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G20-Proteste: Gewalt im Schanzenviertel wurde systematisch aufgebauscht

Von Sven Heymanns
20. Juli 2017


In der Folge des G20-Gipfels in Hamburg fand eine beispiellose Kampagne gegen eine "neue Qualität linksextremer Gewalt" statt. Der SPD Kanzlerkandidat Martin Schulz sprach von "Mordversuchen" in Hamburg, Vizekanzler Sigmar Gabriel bezeichnete die Randalierer gar als "Terroristen". Anderthalb Wochen nach den Ereignissen wird klar, dass Polizei, Politik und Medien die Ereignisse systematisch übertrieben und viele Vorfälle frei erfunden haben.

Die Fakten gelangen nur tröpfchenweise an die Öffentlichkeit. Doch sie ergeben mittlerweile das klare Bild, dass es in Hamburg zwar zu Sachbeschädigungen und einigen Plünderungen gekommen war, diese aber nicht wesentlich über ähnliche Ereignisse etwa um den ersten Mai herum hinausgingen. Insbesondere war es offenbar nicht zu schwerster Gewalt gegen Menschen gekommen, wie vielfach behauptet wurde.

Zentraler Ausgangspunkt für die Behauptung einer neuen Qualität der Gewalt waren die Vorgänge im Schanzenviertel am Abend des 7. Juli. Die Polizei behauptete, es sei ihr über Stunden nicht möglich gewesen, mit Einsatzkräften in das Viertel vorzudringen, weil dort für die Beamten Lebensgefahr bestanden habe. Begründet wurde die Gefahr damit, dass sich autonome Gewalttäter auf den Dächern verschanzt hätten und die Beamten von dort aus mit Gehwegplatten und Molotow-Cocktails bewerfen könnten.

Für all diese Schauergeschichten existiert bisher kein einziger faktischer Beleg. Gegenüber der Presse hatte der Einsatzleiter der Polizei, Hartmut Dudde, nur ein verpixeltes Video aus einer Wärmebildkamera vorgestellt, das kurz vor Mitternacht von einem Polizeihubschrauber aus aufgezeichnet wurde. Es soll einen Menschen auf einem Hausdach zeigen, der einen leuchtenden Gegenstand hinunter auf die Straße wirft. Dort passiert weiter nichts.

Nach Darstellung Duddes habe es sich bei dem Gegenstand um einen Molotow-Cocktail gehandelt, der aber beim Aufprall nicht explodiert sei. Wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, kann sich ein Gruppenführer, der zur selben Zeit unten auf der Straße stand, allerdings nicht an einen fehlgegangenen Molotow-Cocktail erinnern. Den Aufzeichnungen der Kamera ist auch keineswegs zu entnehmen, warum es sich nicht etwa um ein Bengalisches Feuer oder einen Feuerwerkskörper gehandelt haben könnte. Außerdem wurde die Aufnahme in einer Zeit gemacht, als die Polizei längst dabei war, den vermeintlich unbetretbaren Stadtteil zu stürmen.

Beweise über Gehwegplatten und Molotow-Cocktails, die eigens von den vermeintlichen Randalierern auf die Dächer geschleppt worden sein sollen, existieren trotz flächendeckender Überwachung und Polizeipräsenz bis heute nicht. Dabei habe es, wie die Süddeutsche weiter schreibt, seitens der Polizei die klare Anweisung gegeben, solche Beweismittel sicherzustellen. Doch bisher existiere weder ein Bericht über diese vermeintlichen Tatwaffen, noch gebe es Fotos davon, schreibt die Zeitung. Wie der NDR unter Berufung auf Anwohner berichtet, seien auf den Dächern vor allem Schaulustige unterwegs gewesen, die das Treiben auf den Straßen beobachtet hätten.

Schon in der letzten Woche veröffentlichten 15 Inhaber von Geschäften im betroffenen Viertel einen Text, in dem sie die Darstellung der Polizei scharf zurückwiesen. "Es waren betrunkene junge Männer, die wir auf dem Baugerüst sahen, die mit Flaschen warfen - hierbei von einem geplanten 'Hinterhalt' und Bedrohung für Leib und Leben der Beamten zu sprechen, ist für uns nicht nachvollziehbar", heißt es darin. "Wir hatten als Anwohner mehr Angst vor den mit Maschinengewehren auf unsere Nachbarn zielenden bewaffneten Spezialeinheiten als vor den alkoholisierten Halbstarken, die sich gestern hier ausgetobt haben."

Inzwischen heißt es in mehreren Berichten, die sich auf die Hamburger Polizei berufen, die Autonomen hätten eine "effektive Gegenaufklärung" betrieben und daher die entscheidenden Beweismittel beseitigt. Man stelle sich eine solche Situation in all ihrer Absurdität einmal konkret vor: da stürmt ein Spezialeinsatzkommando, martialisch ausgerüstet mit schweren Schusswaffen, ins Haus - und die Randalierer auf dem Dach haben erst einmal nichts besseres zu tun, als zentnerweise Gehwegplatten beiseite zu schaffen, so gut versteckt, dass sie bis heute niemand finden konnte.

