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REZENSION/008: Helmut Barthel - Zauber kalt, Ein Märchen für Erwachsene, Teil 1, Bari in Inari (Roman) (SB)


Helmut Barthel

Zauber kalt
Ein Märchen für Erwachsene
Teil 1 - Bari in Inari


Kein neuer Castaneda

Es gibt (zugegeben selten) Bücher, die sich bei wiederholtem Lesen immer wieder neu entblättern, Einzelheiten, Sichtweisen oder Zusammenhänge erschließen, die man zuvor nicht bemerkt hat, oder die vielleicht auch nicht da waren.

Das Romandebüt von Helmut Barthel Zauber kalt, dessen erster Band einer Trilogie Ende 2015 im MA-Verlag erschien, ist so ein Buch. Vielleicht liegt es an der Dichte der Sprache und der zunehmenden Verwobenheit der Ereignisse, von denen es handelt, sicherlich und nicht zuletzt aber auch am Gegenstand des Werkes, der so aufregend wie schwer einfach konsumierbar ist.

Erzählt wird die Reise des Ich-Erzählers mit einer Freundin in den Norden Lapplands zu Beginn des Winters, die, fernab jeden touristischen Interesses, eher den Charakter einer zwar geplanten, letztlich aber doch kurzentschlossenen Forschungsexpedition hat.

Mich trieb eine sprichwörtliche dunkle Ahnung, mit meiner Ausschau und Suche nach verlorenem Menschheitswissen und Spuren nie kultivierter und zivilisierter Fertigkeiten und Kenntnisse ausgerechnet im Herrschaftsgebiet der Polarnacht, des Nordlichts und des denkbar erdnächsten Sternenhimmels, den ich je gesehen hatte, zu beginnen. [S. 35]

Ein Märchen für Erwachsene nennt der Autor seinen Bericht, was sowohl die Deutung einer auf Tatsachen oder zumindest Erfahrungen basierten Erzählung zuläßt, folgt man der ursprünglichen Verwendung des Wortes 'Mär', als auch, eher dem heutigen Gebrauch angepaßt, die von eher fabulierten und erfundenen Inhalten. Allerdings trägt der Roman so starke autobiographische Züge, daß man geneigt ist, das Geschriebene für mehr als bloße Phantasie zu halten. Andererseits schildert er so unglaubliche Erfahrungen, daß der Leser diesbezüglich am Ende im Ungewissen bleibt.

Im anbrechenden Winter 1975 machen sich der Erzähler und seine Freundin Kirsten, dem Vorweihnachtstrubel Hamburgs entfliehend, auf den Weg, um die kalte dunkle Zeit in einer Hütte am Inari-See in der Einsamkeit nordischer Wälder zu verbringen.

Aber so beginnt das Buch nicht, sondern mit einer ersten seltsamen Begegnung um ein Feuer, das sich auf einer kleinen Insel in der Feuchtigkeit des Unterholzes bei Nebel und Nieselregen wie von Zauberhand entfacht.

Am Rande des heller werdenden Feuers stand ein Mensch, verhüllt in einem dichten Umhang und ausgesprochen klein, nicht mehr als etwa 1,50 Meter groß, jedoch zu stark gebaut und zu entschlossen in der Bewegung für ein Kind. Das alles zusammen und die einfache Tatsache, unvermittelt den beißenden Qualm nassen Brennholzes in der Nase zu haben, setzte mich außerstande, dem schnellen Geschehen in gewohnter Weise folgen zu können oder dem Schatten des Menschen am Rande des Feuers gar, der sich vor einem rechten Begreifen meiner Beobachtung und nicht zuletzt dann auch meinen suchenden Blicken entzogen hatte. Nur die ungeheuerliche Haarpracht, ähnlich einem überdimensionalen Afrolook, blieb an meiner Netzhaut haften. [S. 14]

Fulminante Zeitsprünge und rasante Ortswechsel durchziehen den gesamten Roman, wirken jedoch nie befremdlich oder konstruiert, sondern fügen sich zu einer zunehmend nachvollziehbaren Gleichzeitigkeit und einem Zusammenfall von Ereignissen - ein Aufbrechen von Zeit- und Räumlichkeiten, als sei die Omnipräsenz von Ereignissen der Wirklichkeit näher als die uns gewohnte und gezählte Ordnung zeitlicher Abfolge und räumlicher Trennung und Zuordnung. So hat man das vorher noch nicht gelesen.

