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AUTOREN/059: Nichts mehr wird kommen - Ingeborg Bachmann zum 90. Geburtstag (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016

Nichts mehr wird kommen
Ingeborg Bachmann zum 90. Geburtstag

von Hanjo Kesting


Die Nachricht vom Tod Ingeborg Bachmann am 17. Oktober 1973 ist dem Autor dieser Erinnerung bis heute unvergesslich: Drei Wochen nachdem sie sich, ausgelöst durch eine brennende Zigarette, in ihrer römischen Wohnung Via Giulia 66 schreckliche Verbrennungen zugezogen hatte, starb die größte Lyrikerin ihrer Generation einen qualvollen Tod in einem römischen Krankenhaus. Seit ihrem ersten Auftreten hatte es keinen Zweifel an ihrem poetischen Rang gegeben, ja Ingeborg Bachmann wurde zum Inbegriff der Dichterin in einer Weise, wie man es nach der nur wenige Jahre zurückliegenden historischen Katastrophe, die auch ein kulturelles Debakel gewesen war, kaum noch für möglich gehalten hatte.

Sie war erst 26 Jahre alt, als sie in Niendorf an der Ostsee zum ersten Mal vor den Autoren der Gruppe 47 las. Es war ihr brillantes Debüt, nachdem sie zwei Jahre zuvor über die kritische Aufnahme der Heideggerschen Philosophie promoviert hatte. Bereits im nächsten Jahr erhielt sie den Preis der Gruppe 47 und wurde damit, noch bevor ihr erster Gedichtband erschienen war, schlagartig berühmt. Die gestundete Zeit erschien 1953 in der von Alfred Andersch herausgegebenen Reihe studio frankfurt. Der Erfolg des Bandes brachte Bachmann so viele Aufträge ein, insbesondere von Seiten der Rundfunkanstalten, dass sie ihre Anstellung als Redakteurin in Wien aufgeben und von da an frei arbeiten konnte. Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL widmete der jungen Österreicherin schon ein Jahr später eine Titelgeschichte - ein fast einmaliges Ereignis in der Pressegeschichte der Nachkriegszeit, in der zuvor nur der Schweizer Max Frisch in ähnlich auffälliger Weise präsentiert worden war.

Ingeborg Bachmann gehörte zu den Frauen, die durch einen schwer beschreibbaren Zauber aus der Nähe wie aus der Distanz die Herzen bewegen konnten, ein Zauber, der von ihrer Person, ihrer Stimme und ihren dichterischen Worten ausging und vielfältig belegt ist. Hans Werner Henze, der ihr zuerst im Herbst 1952 begegnete - später verfasste sie für ihn die Textbücher der Opern Der Prinz von Homburg und Der junge Lord -, schrieb unter dem Eindruck dieser Begegnung: "Eine elfenhafte Erscheinung mit schönen großen Augen und zitternden Lidern, wunderbaren Händen, eine Person, von der eine Aura von Empfindsamkeit ausging, eine Verkörperung von Qualität, ein Mensch mit Grazie und Charme. Wie von der Nachtigall geboren."

Ihren legendären Auftritt in Niendorf hat Hans Werner Richter, der Leiter der Gruppe 47, festgehalten: "Sie hatte Angst vor ihrer ersten Lesung in diesem Kreis, mehr Angst, als ich vermuten konnte, aber sie sprach nicht davon, erst, als alles vorüber war, erzählte sie es mir. Ihre Ohnmacht gleich nach der Lesung war nicht gespielt. Die innere Erregung war übermäßig geworden und hatte sie in die Ohnmacht getrieben. Sie las ihre Gedichte zum Schluss nicht mehr selbst, sie konnte es nicht, ihre Stimme wurde von Gedicht zu Gedicht immer leiser und versagte schließlich ganz." Der Vorgang wiederholte sich ein Jahr später in Mainz, wie der damals ganz junge Peter Hamm überliefert hat: "Von ihrer Lesung (...) habe ich nicht viel mehr behalten als ihren sound, ihren Ton, diese fast flüsternde Stimme, die dennoch überall durchdrang, diese Stimme am seidenen Faden, der jeden Moment zu reißen drohte (...). Auch wenn es offensichtlich war, dass sie, die doch gerade erst ein ziemlich schmales Bändchen Gedichte publiziert hatte, hier bereits hofhielt, um Huldigungen entgegenzunehmen, wirkte sie verschüchtert bis zur Verwirrtheit. Aber - und das war das Merkwürdige - diese Schüchternheit wirkte ihrerseits wieder entsetzlich einschüchternd. Jedenfalls auf mich."

