha - doch wo bleiben die Menschen?
Foto: 2013/06/28 by choucha protest solidarity - http://chouchaprotest.noblogs.org/

Wie heute zu erfahren war, hat das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) in dem nahe der libyschen Grenze in der tunesischen Wüste gelegenen Flüchtlingscamp Choucha mit Abrißarbeiten begonnen. Bekanntlich steht die endgültige Schließung des Lagers unmittelbar bevor, soll es doch nach den Planungen und längst auch Handlungen der Verantwortlichen zum 1. Juli seine Pforten dichtmachen. Dies wäre der Proteste kaum wert, da kein Mensch in einer so weit abgelegenen Unterkunft länger als unbedingt nötig verweilen wollen würde, wären da nicht hunderte Menschen, die buchstäblich vor dem Nichts stehen und nach Lage der Dinge gezwungen werden, auf Tunesiens Straßen oder wo auch immer in der Illegalität zu leben.

Auf einem von Unterstützern dieser Menschen betriebenen Blog [1] wurde darüber informiert, daß das UNHCR damit begonnen habe, die Toiletten des Camps zu zerstören, um auf diese Weise die dort verbliebenen Menschen zum Verlassen des Lagers zu zwingen. In einer Presseerklärung vom heutigen Tag nahm die Forschungsgesellschaft Flucht & Migration (FFM) zu den Ereignissen und der kurz bevorstehenden endgültigen Schließung Chouchas Stellung und rief die Medien dazu auf, die kommende Entwicklung genauestens zu beobachten und kritisch darüber zu berichten. [2] Aufgrund der Umstände steht zu befürchten, daß es in den kommenden Tagen und Stunden zu sehr ernsten und womöglich sogar gewaltsamen Übergriffen auf die wehrlosen Kriegsflüchtlinge, die sich weigern, das Camp zu verlassen, kommen könnte.

Wie die FFM in ihrer Presseerklärung ausführte, ist ein Großteil der einst über 20.000 Kriegsflüchtlinge inzwischen - mehr oder minder freiwillig - in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, ein deutlich kleinerer Teil wurde in dem sogenannten Resettlement in als sicher geltende Drittstaaten umgesiedelt. Etwa 500 Menschen jedoch werden nun buchstäblich in der Wüste zurückgelassen. Geflohene, die als Flüchtlinge anerkannt, aber aus verschiedenen Gründen nicht in das Resettlement-Programm aufgenommen wurden, bleiben ohne jede Unterstützung und Versorgung ihrer Grundbedürfnisse zurück. Sie sollen sich in Tunesien "lokal integrieren". Ihnen ergeht es nicht besser als all jenen seinerzeit vor dem Krieg in Libyen geflohenen Menschen, denen bereits die Anerkennung des Flüchtlingsstatus verweigert wurde. Ihnen allen steht in Tunesien ein Leben in der Illegalität bevor. Ihre Zukunftsperspektiven, die längst keine mehr sind, werden von der FFM folgendermaßen beschrieben: [2]

Jedoch bietet Tunesien weder eine ausgearbeitete Asylgesetzgebung, die den Flüchtlingen einen Aufenthaltsstatus und damit den Schutz ihrer Rechte zusichern würde, noch ist die Gesellschaft schwarzen Menschen gegenüber offen. Die Flüchtlinge berichten von unzähligen rassistischen Anfeindungen und Übergriffen. Ihre Lebensrealität in tunesischen Städten wäre von Isolation, Ausgrenzung und einem rechtlichen unsicheren Status geprägt. Außerdem ist die politische Lage in Tunesien seit der Revolution sehr instabil und die Arbeitslosigkeit immens.

In den kommenden Tagen steht jedoch nicht unbedingt eine Konfrontation dieser Menschen, ob sie nun den Status anerkannter Flüchtlinge haben oder nicht, mit der einheimischen Bevölkerung bevor, haben doch die Campbewohner und -bewohnerinnen beschlossen, entgegen der Entscheidung des UNHCR und ungeachtet der schon seit längerem eingestellten und reduzierten Versorgung in dem Lager zu bleiben. Auf diese Weise wollen sie gegen die ihnen zugedachte Illegalisierung wie auch die soziale Isolierung innerhalb der tunesischen Gesellschaft protestieren. Zur Stunde ist völlig ungewiß, wie das UNHCR und nicht zuletzt auch das tunesische Militär, dem das Grundstück, auf dem das Lager errichtet wurde, gehört, auf die Weigerung der Geflohenen, das Camp zu verlassen, reagieren werden. Da es schon in der Vergangenheit zu rassistischen Anfeindungen und Übergriffen Einheimischer gegen Campbewohner gekommen ist, könnten diese, sollte die Situation eskalieren, gleichwohl auch von dieser Seite mit Ungemach zu rechnen haben.

Das Vorgehen des UNHCR und der Regierungen der EU-Staaten gegenüber den Geflüchteten im Lager Choucha wird von zahlreichen migrationspolitischen Netzwerken und Unterstützungsorganisationen als skandalös bezeichnet. "Statt Flüchtlingsschutz zuverlässig zu praktizieren, werden ganze Gruppen von Flüchtlingen in die Illegalität oder zur Weiterflucht gezwungen", erklärte Conni Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg und schloß in ihre Kritik die Europäische Union ausdrücklich ein: "Die EU lagert mit Unterstützung des UNHCR den Flüchtlingsschutz in Länder an den Rändern Europas aus, hindert durch ihre Grenzschutzagentur Frontex und Abkommen mit Drittstaaten Flüchtlinge am Zugang nach Europa und verwehrt den wenigen hier Angekommenen grundlegende Rechte." [2]

Bislang sind die vielfältigen, von den Geflohenen wie auch den mit ihnen solidarischen Menschen in vielen Ländern der Region, aber auch Europas, erhobenen Forderungen und Appelle, diesen akut gefährdeten Menschen eine sichere Aufnahme zu ermöglichen, ohne Ergebnis geblieben. Müssen erst Tote zu beklagen sein, bevor das UNHCR und die an dieser Politik beteiligten westlichen Staaten ihre Haltung überdenken?



Fußnoten:

[1] http://chouchaprotest.noblogs.org/post/2013/06/28/dismantling-of-the-camp/

[2] http://ffm-online.org/2013/06/28/tunesien-schliesung-lager-choucha-presseerklarung-dt/


28. Juni 2013