Dazu bedient sich der Autor an einigen Stellen des Kunstgriffs der Wiederholung. Einem Déjà-vu ähnlich beschreibt er den Wechsel auf gleiche Weise erfahrener Übergänge in dennoch zusammenhängender Stringenz unterschiedlicher Gegenwärtigkeiten und verschafft dem Leser dadurch den Eindruck ungebrochener Ereignis- und Erlebnisketten. Nur dem Aufmerksamen entgeht nicht, daß kleinste Veränderungen der Textpassagen darauf hindeuten, daß sich nichts wiederholt. Dabei ist die Beschreibung dessen, wovon berichtet wird, äußerst präzise und bei allem Wortreichtum immer auf das Wesentliche konzentriert.

Anders als Carlos Castaneda, dessen Begegnungen mit seinem Lehrmeister Juan Matus in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Millionen von Suchenden faszinierte und der aus der esoterischen Szene jener Jahre nicht mehr wegzudenken ist, verzichtet Helmut Barthel auf jeden Entwurf einer neuen Kosmologie, die die Welt anders, aber eben auch erklärt. Zauber kalt ist kein Zauberbuch, an dessen Ende die Leser fasziniert den Gang der Macht oder etwas anderes einüben, sondern der Bericht von Begegnungen und Berührungen mit einer Welt, deren Unabweislichkeit sich dem Protagonisten wie dem Leser vermittelt, ja geradezu aufdrängt, in all ihrer Fremdheit, ohne sich zu entschlüsseln oder zu erklären.

Die ersten Erlebnisse einer verschobenen Wirklichkeit ereignen sich schon vor Antritt der Reise - ein merkwürdiger Gipsabdruck in einem Antiquariat, ein geheimnisvoller Tourist, den alle anders oder auch gar nicht wahrgenommen haben, die Konfrontation mit einem afrikanischen Stammeskrieger in einer Hamburger Wohngemeinschaft, die der Erzähler im Rückgriff präsentiert. Der Leser erfährt, daß sich der Protagonist schon länger mit außergewöhnlichen Phänomenen beschäftigt, daß er gewisse Kenntnisse und Fertigkeiten auf diesem Gebiet erlangt und sich einen entsprechenden Namen gemacht hat.

Natürlich war meine Beschäftigung von Jugend an mit exotischen Religionen und Kulturen, ihren Denkweisen und ihren Geheimnissen ebenso wie das Interesse an altem Wissen und Künsten für mich mehr als nur ein Steckenpferd. [...] Ein besonderer Reiz lag fraglos für mich in der Möglichkeit, auf einen schier unerschöpflichen Reichtum an verlorenen Konzepten, ungereiften Denkspielen und schwer zu enträtselnden Praktiken zurückgreifen zu können, besonders in meinem kritischen Bemühen, das Denken in den modernen Wissenschaften und Kulturen und die Standpunkte moderner Kosmologien auf diese Weise unter Spannung zu setzen und zu hinterfragen. [S. 49/50]

Mit Selbstironie und Sprachwitz schildert der Ich-Erzähler auch die Eitelkeiten und daraus erwachsenden sozialen Fallstricke, die aus den Reaktionen des Umfeldes auf solcherlei Fertigkeiten auf eben jenem Gebiet der Magie resultieren. Das trägt zur Authentizität des Geschrieben bei, ist aber immer wieder auch entspannend und äußerst unterhaltsam.

In Lappland angekommen, trifft die Wucht der Ereignisse die Reisenden schneller und unvermittelter als zunächst gedacht. Nachdem die Einwohner in der Bari im 30 km entfernten Inari, wohin montäglich die Einkaufs- und Posttour der Beiden geht, auf neugieriges wie plumpes Befragen jeden Bezug zum Schamanismus in dieser Gegend weit von sich weisen, lehrt die Tatsächlichkeit etwas anders.