War es eine Selbstinszenierung, wie einige argwöhnten? Noch viele Jahre später spottete Walter Kempowski: "Die Bachmann hatte ja auch diesen Frauentick, sich so zu stellen, als sei sie eben vom Himmel gefallen." Es existieren keine Mitschnitte der Niendorfer und Mainzer Tagungen, aber man kann die zitierten Schilderungen gut anhand von Bachmanns frühen Rundfunkaufnahmen nachprüfen. Sie entstanden im Mai 1952, auf der Rückfahrt von Niendorf, beim damaligen NWDR in Hamburg, wo sie auf Einladung von Ernst Schnabel einige ihrer Gedichte auf Band sprach, mit ihrer zarten, klaren, mädchenhaften und doch festen Stimme, in ihrem ganz eigenen, unverwechselbaren Ton. Etwas später las sie auch noch eine autobiografische Skizze, in der sie sich als poetische Vagantin beschrieb, getrieben vom Fernweh nach einem romantischen Italien und gefesselt mit Heimweh an ein imaginäres Österreich.

Von Anfang an umgab sie eine Aura von Auserwähltheit, eben die Aura der "Dichterin". Ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan, das 1958 zum ersten Mal gesendet wurde, zählte schon bald zu den klassischen Arbeiten des Genres. Ein Werk zaubervoller Wortmusik, denn auch in diesem Radiostück war Ingeborg Bachmann vor allem Lyrikerin. In ihren Gedichten und Hörspielen begegnete man einer hochgespannten Subjektivität und strengen Unerbittlichkeit, im Sinne einer ständigen Selbstüberschreitung, die sie, als sie 1959 den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt, mit den seither viel zitierten Sätzen ausdrückte: "Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe."

Bachmann und Celan

In Ingeborg Bachmanns Gedichten offenbarten sich gewaltige Bekundungen von Liebe, Bedrohtsein und Angst, denen sie durchweg in der lyrischen Form ein festes Fundament zu geben suchte, selbst da, wo sie mit freien Versen arbeitete. Ihre Formkraft war das eigentliche Ereignis, das einen Kritiker nach dem Erscheinen des ersten Gedichtbandes zu der Feststellung hinriss, dass Jahr 1953 habe gute Aussichten, in die Annalen der deutschen Literaturgeschichte einzugehen.

Heute, 43 Jahre nach ihrem Tod, wissen wir, dass das meteorgleiche Erscheinen Ingeborg Bachmanns eine Vorgeschichte hatte, wie sie gerade erst in der Biografie des amerikanischen Germanisten Joseph McVeighs akribisch dargestellt worden ist: Ingeborg Bachmanns Wien 1946-1953. Dort, in Wien, wurde die im Juni 1926 in Klagenfurt geborene Provinzlerin die Geliebte des Großfeuilletonisten Hans Weigel (der ihr Verhältnis in seinem 1951 erschienenen Roman Unvollendete Symphonie beschrieben hat), und dort lernte sie im Mai 1948 auch den Dichter Paul Celan kennen, den man den großen Gegenstern am lyrischen Himmel der Nachkriegszeit nennen könnte, wenn man es nicht vorzieht, aufgrund der langen, durch alle Höhen und Tiefen führenden Liebesbeziehung zwischen Bachmann und Celan von lyrischen Dioskuren zu sprechen. Diese Beziehung blieb lange Zeit und auch noch über den Tod beider Autoren hinaus im Verborgenen oder verharrte in der Sphäre des ungesicherten Gerüchts. Erst mit einem halben Jahrhundert Verspätung erhielt die literarische Öffentlichkeit Kenntnis von diesem in jeder Hinsicht außerordentlichen und exzessiven Liebesverhältnis, das seit 2008 durch die Publikation des Briefwechsels dokumentiert ist. Aber erst unlängst wurden zwei weitere Briefe aufgefundenen, die keinen Zweifel daran lassen, wieviel Bachmann und Celan auch als Lyriker einander verdankten. Und sie machen zugleich deutlich, dass Ingeborg Bachmann als die Jüngere in diesem Verhältnis nicht nur die Nehmende war. So liefert das lyrische Werk beider zusammen mit den biografischen Dokumenten ein ergiebiges Material für die Untersuchung der niemals ganz zu beantwortenden Frage, wie Lebensstoff und dichterische Imagination miteinander zusammenhängen und verschmelzen.

