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REZENSION/024: Maxim Biller - Sechs Koffer (SB)


Maxim Biller

Sechs Koffer

von Christiane Baumann


"Familienirrsinn" ohne Gewissheiten in Maxim Billers Roman Sechs Koffer

Sechs Koffer werden geöffnet in Maxim Billers neuem Roman, der, das sei vorausgeschickt, zu Recht auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018 gesetzt wurde. Die Koffer, die für sechs Romanfiguren und ihren Blick auf das Geschehen stehen, stecken de facto in einem siebten, dem des Erzählers, der die Fäden zusammenhält und in die Geschichte seiner russisch-jüdischen Familie eintaucht, um das Geheimnis, das sich um seinen Großvater Schmil Biller rankt, zu lüften. Schmil Biller wurde 1960 in der Sowjetunion wegen Schwarzmarktgeschäften und unerlaubten Devisenhandels hingerichtet. Der Erzähler kreist detektivisch um die Frage: Wer verriet Schmil Biller? Sechs Familienmitglieder geraten in den Focus: die Eltern des Erzählers Sjoma und Rada, zwei Brüder des Vaters, Dima und Lev, Dimas schöne Frau Natalja, die eigentlich Sjoma liebt, und dann ist da noch die Sicht der Schwester des Erzählers Jelena. Zum Vorschein kommen Lebensgeschichten, in denen nichts so ist, wie es scheint. Der permanente Blickwechsel des Erzählens stellt das Erinnerte immer wieder in Frage. Scheinbar des Verrats Überführte werden zu Verratenen. Der Erzähler verstrickt sich immer mehr in den "Familienirrsinn", einem Geflecht aus Verrat, Denunziation und Lüge. Die Familie wird zum Spiegel einer nicht durchschaubaren, unberechenbaren Welt ohne Gewissheiten.

Maxim Biller, 1960 in Prag geboren und 1970 mit seinen Eltern in die Bundesrepublik geflohen, ist immer wieder für einen Skandal gut. Ende der 1980er Jahre machte er mit seiner Kolumne Hundert Zeilen Hass auf sich aufmerksam, die man inzwischen auch in Buchform nachlesen kann. Sein 2003 erschienener Band Esra wurde verboten, da sich eine Ex-Partnerin porträtiert sah und erfolgreich vor Gericht zog. 2017 sorgte sein Ausstieg aus dem Literarischen Quartett für Aufsehen. Mit Biografie legte Biller 2016 einen fast 900 Seiten umfassenden Versuch einer Lebensbeschreibung vor, der von der Kritik als "Farce" (FAZ) bezeichnet wurde. Und nun, nicht nur der Name Schmil Biller deutet es an, ein autobiographischer Roman auf schlanken 200 Seiten?

Nein, natürlich nicht. So wie die Geschichte um den Großvater aus den jeweiligen Perspektiven immer wieder neu erfunden wird, erweist sich die durch Namen und Fakten Authentizität suggerierende Autobiographie als Fiktion. Im Text wird dazu explizit auf den "autobiographischen Roman" der Schwester, der Autorin Elena Lappin, verwiesen, die 2016 ihre Version der Familiengeschichte unter dem Titel In welcher Sprache träume ich? veröffentlichte. Auch das sei "kein journalistischer Tatsachenbericht", heißt es im Roman. Zu nennen wäre noch die Lebensgeschichte Melonenschale, die die Mutter Rada Biller 2003 publizierte. Werden intertextuell die verschiedenen Blickwinkel der Romanfiguren zum ständigen Korrektiv des Erzählens, so kommt diesen beiden autobiographischen Texten mit ihren ganz anderen Sichtweisen auf die Familie außertextuell diese Rolle zu. Billers Roman ist eine stilisierte Familiengeschichte des Autors, wenngleich dieser dem Erzähler sehr nah steht. Sie dient als Modell, um exemplarisch vorzuführen, wie durch den gewaltsamen Tod des Großvaters, durch den unaufgeklärten Verrat, eine Atmosphäre des Misstrauens entsteht und eine Familie systematisch zerstört.

Biller versteht es glänzend, den detektivischen Wissensdrang beim Leser bis zur letzten Seite wachzuhalten. Doch am Ende gibt es keine Wahrheit, denn es geht um etwas anderes. Billers poetisches Verfahren der ständigen Blickwechsel verhindert systematisch ein "Einfühlen" in die Romanfiguren. "Die" Wahrheit wird zu einem Mosaik aus sechs verschiedenen "Wahrheiten". Der Leser ist permanent gefordert, die Puzzleteile zusammenzudenken. Das erzeugt Distanz zu den Figuren und zum Geschehen, ein Verfahren, das an den Brecht'schen Verfremdungseffekt aus dem Epischen Theater erinnert. Auf Bertolt Brecht weist das Motto des Romans: "Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen". Es stammt aus Brechts im Sommer und Herbst 1940 im Exil verfassten Flüchtlingsgesprächen und deutet auf Identitätssuche und -verlust. Billers Erzähler, der als Jugendlicher über diesen als langweilig und "blöd" empfundenen Band einen Aufsatz schreiben soll, begreift erst durch seine Recherchen die Dimension des Brecht-Satzes: "In großen Zeiten stören Leute wie ich das harmonische Bild", wird er doch selbst zum familiären Störfaktor, den man sich lieber vom Leibe hält. Der Versuch, sich der eigenen Geschichte und damit seiner Identität zu versichern, scheitert ebenso, wie bei Brecht die Memoiren des Physikers Ziffel im Bruchstückhaften verbleiben. Die Biografie gibt es genauso wenig wie die Geschichtsschreibung, von der es bei Brecht heißt: "wir haben keine".[1]

