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LÄNDERBERICHT/068: Bolivien-Deutschland - Arbeit mit Straßenkindern im Vergleich


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2008

Selbstbewusstsein und Fähigkeiten
Bolivien - Deutschland: Arbeit mit Straßenkindern im Vergleich

Von Peter Strack


Ein Dach über dem Kopf, etwas Warmes zu trinken, Jod und Pflaster für eine Schnittwunde ... Es sind meist konkrete Hilfeangebote, weswegen sich Kinder und Jugendliche von der Straße an Sozialarbeiter oder Anlaufstationen wenden. Diese Erfahrung haben Projekte in Bolivien und Deutschland gemeinsam. Viele Initiativen für Straßenkinder beschränken sich allerdings auch auf solche Angebote. Den Kindern hilft das jedoch häufig nur für einen kurzen Augenblick. Das Leben auf der Straße wird zwar erträglicher, Zukunftsperspektiven eröffnen sich dadurch jedoch noch lange nicht. Erfahrene Streetworker sind deshalb zurückhaltend mit konkreten Hilfen, wenn die Kinder sich nicht gleichzeitig entschlossen zeigen, die Straße zu verlassen. Manche Sozialarbeiter lehnen es ganz ab, zum Beispiel unter einer Brücke Tee auszuschenken oder für die kälteste Jahreszeit Obdach zu geben - obwohl auch sie wissen, dass diese Kinder wie alle anderen ein Recht auf Essen und ein Zuhause haben.

"Kein Essen, kein Obdach, aber Zuneigung, die geben wir", stand in dem schlichten Zimmer in einem Straßenkinderzirkus in Cochabamba auf die blanke Betonwand geschrieben. Das klingt nicht nur hart, das ist auch hart. In Bolivien ist angesichts knapper Mittel häufig die Beschränkung auf das Wesentliche nötig: das individuelle Eingehen auf ganz persönliche, tiefliegende Missbrauchs- oder Gewalterfahrungen. Die haben viele Kinder seelisch zerstört und letztlich auf die Straße getrieben. Gleichzeitig wird die Eigeninitiative der Kinder und Jugendlichen zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse gefördert, Fähigkeiten und Selbstbewusstsein werden so zum Teil der Therapie.


Kontinuität und Geborgenheit

Der Sozialpädagoge Jürgen Sand hat in einer Studie Projekte in Deutschland und Bolivien verglichen. Obwohl die Zahl der Straßenkinder in den 90er Jahren in Bolivien rapide angestiegen war, nahm die Zahl der Projekte nicht im gleichen Umfang zu, denn während sich Angebote in Deutschland vor allem aus staatlichen Zuschüssen finanzieren, hängen Initiativen in Bolivien weitgehend von internationalen Hilfsgeldern ab. Die Konkurrenz um diese Gelder, sagt Sand, mag auch dazu beitragen, dass die einzelnen Initiativen im Andenstaat weniger zusammenarbeiten als in Deutschland.

Während in Bolivien wegen knapper Etats und fehlender Fachkräfte zum Beispiel Motivationsgespräche, Sportaktivitäten oder Akrobatik als Schmalspurversionen des Drogenentzugs herhalten müssen, können deutsche Initiativen die Jugendlichen an Fachinstitutionen überweisen - auch wenn das hierzulande bei Minderjährigen nicht ganz einfach ist. Ein weitgefächertes Netz an Angeboten der Jugendhilfe, feste Arbeitszeiten der Mitarbeiter, staatliche Regelungen und Leistungen - all das hilft, professionelle Standards zu sichern. Das Gefühl von Geborgenheit jedoch, so stellte Jürgen Sand fest, stellt sich eher in den Projekten in Bolivien ein. Die Mitarbeiter begleiten die Kinder und Jugendlichen häufig über viele Jahre in Stufenprogrammen von der Straßensozialarbeit über Anlaufstellen, Wohnheime, betreute Wohngemeinschaften bis hin in die Selbstständigkeit.


Plädoyer für Erfahrungsaustausch

Wesentlich stärker als in deutschen Projekten wird in Bolivien auch die Selbstorganisation und politische Interessenvertretung unterstützt. Jürgen Sand spart nicht an Anerkennung für Projekte wie die der Fundación La Paz in Bolivien. Dort entscheiden Straßenkinder bei pädagogischen Fragen mit und sind sogar im Beirat der Stiftung vertreten. Umgekehrt wären in Bolivien die breite Angebotspalette und die Vernetzung untereinander wie auch mit staatlichen Einrichtungen, wie sie in Deutschland praktiziert wird, hilfreich. Der Soziologe plädiert deshalb dafür, Konzepte zu entwickeln, die sich an den Stärken und Fähigkeiten der Jugendlichen und ihrer Lebenswelt orientierten. Diese könnten den Bedürfnissen der Kinder, die auf der Straße leben, besser gerecht werden. Hierbei sollten Ideen und Methoden von Projekten aus beiden Nationen genutzt werden.


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2008, S. 5
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2008