Dieser absurden Vorstellung widerspricht auch, was SEK-Kommandoführer Sven Mewes in einem Interview mit Spiegel Onlineerklärte. Darin sagte Mewes, es seien bei der Erstürmung der Häuser insgesamt dreizehn Personen festgenommen worden: "Es hat überhaupt keine Gegenwehr gegeben." Danach habe im Viertel Ruhe geherrscht, es seien keine Randalierer oder Steinewerfer mehr festzustellen gewesen.

Schon diese Aussage widerlegte die Darstellung der Polizei, dass das Viertel über Stunden nicht unter Kontrolle zu bringen gewesen sei. Gar nicht zu sprechen von der Behauptung des Hamburger Innensenators Andy Grote (SPD), es habe sich bei den Gestalten auf den Dächern um einen "bewaffneten Hinterhalt" gehandelt.

Inzwischen sind die dreizehn Inhaftierten alle wieder auf freiem Fuß. Die Polizei hat gegen keinen der Festgenommenen einen Haftbefehl beantragt. Wie ein Gerichtssprecher gegenüber dem Hamburger Abendblatt erklärte, habe die Polizei keinem der Betroffenen eine Straftat zuordnen können und sie deshalb nur präventiv in der Gefangenensammelstelle "Neuland" festgehalten.

Auch die angeblich horrende Zahl an verletzten Polizeibeamten hat sich inzwischen größtenteils in Luft aufgelöst. Noch kurz nach dem G20-Gipfel war von 476 verletzten Polizisten die Rede gewesen. Inzwischen ist klar, dass die Zahl maßlos aufgebauscht wurde, um die Mär von der linksextremen Gewalt zu befeuern.

Wie der Hamburger Polizeisprecher Holger Vehren nun mitgeteilt hat, bezieht sich diese Zahl auf den gesamten Einsatzzeitraum, der vom 22. Juni bis zum 10. Juli reichte - also über fast drei Wochen. In der konkreten Einsatzphase um den Gipfel herum, vom 6. bis zum 9. Juli, seien nur 231 Beamte als verletzt gemeldet worden, teilte das bayerische Innenministerium mit.

Dem Hamburger Polizeisprecher zufolge enthält die Zahl der "Verletzten" allerdings sämtliche Ausfälle während der Dienstzeit. Dazu zählen insbesondere auch Ausfälle, die nicht auf Gewalteinwirkung zurückgehen, darunter Dehydration, Kreislaufprobleme und Ausfälle wegen der sommerlichen Temperaturen. Nach Angaben von Spiegel Online wurden nur zwei Polizisten als schwer verletzt gemeldet. Lediglich 21 Polizisten waren auch am Tag nach ihrer Krankmeldung nicht vollständig dienstfähig.

Das Bild von der linksextremen Gewalt, die angeblich über besonnene und arglose Polizisten hereingebrochen sei, wird endgültig zur Farce, wenn man sich die Lage der verletzten Zivilisten ansieht. Wie die taz unter Berufung auf Angaben der Hamburger Krankenhäuser berichtet, wurden insgesamt 189 Menschen mit "demonstrationstypischen Verletzungen" stationär behandelt, d.h. sie mussten auch nach der medizinischen Erstversorgung zur weiteren Behandlung im Krankenhaus bleiben. Unter solchen Verletzungen versteht man etwa Knochenbrüche, Prellungen, Platzwunden oder Schnitte. Die taz zitiert einen Sprecher der Asklepios-Kliniken, der in Bezug auf die vorliegenden Knochenbrüche erklärt, es sei "alles dabei gewesen, was man sich so brechen kann - Knie, Schulter, Beckenring, Rippen, Handgelenke."

Wie viele Menschen insgesamt durch die Polizei verletzt wurden, wird wahrscheinlich nie festgestellt werden können. Auf den Demonstrationen wurden viele von ihnen schon vor Ort durch anwesende Sanitäter versorgt, andere haben Krankenhäuser und Ärzte außerhalb Hamburgs aufgesucht. Doch schon die Zahl aus den Hamburger Krankenhäusern lässt darauf schließen, dass die Zahl jene der tatsächlich verletzten Polizisten um ein Vielfaches übersteigt.

Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass immer mehr Strafanzeigen gegen Polizeibeamte gestellt werden. Wie die Welt am vergangenen Freitag berichtete, laufen insgesamt 35 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten, 27 davon wegen Körperverletzung im Amt. Insgesamt seien 44 Strafanzeigen eingegangen, bei denen aber teils noch geprüft werden müsse, ob mehrere Anzeigen den gleichen Sachverhalt betreffen, erklärte die zuständige Hamburger Oberstaatsanwältin Nana Frombach.

All die Fakten, die jetzt bekannt sind verdeutlichen, dass Politik und Medien eine systematische Kampagne losgetreten haben, die auf Lügen und Übertreibungen basierte. Auf diese Weise sollte die brutale Polizeigewalt gegen die G20-Proteste gerechtfertigt werden. Vor allem aber soll das politische Klima wenige Wochen vor Beginn des Bundestagswahlkampfs weit nach rechts verschoben und die Debatte um die Notwendigkeit der inneren Aufrüstung zum zentralen politischen Thema hochstilisiert werden.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 20.07.2017
G20-Proteste: Gewalt im Schanzenviertel wurde systematisch aufgebauscht
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2017

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