Das Verstummen der Lyrikerin

Auffällig ist, dass Bachmanns lyrische Produktion mit dem Ende ihrer Beziehung zu Celan allmählich zu versiegen begann. Seit ihrem verhängnisvoll schwierigen Zusammenleben mit Max Frisch 1959 überließ sie sich zunehmend der Prosa, auf immer dunkleren und rätselvolleren Wegen, die zum Schluss zu einem ausufernden Werk führten, das den Titel Todesarten tragen sollte. Auch die Ouvertüre dieses Fragment gebliebenen Zyklus', der noch zu Lebzeiten veröffentlichte Roman Malina, enthält viele Nachklänge ihres lyrischen Werks, viele Verse, die hier aber seltsam spröde, seltsam tonlos bleiben. In unterschiedlicher Weise scheinen sie alle auf das Verstummen zuzulaufen, so wie auch ihre letzten Gedichte, wenngleich in einer sehr bewussten und lyrisch gehobenen Form, ein solches Verstummen für unausweichlich erklären. "Aufhören ist eine Stärke, nicht eine Schwäche", sagte Ingeborg Bachmann in einem späten Interview. Ihre letzten Gedichte, geschrieben, als sie noch nicht 40 war, gehören zu den großartigsten, die sie hinterlassen hat: Keine Delikatessen, Prag Jänner 64, Böhmen liegt am Meer und Enigma. Merkwürdig, dass diese Gedichte ausgerechnet im Kursbuch 15 erschienen, worin Hans Magnus Enzensberger und Walter Boehlich der "bürgerlichen Literatur" die Totenglocke läuteten. Ich las die Zeitschrift damals, im November 1968, staunend über diesen öffentlichen Schauprozess, noch mehr über die Gedichte, von denen eines Hans Werner Henze gewidmet war, mit dem Zusatz "aus der Zeit der Ariosi". Gemeint war die Zeit, als sie zusammen mit Henze in Italien lebte (auf Ischia und in Neapel), erfüllt vom Schönheitsdurst der frühen Jahre. Damals komponierte Henze nach Gedichten von Bachmann die Nachtstücke und Arien, seine definitive Abkehr von der seriellen Kompositionsweise und seine größte Annäherung an eine spätromantische Ausdruckskunst, die zuweilen an Wagners Tristan denken lässt. Vielleicht gab es in Henzes Leben und auch in ihrem, Ingeborg Bachmanns Leben, keinen glücklicheren Augenblick als die Zeit der Ariosi - die Widmung scheint es anzudeuten. Enigma ist, soweit ich sehe, Ingeborg Bachmanns letztes Gedicht.

Nichts mehr wird kommen.

Frühling wird nicht mehr werden.
Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.

Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen
wie "sommerlich" hat -

es wird nichts mehr kommen.

Du sollst ja nicht weinen,
sagt eine Musik.

Sonst
sagt
niemand
etwas.


Joseph McVeigh: Ingeborg Bachmanns Wien 1946-1953. Insel, Berlin 2016, 314 S., 24,95 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein, Göttingen, seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016, S. 62 - 65
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2016

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