Doch auch bei den Brecht-Zitaten im Roman ist Vorsicht geboten. Sie stammen nicht, wie der Erzähler suggeriert, allesamt aus den Flüchtlingsgesprächen. Zitiert wird unter anderem aus Brechts Journalen und aus den 1938 entstandenen Svendborger Gedichten, aus denen der Erzähler eine Zeile aus Verjagt mit gutem Grund erinnert: "So haben sie einen Verräter aufgezogen, ihn unterrichtet in ihren Künsten, und er verrät sie dem Feind". Das Exilgedicht, eine - wie Billers Roman - stilisierte Biographie, wenngleich in Versform, weist auf den neuralgischen Punkt des Romans: Verrat. Das war auch der Titel der 2009 von Biller herausgegebenen Brecht-Anthologie. Doch es gibt, wie Biller zitiert, "schlechten und es gibt guten Verrat". Brecht thematisierte in Verjagt mit gutem Grund den Bruch mit seiner bürgerlichen Herkunft und Weltanschauung. Das lyrische Ich findet zu seiner politischen Identität, indem es sich zur Sache der Ausgebeuteten, Entrechteten und Besitzlosen bekennt.

Dieser Identitätsfindung wird in Billers Roman die Geschichte einer jüdischen Intellektuellenfamilie entgegengestellt, die genau da einsetzt, wo Brechts Ziffel, der der Judenverfolgung im Nazideutschland entflohen ist, seine "Flüchtlingsgespräche" mit dem Arbeiter Kalle beginnt. Beide klopfen vor dem Hintergrund der in Europa tobenden "Kriegsfurie" [2] Begriffe wie Demokratie, Freiheit oder Patriotismus auf ihre Tragfähigkeit ab, hinterfragen Klischees und entlarven ideologisch geprägte Denkmuster. Ausgehend von Marx, werden in den Dialogen soziale Mechanismen zutage gefördert, die zu Faschismus und Krieg führten: "Die Barbarei kommt schon von der Barbarei, in dem der Krieg von der Wirtschaft kommt." [3] Doch was ist aus Kalles "Ziel"[4], dem Sozialismus, geworden?

Lakonisch erzählt Biller seine Flüchtlings-Geschichten, die vom Zweiten Weltkrieg über die sozialistische Ära bis in die Gegenwart reichen. Natalja überlebt den Wahnsinn in einem deutschen Konzentrationslager, um schließlich doch noch von den Nazi-Greueln eingeholt zu werden. Ihre Schreckensbilder des Holocaust sind in der tschechoslowakischen Filmbranche der Nachkriegszeit nicht gefragt. Die Brüder Wladimir und Lev müssen im Umfeld der berüchtigten Slansky-Prozesse der 1950er Jahre vor den stalinistischen Säuberungsaktionen fliehen. Dima wird als Republikflüchtling verhaftet und wandert dafür fünf Jahre in ein tschechoslowakisches Gefängnis. Sjoma und Rada verlassen die Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und flüchten in die Bundesrepublik. Alle diese Flüchtlingsschicksale verbindet der gewaltsame Tod des Großvaters in Moskau im Jahr 1960 und die Erfahrung einer Welt, "in der jemand wegen ein paar schwarz verdienter Dollars gehängt wurde". Billers Flüchtlinge unterwerfen sich nicht der politischen Doktrin. Sie finden im "Sozialismus durch Abschreckung", der sich gleichermaßen antijüdischer Ressentiments bedient, keine Heimat, aber auch nicht in ihren Exilländern England, Kanada oder Deutschland, wo der Erzähler sein "erstes echtes antisemitisches Erlebnis" in München im Jahr 1980 hat.

Billers Erzähler treibt es durch die Welt, wie den braven Soldaten Schwejk, an dessen Übersetzung sein Vater scheitert. Er stellt Fragen wie der Sohn Hurvinek seinem Vater Spejbl im berühmten tschechischen Marionetten-Duo. Hurvinek verkörpert ein Stück Heimat und Identität, kam dem Erzähler aber irgendwann auf seinen Fluchtwegen abhanden. So schlüpft er selbst in dessen Rolle und sein Erzählen wird zum Schreiben gegen die Angst, sein Leben "sei eine Geschichte, die Spejbl seinem Sohn Hurvinek zum Einschlafen vorlas, und dass Spejbl eines Tages das Buch mit (s)einer Geschichte zumachen und (s)ein Leben dadurch zu Ende gehen würde." Vorerst aber thront der allwissende Vater Spejbl mit seinem "runden tschechischen Gesicht" am Schreibtisch des Erzählers und ermuntert, weiter unerschrocken zu forschen.


Anmerkungen:

[1] Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche. Erweiterte Ausgabe, Berlin 5. Aufl. 2016, S. 105
[2] Ebd., S. 7
[3] Ebd., S. 53
[4] Ebd., S. 122


Maxim Biller
Sechs Koffer
Roman
Köln, Kiepenheuer & Witsch 2018
208 Seiten
19,00 Euro
ISBN: 978-3-462-05086-8

23. Oktober 2018


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