Zunehmend werden die Tage am See bestimmt von den kürzer werdenden Hellphasen, die bald einem dauernden Dämmerlicht weichen, um die zum Überleben notwendigen Verrichtungen zu erledigen. Die Schilderungen einer durch Dunkelheit eingeschränkten Alltagsbewältigung werden durchbrochen, ja in wachsendem Maße durchwirkt von jenen Ereignissen, die Anlaß und Motiv des Aufbruches, aber weder vorhersehbar noch planbar gewesen waren. Wie der Erzähler aus eigenem Antrieb zwar, aber ohne eigenes Zutun und vor allem ohne Zugriff in Situationen gerät, die ihn in Zustände existentieller Not und nie gekannter Ängste versetzen, und dort gleichzeitig die größte Freiheit und Geborgenheit erfährt, das ist so dicht und kurzgetaktet geschildert, daß der Leser selbst unweigerlich in den Sog und Strudel der Ereignisse gerät.

Mit 150 Seiten ist der sehr dicht erzählte Roman ein eher schmales Bändchen, das man, bei anderer Schwerpunktsetzung, leicht auf das Vielfache hätte bringen können. Obwohl er sich mit bekannten Vertretern des magischen Realismus die Leidenschaft des Erzählens und die Beschäftigung mit existentiellen Fragen, mit der 'Welt hinter den Dingen' und einer 'Wirklichkeit hinter der Zeit' teilt, und sich wie die phantastische Literatur jeder Integration unerklärlicher Vorkommnisse in ein bestehendes Ordnungssystem verweigert, entzieht sich der Bericht, der stilistisch wie sprachlich in seiner Reichhaltigkeit und Innovation überzeugt, doch jeder Kategorisierung.

Mit Fortschreiten der Lektüre nehmen auch die ungewöhnlichen Ereignisse und Phänomene an Intensität und Häufigkeit zu, so daß Zauberisches wie Alltag gleichermaßen unheimlich und fremd werden, aber die Achtsamkeit wächst.

Sehr wohl hielten solche und ähnliche Erlebnisse, die in Folge besonderer Aufmerksamkeit und fremder Umgebung nur allzu natürlich erschienen, ein außergewöhnliches Maß an Wachheit und Intensität bei der Handhabung auch der geringsten Kleinigkeiten nahezu ununterbrochen aufrecht. Keineswegs jedoch waren diese Eindrücke und Erfahrungen auch nur oberflächlich zu verwechseln mit den Übergriffen und den Unabweisbarkeiten unerklärlichster und furchterregendster Ereignisse, die sich seit unserer Begegnung mit dem Ledergesicht, wie ich indessen den totgeschwiegenen Ortsschamanen in stummer Stimmigkeit nannte, in der Bari von Inari in immer kürzeren Abständen und immer heftiger in ihren Auswirkungen unseren Bemühungen, Normalität aufrechtzuerhalten, manchmal sogar schon fast vernichtend aufzwangen. [S. 103]

Als die beiden Reisenden nach Hamburg zurückkehren, ist, nach einem halbherzigen Versuch, zum Erfahrenen Abstand zu gewinnen und sich neu zu sortieren, klar, daß die Umgebung ihre einstige Vertrautheit verloren hat und wohl auch nicht mehr wiedergewinnen wird. Vielmehr erweist sich hier, daß Lappland und Hamburg, Vergangenheit und Zukunft, sogenanntes Magisches und scheinbar Tatsächliches unauflöslich miteinander verbunden sind.

[...] unbezweifelbar hat sich indessen der Faden meines persönlichen Schicksals mit der Linie jener Herkunft auf nicht mehr zu lösende Weise verbunden, deren Horizont und Gültigkeit viele Einwände zur Glaubhaftigkeit und zur Genauigkeit gegenstandslos werden lassen, weil sie sich als Mutter aller ungeschlagenen Schlachten von der Wirklichkeit ernährt. [S. 9]

Das Erscheinen von Zauber kalt, Band 2 und 3 ist noch für dieses Jahr 2016 geplant.

Helmut Barthel
Zauber kalt
Ein Märchen für Erwachsene
Teil 1 - Bari in Inari
MA-Verlag, Stelle Wittenwurth 2015
Softcover
173 Seiten
11,80 Euro
ISBN 978-3-925718-23-6

14. März 2016


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